41 – Der Hirsch im Otterbau

Es war Mittwoch, der 10. Januar, kurz vor halb acht, und Roy ließ sich gerade sein Rührei schmecken, als ihn jemand heftig am Umhang zupfte. Hinter ihm stand Albus, totenbleich. Seine rechte Faust schien irgendeinen Gegenstand zu umklammern.

„Ich muss dich sofort sprechen, irgendwo, wo keiner zuhören kann!“

Roy warf einen wehmütigen Blick auf seinen Teller, gab sich dann aber einen Ruck und stand auf. Beide verließen die Große Halle und suchten sich eine Nische in der Eingangshalle des Schlosses.

„Was gibt es denn so Wichtiges?“, wollte Roy wissen.

„Startet Odysseus heute?“, fragte Albus eindringlich.

„Wann Odysseus startet, erfährst du am Mittag des betreffenden Tages“, versetzte Roy ruhig. „Du weißt doch, dass ich es euch nicht vorher sagen soll.“

„Wenn es heute ist, muss die Aktion unbedingt sofort gestoppt werden!“

Panik schwang in seiner Stimme mit.

Roy seufzte. „Also gut, Unternehmen Odysseus ist vor wenigen Minuten angelaufen – aber anhalten können wir es jetzt nicht mehr, der Hirsch ist schon im Otterbau.“

Sie hatten sich angewöhnt, die Patroni der beteiligten Personen als Decknamen zu verwenden. „Otter“ war der Codename für Hermine, der Otterbau war das Ministerium.

„O nein!“, stöhnte Albus verzweifelt.

„Was ist los, Albus, warum willst du die Aktion denn anhalten?“

„Darum“, sagte Albus tonlos, streckte Roy seine rechte Faust entgegen und öffnete sie. Auf seiner Handfläche lag das Glücksbarometer.

Die Kugel war pechschwarz.

 

***

 

Wie jeden Morgen um sieben Uhr herrschte auch an diesem 10. Januar im Atrium des Ministeriums ein lebhaftes Kommen und Gehen. Da die höheren Beamten erst später einzutreffen pflegten, war dies die Stunde des Schichtwechsels für Sicherheitsbeamte, Putzzauberer, technisches Personal, kurz: für diejenigen, die rund um die Uhr dafür sorgten, dass das Ministerium arbeiten konnte.

Der Knall, mit dem Harry unter seinem Tarnumhang apparierte, gehörte daher zur ganz normalen Geräuschkulisse eines beginnenden Arbeitstages, und niemandem, auch nicht den Sicherheitsleuten an den Empfangsschaltern und Durchgangsschleusen des Atriums, fiel auf, dass diesem Knall keine apparierende Person zu entsprechen schien.

Harry, der seinen Vielsaft bereits genommen hatte und unter seinem Tarnumhang wie Hermine aussah, spazierte an den Kontrollen einfach vorbei – lautlos und in Turnschuhen, die zu Hermines scharlachrotem Lieblingskostüm seltsam ausgesehen hätten, wenn jemand es hätte sehen können. Die High-Heels, die er würde tragen müssen – er hatte wochenlang mit Ginny geübt, um sich daran zu gewöhnen – trug er in seiner Handtasche bei sich.

Harry drückte sich gegen eine Wand, wo er kaum Gefahr lief, von irgendjemandem versehentlich angerempelt zu werden, und wartete auf Percy. Auf Percy war stets Verlass – Gerüchten zufolge gab es Ministerialbeamte, die ihre Uhr nach ihm stellten.

Wie Harry vorhergesehen hatte, passierte Percy die Eingangskontrollen um Punkt 7.29 Uhr und begab sich – wie immer mit jenem federnden Schritt, an dem man ablesen konnte, wie sehr er dieses Privileg genoss – schnurstracks zum Ministeraufzug. Harry glitt hinter seinem Schwager in den geräumigen, mit einem dicken Teppichboden ausgelegten Lift.

Auf der Ministeretage entriegelte Percy mit einem stummen Zauber die Tür zum Vorzimmer, ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und stellte die Vorlagenmappe für Hermine zusammen, die er, wie an jedem Tag, um Punkt zehn vor acht auf ihren Schreibtisch legte. Harry folgte ihm lautlos in Hermines Büro und stellte sich neben eines der magischen Fenster, die einem die Illusion eines Panoramablicks auf London verschafften, während Percy sich wieder an seinen Schreibtisch setzte. Die Tür des Ministerbüros ließ er offen.

Bis jetzt hatte alles wie am Schnürchen geklappt, stellte Harry zufrieden fest – eigentlich kein Wunder, kannte er die Personenschutzmaßnahmen doch aus dem Effeff. Die Fallen, die er selbst potenziellen Angreifern gestellt hatte, konnte er umgehen. Blieb nur zu hoffen, dass Cesar in der Zwischenzeit keine neuen aufgebaut hatte!

Harry warf einen kurzen Blick auf den Terminkalender, den Percy seiner Chefin schon an der richtigen Stelle aufgeschlagen hatte: Genau wie Harry spekuliert hatte, hatte sie diesen Tag wohl für das Studium des Aktenberges reserviert, der sich bedrohlich auf ihrem Schreibtisch türmte. Erst für den späten Nachmittag waren Unterredungen mit Dagobert Higrave und Susan Bones geplant.

Hermines Eintreffen war schwerer kalkulierbar als das von Percy. Wenn sie von ihrem Recht Gebrauch machte, direkt im Büro zu apparieren, würde es Punkt acht sein, aber Hermine nahm manchmal auch den Weg durchs Atrium und benutzte die normalen Aufzüge, um noch ein paar Worte mit Mitarbeitern zu wechseln, die sie sonst selten zu Gesicht bekam. Gerade bei niederrangigen Beamten, die Hermines autoritäre Seiten weniger zu spüren bekamen, war sie deshalb eine ausgesprochen beliebte Chefin: Ein kleiner Sekretär, der merkte, dass die Ministerin persönlich sich – und sei es nur eine Minute – für ihn Zeit nahm, sich die Namen seiner Kinder gemerkt hatte und sich nach deren Befinden erkundigte, konnte gewissermaßen gar nicht anders, als sie zu verehren.

Sieben Minuten nach acht endlich hörte Harry ihre Stimme vom Gang aus: „Bis später dann, Cesar!“

Sie wird Cesar heute noch einmal treffen, anders als in ihrem Terminkalender steht, schoss es Harry durch den Kopf, und er hat sie heute schon gesehen, er darf dann keinen Unterschied feststellen!

Als sie das Vorzimmer betrat, konnte Harry sie sehen und zuckte zusammen:

Hermine trug ein grünes Kostüm!

Ginny hatte eigens nach Bildern aus dem Tagespropheten eine Kopie von Hermines gryffindor-rotem Lieblingskostüm gezaubert, von dem sie mindestens vier exakt gleiche Exemplare besaß. Und ausgerechnet, ausgerechnet heute trägt sie Slytheringrün, vielleicht Higrave zuliebe, ärgerte sich Harry. Er würde nachher eine knappe Minute brauchen, ihre Kleidung zu duplizieren und anzuziehen. Kein unüberwindliches Problem, aber eine Komplikation und ein Unsicherheitsfaktor.

„Guten Morgen, Percy!“, hörte Harry sie sagen. Ihre Stimme klang etwas schwach, und er sah, dass sie blass war.

„Guten Morgen, Hermine, geht es dir gut?“, fragte Percy besorgt.

„Ja, danke der Nachfrage.“

„Bist du sicher?“, hakte Percy nach – fürsorglich, aber mit Nachdruck.

„Ich hatte einen kleinen Schwächeanfall, nicht der Rede wert“, wiegelte Hermine ab.

„Wieder Probleme mit Ron?“, fragte Percy so leise, dass Harry ihn gerade noch verstehen konnte. Er horchte auf. Als Hermines Schwager durfte Percy sich solche privaten Fragen sicherlich herausnehmen, aber wenn er, der trockene Büromensch, es wirklich tat, und dies in den Räumen des Ministeriums, musste es um Hermines Ehe wie auch um ihre Gesundheit wirklich schlecht bestellt sein.

Als Hermine nickte, meinte Percy: „Ihr solltet vorsichtig miteinander umgehen, diese Spannungen tun dir nicht gut. Würde es dir helfen, wenn ich mit meinem Bruder einmal spreche?“

Harry hätte nie für möglich gehalten, dass Percy so lieb sein konnte.

Hermine lächelte. „Ist schon gut, Percy, es renkt sich wieder ein.“

„Möchtest du vielleicht einen Stärkungszauber?“

„Danke, gerne.“

Harry konnte Percy nicht sehen, aber nach einem Moment fragte dieser: „Besser?“

„Viel besser, danke“, lächelte Hermine und betrat ihr Büro. Harry war froh über Percys Stärkungszauber: Einer geschwächten Person konnte ein Schockzauber gefährlich werden, ohne Percys Fürsorge für Hermine hätte er womöglich umdisponieren müssen.

Hermine setzte sich an ihren Schreibtisch und legte ihren Zauberstab, den sie hier eigentlich nur brauchte, um Memos zu versenden, neben sich. Harry runzelte die Stirn: Er kannte Hermines Zauberstab, den sie schon in Hogwarts benutzt hatte, fast so gut wie seinen eigenen. Er war aus Weinstockholz gewesen. Der Stab aber, der jetzt neben ihr lag, schien aus Eibenholz zu sein.

Leider hatte Hermine die Tür zum Vorzimmer, die sie normalerweise schloss, um sich gut konzentrieren zu können, diesmal offengelassen, vielleicht um Blickkontakt mit Percy zu haben.

Alles, was schiefgehen kann, geht auch schief!

Er stand dicht hinter Hermine – innerhalb der magischen Schutzglocke von anderthalb Metern Radius, deren Einrichtung er selbst noch angeordnet hatte – und hatte sie und Percy dadurch gleichzeitig im Blick: Beide waren in ihre Akten vertieft. Wenn er jetzt die Tür schloss, würde Percy glauben, Hermine selbst sei es gewesen. Harry hob unter dem Tarnumhang seinen Zauberstab und ließ die Tür mit einem leisen Klick ins Schloss fallen. Hermine blickte verdutzt auf.

Harry sicherte die Tür mit einem stillen Imperturbatio-Zauber, durch den er sie nach außen berührungssicher und vor allem schalldicht machte. In der Sekunde, die er dafür brauchte, griff Hermine nach ihrem Zauberstab. Harry richtete seinen eigenen auf ihren Rücken:

Stupor!

Ein roter Blitz schoss unter lautem Knall aus seinem Stab, prallte aber an Hermines Rücken ab und zerstob zu tausend Funken. Eine magische Schutzweste! schoss es Harry durch den Kopf. Cesar hat nachgelegt! Hermine sprang auf und richtete ihren Stab blind nach hinten:

Stupor!“, rief sie ihrerseits, während Harry zur Seite hechtete. Sein Tarnumhang verrutschte. Er zog ihn herunter und zielte mit seinem Stab in Hermines Gesicht, das fassungslos sein Ebenbild anstarrte:

Stupor!

Sie ließ sich geistesgegenwärtig über den Schreibtisch rollen, der Fluch verfehlte sie, und sie stürzte zur Tür. Sie durfte sie nicht erreichen! Auf seinen Turnschuhen war Harry schneller als sie und drang in den Bereich der Schutzglocke ein – genau in dem Moment, da sie die Klinke drückte.

Petrificus totalus!“, rief Harry. Hermines Körper erstarrte, wurde aber durch den Schwung, den er noch hatte, gegen die Tür geworfen. Die Klinke schnappte wieder hoch. Percy musste das Poltern gehört haben! Harry hatte keine Wahl:

Er löschte den Imperturbatio-Zauber, flüsterte, den Stab auf Hermines Kopf gerichtet, „Imperio“, und warf sich mit der freien Hand den Tarnumhang wieder über. Genau in diesem Moment kam Percy hereingestürzt. Harry hob den Petrificus wieder auf.

Hermine, um Gottes Willen!“, rief Percy, zu Tode erschrocken. Leicht benommen stand Hermine auf.

„Es ist nichts, Percy, lass gut sein, ich bin nur gestolpert“, sagte sie sanft.

„Aber du blutest ja!“ Tatsächlich rann Blut von ihrer Stirn.

„Ach ja?“, lächelte Hermine, hob ihren Zauberstab auf, richtete ihn gegen ihre Stirn und sagte: „Episkey“. Die Wunde verschwand.

„Siehst du?“, lächelte sie wieder. „Alles in Ordnung!“

Hermine, du bist ganz benommen, womöglich hast du eine Gehirnerschütterung, ich muss darauf bestehen, einen Heiler hinzuzuziehen“, rief Percy.

„Das ist eine gute Idee, am besten apparierst du vom Atrium aus direkt im St. Mungo, um ihn zu holen. Aber bitte diskret! Weder im Ministerium noch im Krankenhaus darf irgendjemand außer dem Heiler etwas davon mitbekommen, verstanden? Ich lege mich inzwischen aufs Sofa“, sagte Hermine freundlich und deutete auf die kleine Sitzecke ihres Büros.

Percy stürzte davon, und Harry atmete auf. Den war er erst einmal los! Nun aber schnell, mehr als zehn Minuten hatte er auf keinen Fall!

„Gib mir deinen Zauberstab!“, befahl er Hermine, die den Stab lächelnd in die Richtung hielt, aus der seine – oder vielmehr ihre eigene – Stimme gekommen war. Er griff mit einer Hand aus dem Tarnumhang heraus und nahm den Stab an sich.

Harry überlegte fieberhaft: Wenn Hermines Benommenheit wirklich auf eine Gehirnerschütterung oder Ähnliches zurückzuführen war, konnte er sie nicht schocken und entführen, dann brauchte sie einen Heiler. Wahrscheinlich war sie aber nur eine Folge des Imperiusfluchs. Nun, das ließ sich herausfinden!

Harry sicherte die Bürotür erneut mit einem Imperturbatio-Zauber und hob den Imperiusfluch wieder auf.

Hermine richtete sich ruckartig auf.

„Dein Tarnumhang hat dich verraten, Potter!“, sagte sie mit eisiger Stimme ungefähr in seine Richtung. „Mit dem, was du hier vorhast, kommst du nicht durch! Ich gebe dir eine einzige, letzte Chance, aus der Sache herauszukommen: Geh einfach, und ich vergesse, was ich erlebt habe!“

„Selbst wenn ich dir deine Versprechungen abnehmen würde“, hörte Hermine ihre eigene Stimme scheinbar aus dem Nichts zu ihr sprechen, „könnte ich nicht gehen. Ich werde dich nicht im Stich lassen, Hermine, nie!“

„Du wagst es, mir so etwas zu sagen, wo du gerade den größten Verrat begehst, den ich je erlebt habe?“

„Nicht ich verrate dich, sondern du dich selbst“, erwiderte die Stimme. „Ich sehe aber, dass du nicht benommen bist.“

„Natürlich nicht!“, rief Hermine wütend. „Ich war noch nie so klar bei Sinnen wie jetzt!“

„Dann brauche ich dein Spiel auf Zeit nicht länger zu dulden. Stupor!“

Der rote Blitz traf Hermines Kopf, und sie sank ohnmächtig aufs Sofa zurück.

In fliegender Hast nahm Harry den Tarnumhang ab, duplizierte Hermines grünes Kostüm und ihre Schuhe, hob ihren Körper mit einem Schwebezauber an, dirigierte ihn in die hinterste Ecke des Büros, warf ihr den Tarnumhang über, zog sein rotes Kostüm aus und schlüpfte in das grüne. Dann ließ er das rote Kostüm und seine Turnschuhe mit Reductio verschwinden, hob den Imperturbatio-Zauber wieder auf, öffnete die Bürotür und legte sich aufs Sofa.

Keine Sekunde zu früh: Kaum hatte er sich hingelegt, hörte er schon Schritte über den Gang poltern, und im nächsten Moment kam Percy ins Büro, in seinem Schlepptau ein alter Zauberer, dessen langer weißer Bart Harry an Dumbledore erinnerte.

Hermine“, rief Percy atemlos, „das ist Professor Camillus Healman, der Chefheiler des St. Mungo.“

„Wir hatten bereits das Vergnügen“, sagte der Heiler und reichte Hermine – also eigentlich Harry – die Hand. „Wenn Sie bitte das Büro verlassen und die Tür schließen würden, Mister Weasley?“

Percy verbeugte sich und verließ das Büro.

„Meine Güte, gleich der Chefheiler“, sagte Harry und versuchte, Hermines Stimme ein wenig schwach klingen zu lassen, „es war doch nur ein kleiner Schwächeanfall.“

„Und nicht der erste, wie ich höre?“, fragte der Professor sanft, während er seinen Zauberstab routiniert über Hermines Kopf und Körper gleiten ließ.

„Ja, ich bin in letzter Zeit wohl etwas überarbeitet, aber sonst ist alles in Ordnung…“

„Das herausfinden, überlassen Sie bitte Ihrem Heiler“, versetzte der alte Professor streng. „Es könnte schließlich auch sein, dass Sie Guter Hoffnung sind…“

Harry krampfte sich der Magen zusammen. Wenn Hermine schwanger war, hatte er durch den Vielsaft ungewollt einen Zwilling ihres ungeborenen Kindes erzeugt und war dann dessen werdende Mutter! Dann konnte er in den nächsten neun Monaten seine wirkliche Gestalt nicht mehr annehmen, ohne dieses Kind zu töten. Er wäre praktisch gezwungen, es auszutragen…

„O nein“, stöhnte er, „das könnte ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen! Können Sie das nicht feststellen, Herr Professor?“

„Selbstverständlich kann ich das, ich bin soeben dabei.“ Healman führte einige verwirrende Bewegungen mit seinem Zauberstab aus. „Nun, ich fürchte…“ sagte er schließlich nachdenklich, während Harry hörbar schluckte.

„Nun reden Sie schon!“

„Ich fürchte, Sie können sich momentan nicht auf Nachwuchs freuen.“

„Gott sei Dank“, rief Harry unter einem Seufzer der Erleichterung. „Sie machen sich ja keine Vorstellung, in welche Lage ich gekommen wäre, wenn…“

„O doch“, versicherte der Professor. „Ich bin seit sechzig Jahren Heiler, Sie können sicher sein, dass mir nichts Menschliches fremd ist…“

Harry schnellte hoch: „Was wollen sie damit andeuten?“, fuhr er den Heiler empört an. Seine Freundin Hermine war schließlich keine…

„Beruhigen Sie sich“ sagte der Professor begütigend, „und entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihre Bemerkung offenbar missverstanden habe. – Nun, ich kann kein organisches Leiden feststellen, und eine Gehirnerschütterung haben Sie auch nicht. Trotzdem darf man zwei Schwächeanfälle an einem Tag nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie sagen, Sie sind überarbeitet, das kann ich mir in Ihrer Position gut vorstellen. Ähm, haben Sie eventuell auch im privaten Bereich Probleme? – Denken Sie daran, ich unterliege der allerstrengsten Schweigepflicht!“

„Ich habe in letzter Zeit öfter Streit mit meinem Mann…“

„Ah ja“, nickte der Heiler verständnisvoll, „Stress im Beruf und Stress zu Hause, da muss der Körper ja rebellieren! Ich glaube, Sie schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn Sie jetzt nach Hause gehen, sich hinlegen und auch Ihren Mann bitten, Ihnen Gesellschaft zu leisten. Verbringen Sie ein, zwei schöne Tage miteinander, dann wird es Ihnen besser gehen, und Ihr Mann wird sich dann sicher auch wohler fühlen. Einstweilen gebe ich Ihnen dies mit.“

Er zog ein Fläschchen aus seinem Umhang. „Ein Stärkungstrank auf bio-magischer Basis. Jeden Morgen ein Teelöffel, ansonsten nach Bedarf, bis Sie ihn aufgebraucht haben.“

„Vielen Dank, Herr Professor. Sie gestatten…“

Harry, nach wie vor in Hermines Gestalt, stand auf und führte den Professor ins Vorzimmer. Während er sich von dem Heiler verabschiedete, sagte er zu Percy: „Der Herr Professor verordnet mir zwei Tage Ruhe, verschiebe bitte alle meine Termine, ich werde dann gleich disapparieren.“

Perfekt! jubelte er innerlich. So habe ich den idealen Vorwand, mit Hermine sofort zu verschwinden und nicht erst heute Abend, wer weiß, was bis dahin noch alles passiert wäre…

„Vielleicht schaue ich morgen Vormittag kurz vorbei, falls irgendetwas Dringendes anliegt“, fügte er hinzu. „Ansonsten hältst du hier für mich die Stellung, Percy. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.“

„Selbstverständlich“, warf Percy sich stolz in die Brust.

Harry schenkte ihm ein freundliches Hermine-Lächeln, ging zurück in das Ministerbüro und schloss die Tür hinter sich. Er lehnte sich dagegen, schloss kurz die Augen und atmete auf. Das war ja noch einmal gutgegangen, am Ende sogar besser, als er erwartet hatte! Jetzt brauchte er nur noch mit Hermine an der Hand nach Hogwarts in den Geheimraum zu disapparieren.

Er griff unter den Tarnumhang, fasste Hermines Hand, konzentrierte sich, drehte sich…

Harry fluchte leise. Es klappte nicht, er konnte nicht disapparieren!

Harry dachte fieberhaft nach. Er selbst hatte vor einem Jahr die Schutzzauber für das Ministerium eingestellt, und zwar so, dass Hermine in ihrem Büro apparieren und disapparieren konnte, wobei es genügte, wenn sie mitapparierte, sie brauchte es nicht selbst zu tun. Noch im Sommer war er mit ihr an der Hand aus diesem Büro disappariert, und er selbst, nicht Hermine, hatte den Apparierungszauber ausgeübt! Cesar musste auch diese Sicherheitsbestimmung verschärft haben!

Harry seufzte. Er würde Hermines Schock aufheben und sie schon wieder mit dem Imperius belegen müssen – zum zweiten Mal heute! –, um sie zu zwingen, mit ihm zu disapparieren.

Gerade hatte er seinen Zauberstab gezückt, als es an der Tür klopfte. Harry steckte seinen Stab wieder weg, aber noch bevor er „Herein“ sagen konnte, stand Percy in der Tür.

Percy“, rief Harry ungehalten, „was fällt dir ein, einfach hier hereinzuplatzen?“

„Tut mir leid“, sagte Percy, der rote Ohren bekam, „aber Cesar meinte, er müsse dich unbedingt noch sprechen, bevor du disapparierst.“

Cesar Anderson drängte sich an Percy vorbei und sagte dann:

„Ich brauche noch Ihre Unterschrift.“ In der Hand hielt er eine Aktenmappe.

„Legen Sie die Akte auf meinen Schreibtisch“, erwiderte Harry, wobei er es vermied, Anderson anzusehen, damit dieser nicht versuchen konnte, in seinen Geist einzudringen. Harry beherrschte zwar Okklumentik, aber Hermine nicht, –– an seinem Widerstand würde Anderson erkennen, dass er nicht Hermine war…  „Ich werfe nochmal einen Blick darüber und lasse Ihnen die Akte dann zukommen.“

Unterschreiben konnte er in Andersons Gegenwart nichts, weil er einen Schriftfälschungszauber würde anwenden müssen.

„Wir hatten doch alles besprochen“, erwiderte Anderson verwundert, „und waren uns über die Notwendigkeit dieser Ermächtigung einig.“

Ermächtigung? Harry ging ihm entgegen, ließ sich die Mappe reichen und schlug die Akte auf. Das Amt für Magische Sicherheit wurde darin

„…bevollmächtigt, im Rahmen seiner dienstlichen Aufgaben und zur Abwehr staatsgefährdender Umtriebe im Einzelfall ohne weitere Voraussetzungen, insbesondere ohne Vorliegen einer besonderen Genehmigung, die sogenannten…“

Harry erstarrte –

„… Unverzeihlichen Flüche anzuwenden.“

Das würde er niemals unterschreiben, aber er durfte jetzt nicht aus der Rolle fallen!

„… ohne weitere Voraussetzungen“, murmelte er und fügte laut hinzu: „Tut mir leid, Cesar, ich muss das noch einmal prüfen. Wir sprechen das Ganze am Fr… nein, am Montag nochmals durch.“ Damit hatte er genug Zeit gewonnen, sich in die Akten einzulesen und ihnen einen unverdächtigen Grund zu entnehmen, Cesar zu entlassen oder wegzuloben.

„Wie Sie wünschen“, sagte Anderson, immer noch verwundert, „aber Sie selbst hatten aufs Tempo gedrückt…“

„Ich glaube nicht“, sagte Harry sarkastisch und in Hermines hochmütigstem Tonfall, während er sich mit dem Handrücken über seine rechte Stirnseite fuhr, „dass Ihre Kunden sich beschweren werden, wenn ihnen der Cruciatus noch ein paar Tage erspart bleibt.“

Aus den Augenwinkeln sah er Percy zusammenzucken, während Anderson die Stirn runzelte.

„Das war’s, meine Herren“, fügte er in Hermines Chefinnentonfall hinzu, „wenn Sie dann bitte…“

Er konnte den Satz nicht vollenden, denn just in diesem Moment glitten zu seinem Entsetzen zwei Zauberstäbe – sein eigener und Hermines –, von einem stummen Aufrufezauber angezogen, aus der Innentasche seines Umhangs und flogen auf Anderson zu, der sie mit der linken Hand auffing und zugleich mit der rechten blitzschnell seinen eigenen Stab zückte und auf Harry richtete. Anderson warf einen prüfenden Blick auf die Stäbe und sagte dann, mehr traurig als gehässig:

„Sie sagen es, Harry: Das war’s! Realcorpus!

Harry spürte das unangenehme Ziehen und Drücken, mit dem er wieder seine wirkliche Gestalt annahm. Nach etwa dreißig Sekunden stand er wieder als Harry Potter, aber immer noch in Hermines Kostüm und in verzweifelt engen High-Heels vor seinem ehemaligen Untergebenen und dem sprach- und fassungslos dreinblickenden Percy.

„Woher wussten sie es?“, fragte er Anderson.

„Die Häufung der Indizien konnte einfach kein Zufall mehr sein“, antwortete der Amasi-Chef. „Zuerst der verdächtige Zwischenfall, bei dem die Ministerin verletzt wurde – Percy erzählte mir davon, als ich eben in sein Büro kam. Dann Hermines Bereitschaft, wegen eines bloßen Schwächeanfalls nach Hause zu gehen; Sie hätten wissen müssen, dass sie sich lieber tot aus dem Büro tragen lässt, als ihre Pflichten zu vernachlässigen. Dann die Tatsache, dass Sie mir nicht in die Augen sahen, Ihre Weigerung, ein längst abgesprochenes Dekret zu unterzeichnen, die Erwähnung der Cruciatus-Ermächtigung in Percys Gegenwart, nachdem Hermine mir ausdrücklich eingeschärft hatte, dass er nicht darüber informiert werden durfte, und schließlich das hier:“

Er wischte mit dem Handrücken über seine rechte Stirnseite, genau wie Harry es vor einer Minute getan hatte.

„Diese Geste“, fuhr Anderson fort, „habe ich an Hermine noch nie gesehen, wohl aber an Ihnen, und zwar in Ihrer letzten Amtswoche als Aurorenchef. Identifiziert habe ich Sie schließlich anhand Ihres Zauberstabs.“

„Gute Arbeit, Cesar“, meinte Harry zähneknirschend. „Dann bleibt mir ja wenigstens die Genugtuung, den Personenschutz dem fähigsten Mann anvertraut zu haben. Sagen Sie, können Sie mich umziehen? In Hermines Kostüm sehe ich lächerlich aus.“

Anderson zögerte kurz, dann sagte er:

„Diesen Gefallen tue ich Ihnen noch, Harry, aber es ist der letzte.“

Er verwandelte mit einigen Bewegungen seines Zauberstabs Hermines Kostüm, das an Harrys Körper fast aus den Nähten platzte, in passende Männerkleidung, ihre hochhackigen Schuhe in Turnschuhe und ihren Hexenumhang in einen Zaubererumhang. Mit „Incarcerus“ wurde Harry am ganzen Oberkörper gefesselt, während Anderson ihn pflichtgemäß über seine Rechte aufklärte:

„Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Sollten Sie aber aussagen, kann ab jetzt alles, was Sie sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden.“

Harry nickte.

„Wo ist Hermine?“, fragte Anderson.

Harry deutete mit dem Kopf in die Ecke des Zimmers, in dem Hermine schwebte: „Unter meinem Tarnumhang.“

Anderson ging in die angedeutete Richtung, bis er an das unsichtbare Hindernis stieß, nahm den Tarnumhang an sich, ließ Hermines Körper sanft zu Boden gleiten und fuhr mit dem Zauberstab über ihr Gesicht:

Rennervate.“

Hermine schlug die Augen auf und setzte sich auf. Als sie den gefesselten Harry sah, warf sie ihm einen Blick zu, der die Hölle hätte zufrieren lassen können, und zischte:

„Dafür bezahlst du, Potter!“

Sie wandte sich an Anderson, während Percy ihr aufhalf:

„Sie wissen, was Sie zu tun haben.“

Anderson nickte: „Kommen Sie, Potter.“ Harry musste vorausgehen, während Anderson ihm mit gezogenem Zauberstab folgte.

Percy?“, sagte Hermine, als der Gefangene mit seinem Bewacher das Büro verlassen hatte.

„Ja, Hermine?“, antwortete Percy immer noch bleich, aber beflissen.

„Schick mir Susan Bones herauf“, sagte sie, und ein böses Grinsen umspielte ihre Mundwinkel. „Wir brauchen ein neues Gesetz.“

 

***

 

„Steck die Kugel wieder ein“, befahl Roy, „und lass dich nicht ins Bockshorn jagen.“

Albus ließ das Glücksbarometer wieder in seinen Umhang gleiten. Roy umfasste seine Schultern und sah ihm fest in die Augen:

„Wir wissen nicht, was dieses Omen zu bedeuten hat. Wir wissen auch nicht, ob es mit Odysseus zusammenhängt. Wir wissen aber eins: Wir sind Slytherins! Wenn wir einen Schlag einstecken müssen, halten wir den Kopf gerade, verziehen keine Miene, bleiben auf beiden Beinen stehen und lassen uns von nichts und niemandem niederstrecken, verstanden?“

Albus nickte. Roy fuhr fort:

„Wir sind die Schlange, nicht das Kaninchen, das vor ihr zittert! Wir fragen nicht ängstlich, was geschehen wird! Wir warten es gelassen ab und entscheiden dann, was wir tun!“

Albus nickte wieder, diesmal überzeugter und entschlossener. Roys Worte taten ihm gut.

„Danke“, sagte er, „jetzt geht’s mir besser!“

„Brauchst du vielleicht doch einen Aufmunterungszauber?“

Albus schüttelte den Kopf. Er lächelte sogar ein wenig.

„Den habe ich eben von dir bekommen, und er genügt mir.“

 

Da Albus es bereits wusste, beschloss Roy, auch die anderen Unbestechlichen, die am Frühstückstisch zusammensaßen, sofort zu informieren.

„Können wir irgendetwas tun?“, fragte Arabella.

Roy schüttelte den Kopf. „Alle Vorkehrungen sind getroffen. Solltet ihr etwas tun können, erfahrt ihr es von mir oder Albus. Benehmt euch einfach wie immer. Wenn keine Auroren auftauchen, keine Sonderausgabe des Tagespropheten erscheint und so weiter, wenn also nichts Ungewöhnliches geschieht, könnt ihr davon ausgehen, dass Alles gutgegangen ist.“

Es geschah nichts Ungewöhnliches, den ganzen Tag über. Albus, der stets an Roys Worte dachte, schaffte es, sich ganz normal zu verhalten, und je weiter der Tag voranschritt, desto zuversichtlicher wurde er, dass sein Vater es geschafft hatte.

Wie fast alle Hogwarts-Schüler saßen die Unbestechlichen gegen achtzehn Uhr beim Abendessen, als die Eulen eintrafen, die die Abendausgabe des Tagespropheten an dessen Abonnenten verteilten. Hor-Hor, der die Zeitung als einziger Erstklässler abonniert hatte, warf einen Blick auf die Schlagzeile, starrte den ihm gegenübersitzenden Albus entgeistert an und schob ihm das Blatt kommentarlos zu, während das Stimmengewirr, das die Große Halle erfüllte, leiser und leiser wurde, bis es völlig erstarb und einer drückenden Stille wich.

 

NACH MORDANSCHLAG AUF ZAUBEREIMINISTERIN:

HARRY POTTER VERHAFTET!

DEM EX-AURORENCHEF DROHT DIE TODESSTRAFE!

London, 10. Januar. Wie das Zaubereiministerium soeben bekanntgab, wurde der ehemalige Chef-Auror Harry Potter bei dem Versuch überwältigt und verhaftet, auf Zaubereiministerin Hermine Granger-Weasley einen Anschlag zu verüben. Potter, der in jüngerer Zeit mehrfach durch Sympathien für Todesser-Kreise aufgefallen und deshalb seines Postens enthoben worden war, hatte sich unter dem Schutz eines Tarnumhangs Zugang zum Ministerium verschafft und die Ministerin in deren Büro angegriffen. Dank des Eingreifens von Amasi-Chef Cesar Anderson blieb die Ministerin weitgehend unverletzt. Da Potter mit Hilfe von Vielsaft die Gestalt der Ministerin angenommen hatte, ist davon auszugehen, dass er sich nach ihrer Ermordung an ihre Stelle setzen wollte.

Die Ministerin äußerte sich bestürzt darüber, dass ausgerechnet Potter, mit dem sie eine langjährige Freundschaft verband, sich unter dem Einfluss der Todesser-Ideologie zu einer solchen Tat hinreißen ließ. Wörtlich sagte sie: „Mit dem heutigen Tag kann niemand mehr behaupten, er wisse nicht, welch tödliche Gefahr dem Magischen Staat durch die Todesser und ihre menschenverachtende Ideologie immer noch droht.“

Als Reaktion auf den Anschlag hat die Ministerin eine Notverordnung zum Schutze des Magischen Staates erlassen, durch die rückwirkend zum 1. Januar 2018 die Todesstrafe wiedereingeführt wird, und zwar für Mord, Hochverrat, alle Gewaltdelikte sowie die Anwendung der Unverzeihlichen Flüche, sofern sie im Zusammenhang mit hochverräterischen oder staatsgefährdenden Bestrebungen stehen. Das Ministerium bestätigte, dass die Verordnung auf den Fall Potter anwendbar ist.

Wie aus Ministeriumskreisen weiter verlautet, soll die Strafe gemäß der Tradition durch Enthauptung vollstreckt werden…

 

 

Albus las nicht weiter. Er hatte mit vielem gerechnet und sich innerlich auf schlechte Nachrichten vorbereitet, aber nicht auf eine solche.

Als er den Kopf hob, sah er in Hunderte von Augenpaaren, die ihn entsetzt anstarrten, während auf der anderen Seite der Halle die gleichen Blicke auf James lasteten. Albus suchte und fand den Blick seines Bruders.

Bleich, aber erhobenen Hauptes, stand er auf und ging durch die Totenstille zum Gryffindor-Tisch. James erhob sich ebenfalls.

„Lass uns rausgehen“, flüsterte Albus seinem Bruder zu.

Victoire war ebenfalls aufgestanden. „Möchtet ihr, dass ich mitkomme?“, fragte sie leise und sanft.

„Ja, bitte“, antwortete James.

Ihr Weg zum Ausgang führte an Rose vorüber, die blass und zitternd geradeaus ins Leere starrte. Albus blieb stehen, beugte sich leicht zu ihr hinunter und fragte ganz leise:

Rose?“

Sie rührte sich nicht.

Rose?“

Rose schluckte und schloss die Augen.

Rose, sind wir noch Freunde?“

Nach einigen endlosen Sekunden öffnete sie die tränennassen Augen. Endlich nickte sie.

„Komm“, sagte Albus.

Als sie wie in Trance aufstand, nahm Albus sie bei der Hand. Sie zog sie nicht zurück.

Die Potters und die Weasleys verließen gemeinsam die Große Halle. Zurück blieb die Stille eines Friedhofs.

42 – Armeen machen mobil

 

Es dauerte Minuten, bis wieder Gespräche in Gang kamen, ernst und gedämpft wie bei einer Beerdigung.

Am Slytherin-Tisch saß Roy mit den Unbestechlichen zusammen und stierte auf den Tagespropheten, ohne den Artikel nochmals zu lesen. Er kannte ihn schon auswendig. Seine beiden geballten Fäuste lagen auf der Zeitung. Er schnaufte vor Zorn.

„Diese Schweine!“, murmelte er. „Diese Schweine, diese Schweine, diese Schweine! Sie können überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür haben, dass Harry sie ermorden wollte, sie behaupten es nur, um…“

Er schwieg. Langsam wich die Wut in seinen Zügen dem Ausdruck konzentrierten Nachdenkens.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Julian.

Roy sah auf. „Als erstes bringen wir unsere Slytherins auf Linie!“

Erst als er aufstand, merkte er, dass sämtliche Slytherins nur darauf gewartet hatten, was die Unbestechlichen tun würden. Nun erhoben sie sich ebenfalls. Schweigend verließen die Slytherins geschlossen die Große Halle, schweigend gingen sie in den Gemeinschaftsraum.

Dort angekommen, legte Roy los:

„Niemand, der Harry Potter kennt, kann auch nur eine Sekunde lang glauben, er habe die Ministerin ermorden wollen! Diese Anschuldigung ist eine Lüge! Der Sinn dieser Lüge erschließt sich aus dem Inhalt von Grangers Notverordnung. Diese Verordnung sieht rückwirkend die Todesstrafe für Taten vor, die zum Tatzeitpunkt nicht mit dem Tod bedroht waren. Sie sieht ferner die Todesstrafe für Taten vor, die an sich geringer bestraft werden und nur dann mit dem Tod geahndet werden sollen, wenn der Täter politische Motive hatte.

Wenn so etwas einmal gemacht werden kann, kann es immer gemacht werden. Niemand wird sich mehr darauf verlassen können, dass das, was in einem Gesetz steht, auch gilt. Es wird immer unter einem politischen Vorbehalt stehen, und jeder Bürger ist dann in Gefahr, wegen geringfügiger oder sogar erlaubter, aber nachträglich verbotener Taten von der Justiz umgebracht zu werden, wenn er der Regierung im Weg steht!

Ein solches Gesetz wäre von der magischen Gemeinschaft unter normalen Umständen niemals akzeptiert worden! Die Mordanklage soll nur dazu dienen, die Empörung der Öffentlichkeit anzustacheln, damit sie es akzeptiert und zulässt, dass Regierungsgegner unter Ausnahmerecht gestellt werden! Ihr werdet sehen: Sie werden den Mordvorwurf gegen Potter stillschweigend fallen lassen, aber das Gesetz, das sie ohne diesen Vorwurf gar nicht hätten durchsetzen können, gibt ihnen die Handhabe, ihn am Ende wegen Hochverrats oder auch wegen Körperverletzung oder ähnlicher Dinge aufs Schafott zu bringen!

Ein Volk, das sich ein solches Gesetz gefallen lässt, hört auf, ein freies Volk zu sein! Wir lassen es uns nicht gefallen!“

Tosender Beifall antwortete ihm. Roy ballte die Faust:

„Erst recht werden wir nicht dulden, dass einer von uns, ein Slytherin, aufgrund eines solchen Gesetzes und durch einen Justizmord seinen Vater verliert!“

Der Gemeinschaftsraum erbebte unter minutenlangem Jubel. Als er endlich abebbte, fuhr Roy fort:

„Wir wissen nicht, was das Ministerium an belastbaren Fakten gegen Potter in der Hand hat. Eines aber wissen wir: Den Vorwurf des Hochverrats, selbst wenn sie ihn in einem formalen Sinne beweisen könnte, kann diese Regierung gar nicht erheben, weil sie selbst eine Regierung von Hochverrätern ist, die man deswegen überhaupt nicht verraten kann!“

Wieder donnernder Jubel. Roy benutzte die Pause, um seinen Zorn in den Griff zu bekommen.

„Jetzt kommt es darauf an“, fuhr er etwas ruhiger fort, „den Spieß umzudrehen: Dieser Prozess, den die Ministerin dazu benutzen will, ihren ältesten und besten Freund zu ermorden, muss ein Prozess gegen Granger selbst werden! Wenn sie mit ihrer Anklage nicht durchkommt, wird sie stürzen! Und sie muss stürzen!“

Bevor der Beifall erneut aufbranden konnte, redete Roy weiter:

„Einer von uns ist durch diesen Staat angegriffen worden! Slytherin muss jetzt wie ein Mann hinter Albus stehen, und damit auch hinter seinem Vater! Und wenn ich ‚Slytherin‘ sage, meine ich nicht nur uns hier in Hogwarts, ich meine auch die Ehemaligen, von denen viele jetzt in einflussreichen Positionen sitzen, zum Teil auch im Zaubergamot, vor dem der Prozess voraussichtlich stattfinden wird. Fast alle sind sie Verwandte von euch. Macht ihnen klar, dass Slytherin eine Position hat, dass sie diese Position verdammt nochmal zu unterstützen haben, und dass es Verrat ist, wenn sie es nicht tun!“

Roy atmete durch, während es zustimmende Zurufe prasselte. Er hatte sich wieder in Rage geredet. Sein Atem ging schwer, seine Lippen zitterten. Arabellas besorgten Blick bemerkte er nicht.

„Das ist das Mindeste, was wir tun können und werden! Aber ich bitte jeden Einzelnen von euch, sich zu fragen, was er noch für Albus tun kann, um ihm jetzt beizustehen, jetzt, wo er diesen Beistand mehr braucht als irgendjemand sonst! Der Sprechende Hut sagt uns jedes Jahr, in Slytherin findet man echte Freunde! Jetzt ist der Zeitpunkt, es zu beweisen! Danke!“

 

***

 

Victoire führte Rose, Albus und James in ein leeres Klassenzimmer. Keiner von ihnen wollte sich setzen. Albus, der immer noch Roses Hand hielt, hatte sich wieder im Griff.

„Wir alle kennen Papa“, begann er, „und wissen, dass er und Hermine füreinander immer wie Geschwister waren. Ich hoffe, keiner von uns glaubt diesen Quatsch mit dem Mordanschlag.“

„Natürlich nicht!“, rief James.

„Nein“, sagte Victoire.

Rose sah Albus lange an, dann schüttelte auch sie den Kopf.

„Nein“, flüsterte sie.

Albus beschloss, den Anderen so weit wie möglich – das heißt, soweit er es konnte, ohne seinen Vater, sich selbst und die anderen Unbestechlichen zu gefährden, vor allem, ohne seine Mitwisserschaft zuzugeben – die Wahrheit über die Hintergründe der Aktion Odysseus zu sagen. Es musste sein! Er nahm Roses beide Hände in seine.

Rose“, sagte er mit leiser, aber fester Stimme, „ich muss dir etwas sagen, was ich dir an sich lieber verschwiegen hätte, um dich nicht noch mehr zu beunruhigen.“

James und Victoire sahen ihn erstaunt an, Rose wirkte verwirrt.

„Was denn?“, fragte sie.

„Als ich dir am Sonntag im Zug versprochen habe, mit deiner Mutter werde alles wieder gut werden, hast du dich über dieses Versprechen gewundert.“

„Allerdings“, meinte sie.

„Es war nicht nur ein gutgemeinter Trostspruch“, fuhr Albus fort. „Du weißt, dass mein Vater als Auror für die Erkennung und Bekämpfung Schwarzer Magie ausgebildet ist.“

Rose nickte mit sich weitenden Augen, während die beiden Anderen gebannt zuhörten.

„Er vermutet schon länger, dass deine Mutter…“ Er stockte. Es Rose gegenüber auszusprechen war schwerer, als er geglaubt hatte. „…dass sie unter einem Fluch steht.“

„WAS?“, riefen Rose, James und Victoire gleichzeitig.

„Sag, dass das nicht wahr ist“, flehte Rose ihn hilflos an.

Albus seufzte. „Dieser Fluch ist der Grund dafür, dass du sie in letzter Zeit kaum wiedererkannt hast. Sie wird von einem fremden Willen kontrolliert.“

Rose sah aus, als würde ihr gleich etwas zustoßen.

Albus“, rief Victoire und rüttelte an seiner Schulter, als wolle sie ihn aus einem Traum wecken, „das… das ist doch nicht möglich!“

„Du hast doch im Tagespropheten diese Notverordnung gelesen“, erwiderte Albus traurig. „Glaubst du wirklich, Hermine, also die wirkliche Hermine, wäre zu so etwas fähig?“

Die drei Anderen schüttelten den Kopf. Albus fuhr fort:

„Am zweiten Weihnachtstag“, sagte er zu James, „während du im Fuchsbau warst, stieß unser Vater auf den Beweis. Und er versprach, diesen Fluch zu brechen.“

Er wandte sich wieder Rose zu:

Deshalb konnte ich dir versprechen, dass Alles gut werden würde. Ich wusste, dass er etwas unternehmen würde, ich wusste nur nicht, was. Ich bin ganz sicher, dass er deswegen ins Ministerium eingedrungen ist: um sie zu retten, nicht, um sie zu töten!“

„Und jetzt, wo er verhaftet wurde“, sagte Rose tonlos, „gibt es keine Rettung mehr…“

Albus zog sie an sich. „Es gibt immer Rettung!“, versuchte er sie zu trösten, doch diesmal schob sie ihn fort.

„Das hast du am Sonntag auch gesagt!“, schrie sie, „und jetzt ist alles schlimmer als vorher!“ Sie warf sich Victoire in die Arme und weinte und schluchzte in tiefster Verzweiflung.

Albus, der zusammen mit James der Szene beklommen zusah, raunte seinem Bruder zu: „Hätte ich es ihr nicht sagen sollen?“

„Dann hätte sie glauben müssen“, raunte James zurück, „ihre Mutter oder ihr Onkel seien Mörder. Verglichen damit ist es doch geradezu tröstlich zu wissen, dass Hermine das Opfer eines Fluches ist, den man vielleicht noch brechen kann.“

Rose brauchte eine ganze Weile, um sich wieder zu beruhigen, während Victoire ihr immer wieder begütigend durchs Haar strich. Schließlich löste Rose sich aus der Umarmung.

„Entschuldige bitte, Al“, sagte sie, „du kannst ja auch nichts dafür. Danke, dass du es mir gesagt hast. Aber was tun wir jetzt?“

„Eigentlich müssten wir Harry aus dem Gefängnis und Hermine von diesem Fluch befreien“, überlegte Victoire. „Hermine befreien können wir aber nicht ohne Harrys Hilfe, weil keiner von uns weiß, wie man Schwarze Magie bekämpft. Wir müssten uns also zuerst darauf konzentrieren, Harry freizubekommen. Siehst du das auch so, Rose?“

Rose nickte, aber man sah ihr an, dass sie auch dem Gegenteil zugestimmt hätte. Zu einem klaren Gedanken war sie momentan nicht fähig.

Victoire seufzte. „Das Problem ist, dass wir völlig machtlos sind. Wir sitzen hier in Hogwarts, während Hermine den ganzen Apparat des Ministeriums auf ihrer Seite hat.“

„Aber ihr seid Gryffindors, genau wie Hermine und Harry!“, rief Albus aufgeregt. „Wenn Gryffindor öffentlich erklärt, dass es die Notverordnung und ihre Anwendung missbilligt…“

Theoretisch war es eine gute Idee. Die besondere Stellung, die Hogwarts im Gefüge der magischen Gesellschaft innehatte, brachte es in der Tat mit sich, dass die Schüler eines Hauses, wenn sie sich einig waren, einen Einfluss ausüben konnten, von dem Muggelschüler nicht einmal träumen würden. Nicht umsonst behielt Hermine Hogwarts stets aufmerksam im Blick und suchte den Zugriff auf die Schule, nicht umsonst scharte Roy in kritischen Situationen stets zuerst seine Slytherins hinter sich.

James und Victoire allerdings tauschten nur wehmütig-mitleidige Blicke.

„Aussichtslos!“, befand Victoire.

„Aber wieso?“, bohrte Albus nach, der eine Idee nicht so schnell aufgab. „Du bist Vertrauensschülerin, und dein Kollege Ethelbert…“

„…wäre wahrscheinlich auch dafür“, unterbrach ihn Victoire, die verstand, worauf Albus hinauswollte. „Nur ist unsere Position in Gryffindor bei weitem nicht mit der vergleichbar, die dein Freund Roy bei den Slytherins hat. Spätestens seit auch Patricia Higrave ihn unterstützt, kommandiert MacAllister praktisch eine Armee. Die Gryffindors sind auch eine Art Armee, aber Hermines Armee, und wir, Ethelbert und ich, können froh sein, wenn diese Armee nicht einfach über uns hinwegtrampelt.“

„Ja, aber ihr habt doch auch den Frieden mit Slytherin durchgesetzt…“

„Ja“, bestätigte Victoire, „aber nur unter Ach und Krach, und seitdem sind wir praktisch täglich damit beschäftigt, fanatische Hermine-Anhänger zu beschwichtigen, die uns deshalb schon als unsichere Kantonisten verdächtigen. Das bisschen Autorität, das ich noch habe, habe ich eigentlich nur, weil ich Hermines Nichte bin.“

Albus starrte sie mit offenem Mund an.

„Du kannst es ihr ruhig glauben“, bestätigte James. „Du machst dir keinen Begriff davon, wie die Gryffindors auf Hermine eingeschworen sind! Und, mal ehrlich, bis vor drei Monaten waren Victoire und ich auch nicht anders. Uns hat erst MacAllister dazu gebracht, darüber nachzudenken, was wir da eigentlich tun. Die meisten Gryffindors aber, vor allem die, deren Meinung bei den Mitschülern zählt, würden bedenkenlos aus dem siebten Stock springen, wenn Hermine es ihnen befehlen würde.“

„Würden sie auch morden?“, fragte Albus beklommen.

James und Victoire wechselten einen schnellen Blick.

„Ich glaube schon“, meinte James.

„Puhhh…“ Das musste Albus erst einmal verdauen.

„Verstehst du jetzt“, fragte Victoire, „warum es völlig utopisch ist, von Gryffindor eine öffentliche Kritik an Hermine zu erwarten? Wir können froh sein, wenn sie sie nicht auch noch anstacheln.“

Albus nickte resigniert. „Dann hat es wohl auch keinen Sinn, ihnen von dem Fluch zu erzählen?“

„Um Gottes willen!“, antwortete James. „Sie würden behaupten, wir würden Hermine verleumden, um Papa herauszuholen.“

Sie schwiegen.

„Ich glaube nicht, dass uns heute noch irgendetwas Vernünftiges einfällt“, sagte Victoire schließlich. „Wir sollten das alles erst einmal sacken lassen und überschlafen.“

Sie verließen das Klassenzimmer, vor dem sich ihre Wege trennten, weil Albus ins Untergeschoss zu den Slytherins musste.

„Noch etwas“, sagte Victoire. „Da ich hier in Hogwarts die Clanälteste bin, bin ich jederzeit für euch da, wenn ihr mich braucht. Das gilt auch für dich, Al!“

„Trotz Slytherin?“, fragte Albus, der trotz allem ein leichtes Grinsen zustande brachte.

„Ich finde immer noch, dass du sehr gut nach Slytherin passt“, erwiderte Victoire lächelnd, „aber heute darfst du es ruhig als Kompliment auffassen.“

„Das mit der Dummbratze tut mir leid“, sagte Albus.

„Mir tut es leid, dass ich wirklich eine war, und mir tun auch die zehn Punkte leid.“

Sie umarmte ihn zum Abschied und küsste ihn auf die Wange – was Albus im Stillen besonders genoss, Victoire war siebzehn und bildschön –, dann umarmten sogar die beiden Brüder sich – eine wirkliche Seltenheit –, und schließlich hielten Albus und Rose sich minutenlang aneinander fest – während James‘ feixendes Grinsen immer breiter wurde.

Albus hatte sich schon zum Gehen gewandt, da rief Victoire noch einmal:

Albus?“

„Ja?“

„Dass du das blöde Grinsen dieses unreifen Früchtchens“ – sie deutete lächelnd auf James – „ignoriert hast, um deine Cousine zu trösten, zeigt Charakter.“

Sie zwinkerte ihm zu. „Zehn Punkte für Slytherin.“

Albus strahlte, winkte ihnen allen noch einmal zu und ging dann zügig Richtung Slytherin-Keller.

Er atmete jetzt leichter. Sein Vater war in Gefahr, aber er war noch nicht verloren, und es brach nicht alles zusammen: Die Familie hielt zusammen, und sie hielt im Zweifel zu Harry, nicht zu Hermine. Albus‘ frisch gekittete Freundschaft mit Rose war nicht zu Bruch gegangen, im Gegenteil. Seine Mutter war nicht verhaftet worden, sonst hätte der Tagesprophet es wahrscheinlich erwähnt. Die Unbestechlichen blieben anscheinend ebenfalls unbehelligt, und Roy, dem würde bestimmt etwas einfallen!

Als er sich dem Eingang zum Gemeinschaftsraum näherte, eilte ihm schon Scorpius entgegen, der offenbar auf ihn gewartet hatte, und sagte ernst:

Albus, du weißt, dass du jederzeit auf meine Unterstützung zählen kannst?“

„Natürlich weiß ich das“, lächelte Albus, „und mir bedeutet auch moralische Unterstützung viel.“

„Das ehrt dich“, meinte Scorpius schmunzelnd, „mir scheint nur, dass du es immer noch nicht begriffen hast: Wenn ich sage, ich unterstütze dich, heißt das, das Haus Malfoy unterstützt dich! Und dabei geht es um mehr als nur moralische Unterstützung. Mach dir um deinen Vater keine Sorgen, meinen Großvater haben wir aus ganz anderen Schlamasseln herausgepaukt! Ich habe meinem Vater schon eine Eule geschickt.“

„Meinst du wirklich, er wird etwas unternehmen?“, fragte Albus, und es klang, als würde er es bezweifeln.

Scorpius wirkte ein wenig gekränkt:

„Noch nie in der achthundertjährigen Geschichte des Hauses Malfoy“, erklärte er würdevoll, „ist es vorgekommen, dass wir einem Freund, der uns brauchte, unsere Hilfe verweigert haben. Und mein Vater wird nicht derjenige sein, der eine solche Unsitte einführt. Selbstverständlich wird er etwas unternehmen!“

Jetzt umarmte Albus ihn.

„Du bist wirklich ein… Pfundskerl. Aber – was könnt ihr da eigentlich tun?“, fragte er.

„Zuerst braucht dein Vater einen erstklassigen Anwalt, den können wir ihm vermitteln. Im Übrigen kennen wir viele wichtige Leute, unter anderem auch Mitglieder des Zaubergamots. Viele sind unsere Freunde. Andere schulden uns einen Gefallen, manche respektieren uns einfach und legen Wert auf unsere Meinung. Nun ja“ – er grinste – „und dann gibt es wieder andere, die nicht unsere Freunde sind, über die wir aber Dinge wissen, die die Öffentlichkeit besser nicht erfahren sollte. Und noch andere, die Geldprobleme haben…“

Er grinste noch breiter.

„Und bedenke“, fügte er hinzu, „wir sind nicht die einzigen. Alle Slytherins stehen hinter dir. MacAllister hat eine Rede gehalten, dass Allen die Spucke wegblieb. Jeder, aber auch wirklich Jeder versucht irgendetwas, um dir zu helfen. Die meisten bearbeiten ihre Familien…“

Sie waren jetzt am Eingang des Gemeinschaftsraums angekommen. Da außer Scorpius niemand da war, drückte Albus den Schlangenkopf.

„Guten Abend, Albus.“ Sogar Cassiopeias Parsel schien Albus heute wärmer und teilnahmsvoller zu klingen als sonst. Sie war eben auch eine Slytherin.

„Guten Abend, Cassiopeia.“

Der Gemeinschaftsraum war rappelvoll, Alle waren da. Manche standen erregt diskutierend herum, viele waren dabei, Briefe zu schreiben. Weiter hinten sah Albus Roy auf Patricia einreden.

Kaum war er eingetreten, kamen auch schon die ersten auf ihn zu, empfingen ihn mit erhobenem Daumen, klopften ihm auf die Schulter, umarmten ihn…

„Kopf hoch!“ – „Lass dich nicht unterkriegen!“ – „Granger wird uns kennenlernen!“

Unter solchen und ähnlichen Sprüchen wurde Albus immer tiefer in den Raum hineingeschoben. Jennifer drückte ihm ein paar Bogen Pergament in die Hand:

„Viel kann ich nicht für dich tun, aber ich habe deine Hausaufgaben erledigt, damit du ein Problem weniger hast. Arabella hat mit einem Schriftfälschungszauber nachgeholfen, damit es nach dir aussieht.“

Er stand jetzt neben Roy, der ihn aber nicht bemerkte, weil er immer noch mit Patricia sprach:

„Und du meinst, dein Großvater kann etwas unternehmen?“

„Er ist ein loyaler Beamter und wird nicht auf seine alten Tage zum Revolutionär werden, wenn du das meinst“, erwiderte sie, „aber er ist eine Graue Eminenz unter den höheren Ministerialbeamten, sein Wort hat bei seinen Kollegen Gewicht, und er hat eine unnachahmliche Art, Kritik vornehm durchblicken zu lassen, das wird Eindruck machen, gerade weil er so loyal ist, verlass dich drauf.“

Roy nickte befriedigt und sah hoch.

„Hallo Roy“, sagte Albus.

Roy nahm sich gar nicht erst die Zeit, den Gruß zu erwidern. Wie schon am Morgen fasste er Albus an beiden Schultern.

„Wir hauen ihn raus, so – oder so! Wir haben es versprochen, und wir tun es! Harry stirbt nicht unter einem Henkerbeil, wir werden es verhindern, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“

Roy gab sich Mühe, so ruhig und entschlossen zu sprechen wie immer, aber ein Beben in seiner Stimme verriet, wie aufgewühlt er war.

„Ich weiß!“, rief Albus. „Und ich weiß auch, was du jetzt schon für mich getan hast. Danke für alles!“

Er setzte sich in den nächstbesten Sessel und sah dem Treiben zu: Alle standen hinter ihm. Niemand von ihnen würde ihn im Stich lassen. Im Stillen bat er den Sprechenden Hut um Verzeihung, weil er am ersten Abend seine Weisheit angezweifelt hatte. Heute war er dankbar dafür, ein Slytherin zu sein. Wie es Rose bei den Gryffindors jetzt wohl ging? Der Gedanke versetzte ihm einen Stich.

 

***

 

Rose wurde von ihren Hauskameraden kaum weniger freundlich empfangen als Albus von den Slytherins. Das gleiche Schulterklopfen, die gleichen Umarmungen, die gleichen Versicherungen: „Wir stehen hinter dir.“

Und doch vermochte sie sich nicht so recht darüber zu freuen. James, der nach ihr den Raum betreten hatte, hielt sich hinter ihr, beinahe so, als wolle er, der einen ganzen Kopf größer war, sich hinter ihr verstecken. Rose drehte sich um, fasste nach seiner Hand und zog ihn sacht nach vorn. Das Stimmengewirr ebbte deutlich ab.

Vor ihnen stand Rupert Wilkinson, ein Fünftklässler und einer von Hermines fanatischsten Parteigängern. Er war derjenige, der sich nach Hermines Rede im September auf Roy hatte stürzen wollen und dabei mit Ethelbert zusammengestoßen war. Kein besonders begabter Schüler, kein Quidditch-As, kein Mädchenschwarm, bleich, picklig, unscheinbar und mit einer unglaublich hässlichen Brille auf der Nase, hatte er sich doch mit seiner schneidigen Unterstützung für die Ministerin zu einer Art Wortführer der Gryffindors hochgearbeitet. Er hatte gerade zu einer seiner berüchtigten Reden ansetzen wollen, stutzte nun aber, wirkte ein wenig verlegen.

„Ähm, finde ich echt gut, Potter, dass du zu ihr stehst. Zeigt doch, dass nicht alle Potters so sind wie…“

James schoss das Blut in den Kopf: „WIE WER?“, brüllte er. Schlagartig war es ruhig.

„Na ja“, wiegelte Wilkinson unentschlossen ab, „ist bestimmt auch nicht leicht für dich… also für euch“, fügte er hinzu, als nun auch Victoire sich demonstrativ zu den beiden Jüngeren stellte.

„Wie auch immer, wir haben uns überlegt, dass wir etwas für Hermine tun müssen, gerade jetzt… Also, wir haben eine Resolution aufgesetzt.“

Da Victoire, James und Rose nur beunruhigte Blicke wechselten, ohne zu antworten, räusperte er sich, entrollte ein Blatt Pergament und las etwas leiernd vor:

„Wir, die Schüler des Hauses Gryffindor, erklären und bekräftigen anlässlich des abscheulichen heutigen Attentats erneut unsere uneingeschränkte Solidarität mit Zaubereiministerin Hermine Granger-Weasley. Wir unterstützen sie nachdrücklich in ihrem Kampf gegen das Todessertum und für eine offene und tolerante magische Welt, deren Feinde heute bewiesen haben, dass sie vor nichts zurückschrecken, um ihre menschenverachtenden Ziele durchzusetzen…“

Ethelbert trat zu James, der aussah, als würde er sich gleich auf Wilkinson stürzen, umfasste seinen Arm und raunte ihm zu: „Beruhig dich, es hat doch keinen Sinn…“

Wilkinson fuhr fort:

„Wir begrüßen und unterstützen insbesondere die energischen Maßnahmen, die die Ministerin mit ihrer heutigen Notverordnung zum Schutze des Magischen Staates ergriffen hat. Wir möchten sie auf diesem Wege ermutigen, der Schlange des Todessertums entschlossen den Kopf zu zertreten. Dieses Krebsgeschwür gilt es auszurotten, kurzen Prozess zu machen und schonungslos alle Feinde der offenen und toleranten magischen Welt dem Henker zu überantworten, ohne Ansehen der Person. Wir, die Schüler des Hauses Gryffindor, distanzieren uns mit Nachdruck insbesondere von dem ehemaligen Gryffindor-Schüler Harry Potter. Wir lehnen es ab, ihn noch länger als einen der Unseren zu betrachten und geben unserer Zuversicht Ausdruck, dass die Justiz des Magischen Staates unnachsichtig mit ihm, seinen Helfershelfern und Gesinnungsgenossen abrechnen wird!“

Die meisten seiner Mitschüler klatschten Beifall, wenn auch viele eher verhalten. Offenbar wollte niemand verdächtigt werden, es an Entschlossenheit im Kampf gegen das Todessertum fehlen zu lassen. Victoire, James und Rose starrten Wilkinson an. Als erste fand Victoire ihre Sprache wieder:

„Das wollt ihr doch nicht ernsthaft veröffentlichen, oder?“, fragte sie entgeistert.

Wilkinson schaute aufrichtig verwundert drein:

„Äh, doch, natürlich… Es haben auch schon Alle unterschrieben…“

„Alle?“, unterbrach ihn Victoire.

Wilkinson warf Ethelbert einen verächtlichen Blick zu: „Alle. Mit Ausnahme unseres sogenannten Vertrauensschülers natürlich“, fügte er gedehnt und naserümpfend hinzu. „Jetzt fehlen nur noch eure Unterschriften, dann ist es noch rechtzeitig für die morgige Ausgabe beim Tagespropheten.“

Jetzt hielt James sich nicht länger zurück. Er riss sich von Ethelbert los und schrie Wilkinson an: „Todesser willst du bekämpfen? Bestens! Fangen wir doch gleich mit dir an, du Schwein!“

Und noch bevor irgendjemand reagieren konnte, schlug er Wilkinson die Faust ins Gesicht, dass das Blut aus dessen Nase meterweit durch den Raum spritzte. Nun stürzten sich ein Dutzend Andere auf James und prügelten auf ihn ein, während Ethelbert und Victoire ihre Zauberstäbe zogen, einige Angreifer mit Petrificus– und Schwebezaubern außer Gefecht setzten und es schließlich schafften, James – mit einem geschwollenen Auge und blutigem Gesicht – aus dem Gewühl zu ziehen. Da einige Schüler der Gegenseite nun ihrerseits ihre Stäbe zückten, schützten die beiden Vertrauensschüler sich, James und Rose mit einem Schildzauber.

In der Stille, die angesichts dieses Patts nun eintrat, war nur das Keuchen der Beteiligten zu hören.

„Das bringt doch nichts“, rief schließlich ein Sechstklässler – einer von denen, die der Resolution nur verhalten applaudiert hatten –, „wenn wir uns hier gegenseitig verprügeln! Steckt die Zauberstäbe weg und nehmt Vernunft an. Ihr zuerst“, sagte er zu Wilkinson und seinen Kumpeln, die zögernd gehorchten, nachdem sie Wilkinsons Nase repariert hatten. Victoire zauberte noch kurz James‘ Schrammen heil, dann steckte auch sie den Stab ein, ebenso Ethelbert und James.

Wilkinson hob das Pergament, das im Handgemenge zu Boden gefallen war, auf und war sofort wieder in seinem Element.

„Schön, dann unterschreibt Potter eben nicht“, rief er leicht beleidigt. „Jetzt wissen wir wenigstens, was wir von deiner Unterstützung für Hermine zu halten haben. Ja, ja, wenn’s die eigene Sippschaft trifft… Weasley, was ist mit dir?“ Er meinte Victoire.

„Eure famose Resolution“, antwortete sie aufgebracht, „könnt ihr euch… Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich einen solchen blutrünstigen Irrsinn unterschreibe?“

Wilkinson schüttelte indigniert den Kopf. Jetzt wandte er sich an Rose und hielt ihr sein Machwerk mitsamt einer Feder unter die Nase. „Du unterschreibst! Den Mörder deiner Mutter kannst du nicht ungeschoren davonkommen lassen!“

Rose wich ängstlich zurück, aber er drängte nach, bis Victoire sich dazwischenschob: „Lass das Kind in Ruhe!“

„Halt dich da raus, Weasley!“, schrien Wilkinsons Kumpane dazwischen. Einige von ihnen stürzten sich auf sie und schleiften sie mit Gewalt weg, während andere James und Ethelbert festhielten und niemand sonst einzugreifen wagte.

Wilkinson drückte die zierliche Rose gegen die Wand.

„Du wirst unterscheiben!“, knurrte er.

 

***

Scorpius, Jennifer, Lance und sogar einige Mädchen und Jungs aus der vierten und fünften Klasse, die Albus nur vom Sehen kannte, setzten sich jetzt zu ihm. Patricia nahm direkt auf der Armlehne seines Sessels Platz und strich ihm durchs strubbelige Haar. Albus lächelte zu ihr hoch. An so etwas konnte man sich entschieden gewöhnen.

„Roy“, hörte er Bernie rufen, „soll ich auch meinen Vater anschreiben? Er ist zwar kein Zauberer, aber…“

„…Grangers wichtigster Partner in der Muggelwelt!“, fiel Roy ihm mit bebender Stimme ins Wort. „Eine hervorragende Idee! Schreib ihm unbedingt! Er hat bestimmt Einfluss auf sie! Sie will uns doch für die Muggelwelt öffnen, da muss sie berücksichtigen, wie mordende Diktatoren und Henker mit blutigen Äxten bei den Muggeln ankommen! Achte darauf, Muggelsprache zu schreiben: Schreib, dass Granger mit Nazigesetzen arbeitet…“

„Roy!“, übertönte ihn Bernie. „Seit ich denken kann, gibt es bei uns zu Hause Politik schon zum Frühstück, ich weiß schon, wie man so etwas schreiben muss, verlass dich auf mich!“

Roy nickte. Er merkte nicht, dass er schnaufte, seine Fäuste unablässig geballt waren, seine Lippen zitterten und die Tränen der Wut, obwohl er sie zurückhielt, seine Augen gerötet hatten. Aber Arabella merkte es.

„Komm mit!“, sagte sie und griff nach seiner Hand.

„Ich kann jetzt nicht, ich muss noch…“

„Du – kommst – jetzt – mit!“, zischte sie mit einer Strenge, die einer McGonagall würdig gewesen wäre, und zog ihn hinter sich her.

„Aber Al braucht mich jetzt!“

„Er braucht dich nicht! Schau ihn dir an!“

In der Tat saß Albus inmitten alter und neuer Freunde, ließ sich nach wie vor von Patricia kraulen und sah etwas angegriffen, aber alles andere als unglücklich aus. Der Zuspruch tat ihm sichtlich gut.

„Du hast die Slytherins in die Spur gestellt“, sagte Arabella. „Du hast – umsichtig wie immer – alles veranlasst, was möglich war. Du hast für Albus getan, was du konntest. Jetzt kannst du ihn getrost sich selbst und seinen anderen Freunden überlassen!“

Sie zog ihn wieder hinter sich her.

„Ja, aber die Anderen brauchen…“

„Brauchen, brauchen, brauchen!“, unterbrach sie ihn. „Du meinst, du musst die Stellung halten, weil Albus dich braucht und Harry dich braucht und Slytherin dich braucht und die magische Welt dich braucht…“

Sie stieß die Tür zum Gang auf und zog ihren Freund hinaus.

„Das stimmt ja auch irgendwo“, fuhr sie fort und schlug den Weg zum Geheimraum ein. „Aber sie brauchen dich nicht rund um die Uhr! Du musst endlich lernen, dir zu nehmen, was du brauchst!“

„Und was brauche ich?“

„Mich“, antwortete sie knapp. „Wirklich, ich bewundere dich, du willst immer stark sein, und du bist es ja auch. Aber die letzten Wochen waren sogar für dich zu viel, und Harrys Verhaftung gibt dir gerade den Rest. Du kennst immer nur eins: Zähne zusammenbeißen, Haltung zeigen, stark sein. Aber kein Mensch kann immer nur stark sein, auch du nicht! Wenn du nie Kraft nachtankst, brichst du über kurz oder lang zusammen, und an diesem Punkt bist du jetzt. Du wirst jetzt auftanken, und deine Tankstelle bin ich. Auf die Dauer kannst du nämlich nur stark sein, wenn du auch einmal loslässt und dir selbst erlaubst, schwach zu sein. Deswegen gehen wir jetzt dorthin, wo du das sein kannst und es außer mir keiner sieht!“

Sie erreichten den Geheimraum. Arabella öffnete ihn.

„Es ist fast neun Uhr“, sagte Roy, „und wir haben die Rumtreiberkarte nicht. Wenn wir zurückkehren, riskieren wir erwischt zu werden.“

„Wir kehren nicht zurück, mein Bärchen“, entschied Arabella und lächelte. „Wir verbringen hier die ganze Nacht.“

43 – Der Anwalt

 

Ginny starrte auf den Tagespropheten, als hoffte sie, sein Inhalt würde sich durch ihre bloße Willenskraft vor ihren Augen ändern. Die Schlagzeile aber schrie unerbittlich: TODESSTRAFE!

Dass sie Harry verhaftet hatten, wusste sie schon, seit am späten Vormittag ein Dutzend Auroren in ihr Haus eingedrungen waren und es durchsucht hatten. Die meisten dieser Auroren, ehemalige Kollegen ihres Mannes, kannte sie. Sie waren sehr höflich, die ganze Aktion war ihnen sichtlich peinlich, sie beantworteten Ginny allerdings keine Fragen, sondern verwiesen auf die offizielle Mitteilung des Ministeriums, die bald eintreffen werde. Nachdem sie mit professioneller Routine das Haus durchsucht hatten, halfen sie Ginny sogar bei ihren Aufräumzaubern – ein Service, den Auroren normalerweise ebensowenig leisten wie die Muggel-Kripo. Pro forma stellten sie Ginny, die sie offenbar für unverdächtig hielten, noch ein paar Fragen und zogen dann ab. Die Aktion hatte ungefähr zwei Stunden gedauert.

Am Nachmittag traf dann die Eule des Ministeriums mit der offiziellen Mitteilung ein:

 

Sehr geehrte Mrs. Potter,

wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Ehemann Harry James Potter am heutigen Vormittag verhaftet wurde, da er einer Reihe schwerwiegender staatsgefährdender Straftaten dringend verdächtig ist.

Bis zum Abschluss der Ermittlungen, die das Amt für Magische Sicherheit zuständigkeitshalber aufgenommen hat, dürfen Ihnen weitere Auskünfte nicht erteilt werden.

Über den Beschuldigten ist bis auf Weiteres eine Kontaktsperre verhängt worden. Daher dürfen weder Sie noch ein eventuell beauftragter Anwalt ihn sehen oder sprechen.

Aus Sicherheitsgründen wird der Beschuldigte noch heute nach Askaban überstellt.

Es ist Ihnen bis auf Weiteres untersagt, London zu verlassen. Ferner ist es Ihnen untersagt, ohne ausdrückliche Genehmigung das Ministerium zu betreten. Sie sind aber verpflichtet, sich für eine etwaige Befragung zu unserer Verfügung zu halten.

In der Hoffnung, dass Sie ungeachtet dieser misslichen Umstände wohlauf sind, verbleibe ich mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung

Cesar Anderson

Amt für Magische Sicherheit

 

Das alles war schlimm genug gewesen, aber erst die Schlagzeile des Tagespropheten machte ihr klar, dass es für Harry nicht um Gefängnis oder Freiheit, sondern um Leben und Tod ging. Hermine wollte ihn wirklich umbringen!

Langsam gewann Ginny ihre Fassung wieder. Jetzt war nicht die Zeit, in Tränen auszubrechen! Ihre Kinder brauchten sie. Ihr Mann brauchte sie.

Sie hatte Lily für heute vorsorglich zu ihren Großeltern geschickt, um an diesem entscheidenden Tag in jedem Fall frei agieren zu können. Lily würde am leichtesten abzuschirmen sein, sie ging auf eine Muggel-Grundschule, wo ihre Mitschüler nicht wussten, was in der magischen Welt vor sich ging. Falls sie, Ginny, ebenfalls verhaftet würde, würden Arthur und Molly sich um Lily kümmern.

Sie musste ihren Söhnen nach Hogwarts schreiben. Sie musste Harry einen Anwalt besorgen…

Gerade, als sie darüber nachdachte, klingelte es an der Tür. Sie zuckte zusammen. Bestimmt Andersons Sicherheitsleute! Sie spähte durch einen Vorhang, sah aber nur einen einzelnen, sehr elegant gekleideten Zauberer, der ihr irgendwie bekannt vorkam und entschieden nicht so aussah, wie Ginny sich einen Geheimauror vorstellte.

Sie öffnete die Tür. Der Zauberer machte eine knappe Verbeugung und stellte sich vor:

„Honorius Greengrass, ich bin Anwalt.“

Er hätte seinen Beruf nicht zu nennen brauchen, denn seinen Namen kannte jedes Kind. Greengrass war der Staranwalt schlechthin und vertrat nur Mandanten der allerbesten Gesellschaft, die seine astronomischen Honorare bezahlen konnten, dies aber gern taten, weil er praktisch jeden Prozess gewann. Er war ein Cousin von Astoria Malfoy, stammte aber aus einem Zweig der Familie Greengrass, der noch vor fünfundzwanzig Jahren, als er mit geborgtem Geld seine Kanzlei eröffnete, völlig verarmt gewesen war, nun aber dank Honorius wieder zu den Wohlhabenden im Lande zählte, wenn auch noch nicht zu den ganz Reichen.

„Wie komme ich zu der Ehre, Mister Greengrass?“, fragte Ginny nicht ohne Verwunderung.

Draco Malfoy hat mich gebeten, sofern Sie dies wünschen, die Verteidigung Ihres Mannes zu übernehmen, und auch Ihre, falls es erforderlich sein sollte. Er übermittelt Ihnen seine herzlichsten Grüße.“

„Danke“, meinte Ginny etwas verwirrt, „ich wusste gar nicht, dass wir so dicke Freunde sind.“

„Die Söhne Ihrer beiden Häuser sind es, und das genügt.“

„Das ist wirklich sehr nett, und ich danke Ihnen vielmals für Ihr Angebot, aber ich fürchte, Mister Greengrass, Ihr Honorar übersteigt bei Weitem unsere finanziellen Möglichkeiten.“

„Machen Sie sich darüber bitte keine Gedanken. Ich werde Ihnen kein höheres Honorar berechnen, als Sie bei jedem anderen Anwalt auch bezahlen müssten.“

Er verzichtete darauf zu erwähnen, dass die Malfoys die stattliche Differenz übernehmen würden und ihm für den Erfolgsfall sogar einen fetten Bonus zugesichert hatten.

Jetzt lächelte Ginny. „Ihr Erscheinen ist die erste angenehme Überraschung heute. Treten Sie doch bitte ein.“

Sie führte ihn ins Wohnzimmer und zeigte ihm zunächst den Brief des Amasi-Chefs. Greengrass runzelte die Stirn.

„Kontaktsperre“, sagte er, „nun, das war zu befürchten. Das Amt für Magische Sicherheit hat eine Reihe von Sondervollmachten, zu denen auch die Befugnis gehört, einen Verdächtigen unter Berufung auf laufende Ermittlungen auch ohne anwaltlichen Beistand auf unbestimmte Zeit festzuhalten. Erst wenn das Amt entscheidet, dass die Ermittlungen abgeschlossen sind, und die Sache an die reguläre Abteilung für Magische Strafverfolgung abgibt, tritt ihr Mann sozusagen wieder in die Sphäre der normalen Rechtspflege ein. Erst dann kann ich als sein Anwalt Akteneinsicht verlangen und mit ihm sprechen.“

„Was sind das denn für Gesetze?“, empörte sich Ginny. „Davon habe ich noch nie gehört!“

„Diese Regelung gilt auch erst seit Beginn des Jahres.“

„Und bis dahin können Sie nichts tun?“, fragte Ginny entgeistert.

„O doch, ich kann Gespräch und Akteneinsicht immerhin beantragen, außerdem kann ich auf Beschleunigung drängen. Und schließlich“, er räusperte sich, „will die Zaubereiministerin offenbar einen Prozess gegen Ihren Mann führen. Die Amasi-Ermittlungen können sich also nicht ewig hinziehen.“

„Da mein Mann zugeben wird, was er ohnehin nicht abstreiten kann, werden diese Ermittlungen wohl ziemlich kurz sein.“

In der Tat hatten sie dies für den Fall seiner Verhaftung vereinbart. Harry hatte sogar in einem abgelegenen Gebiet im Waliser Bergland eine Höhle als Scheinversteck für Hermine eingerichtet, um die Auroren gar nicht erst auf die Idee zu bringen, in Hogwarts zu ermitteln, und dadurch Albus und die Unbestechlichen zu schützen.

„Ich fürchte, mit einem sehr schnellen Beginn der offiziellen Prozessvorbereitungen können wir trotzdem nicht rechnen“, meinte Greengrass. „Nach meiner Einschätzung wird die Zaubereiministerin den Prozess durch eine intensive Pressekampagne vorbereiten, die ihre Zeit braucht, zwei bis drei Wochen, schätze ich, allerdings kaum länger, da die Öffentlichkeit sonst abzustumpfen droht. Ich fürchte auch, dass man versuchen wird, Ihren Mann seelisch… äh, wie soll ich sagen…“

„… zu brechen? Das haben schon ganz Andere versucht!“, entgegnete Ginny verächtlich.

Greengrass lächelte.

„In der Zwischenzeit“, sagte er, „muss ich mich vorbereiten. Ich bitte Sie also, mir alles zu sagen, was Sie wissen. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass die anwaltliche Schweigepflicht absolut ist. Anders als in manchen Muggelstaaten darf und muss ich als Anwalt einen Mandanten vor Gericht gegebenenfalls auch wider besseres Wissen, das heißt, selbst falls ich positiv wissen sollte, dass er schuldig ist, für unschuldig erklären.“

Ginny erzählte dem Anwalt nun alles über den Fluch und über Harrys Vorhaben und ließ nur die Beteiligung der Unbestechlichen weg, die, wie sie fand, nichts zur Sache tat. Greengrass hörte aufmerksam zu.

„Nun“, meinte er schließlich, „damit zeichnen sich immerhin die Konturen möglicher Prozessstrategien ab: Am einfachsten wäre es natürlich, sich darauf zu berufen, er habe unter dem Imperiusfluch gestanden…“

„Das scheitert bei Harry daran, dass er schon als Schüler den Imperiusfluch abzuschütteln wusste und Hermine das besser als irgendjemand sonst weiß“, wandte Ginny ein. „Außerdem hat er das Aurorenprogramm zur Imperius-Immunisierung durchlaufen. Und schließlich: Wer soll ihn denn verflucht haben?“

„Ja, das sind sehr berechtigte Einwände, ich wollte den Punkt auch nur der Vollständigkeit halber erwähnt haben. Die zweite denkbare Strategie wäre, einfach die Wahrheit zu sagen. Wenn man beweisen könnte, dass die Ministerin unter einem Fluch steht, so könnte Ihr Mann sich auf einen übergesetzlichen Notstand berufen, aber Ihr einziger Beweis ist diese rückwärtslaufende Tonaufzeichnung, und dieser Beweis ist alles Andere als zwingend. Außerdem könnte der Richter verbieten, ihn in den Prozess überhaupt einzuführen…“

„Warum sollte er das tun?“

„Weil, wie ich fürchte, dieser Richter niemand Anderes sein wird als die Zaubereiministerin selbst.“

„Aber… das geht doch nicht!“, rief Ginny. „Hermine kann doch nicht als Opfer, Zeugin, Anklägerin und Richterin in einer Person auftreten.“

„O doch, das kann sie, und angesichts der Bedeutung, die sie diesem Prozess zweifellos beimisst, bin ich fast sicher, dass sie es auch tun wird.“ Er überlegte einen Moment. „Sehen Sie, im Magischen Staat ist die Stellung des Zaubereiministers nahezu allmächtig. Gegen den Missbrauch dieser Macht schützt uns traditionell die Tatsache, dass es sich um ein sehr kleines Gemeinwesen handelt. Die Stellung des Ministers beruht letztlich auf dem Konsens einer relativ kleinen Führungsschicht, aus der er sich nicht ausgrenzen möchte. Da werden institutionelle Sicherungen nicht als so wichtig betrachtet wie in großen Muggelstaaten. Zerbricht dieser Konsens aber, wie in den Zauberer-Bürgerkriegen, dann wird Machtmissbrauch ihm erst recht nachgesehen, weil er als Staatsnotwehr gerechtfertigt werden kann.“

„Und genau deshalb“, sagte Ginny nachdenklich, „versucht Hermine eine Bürgerkriegssituation zu fingieren und erklärt jeden Gegner zum Todesser, dem man den Krieg erklären müsse.“

Der Anwalt nickte. „Sie sagen es. Und die Tat Ihres Mannes, so legitim sie ist, gibt ihr den idealen Vorwand.“

„Aber diese Notverordnung!“, rief Ginny. „Sie kann doch nicht nachträglich die Strafen verschärfen!“

„Sicher“, antwortete Greengrass, „dies ist ein schwerer Verstoß gegen den klassischen Grundsatz Nulla poena sine lege: keine Strafe ohne ein Gesetz, das schon zum Tatzeitpunkt galt.“

„Na also, dann muss und wird der Zaubergamot die Anwendung ablehnen!“

Der Anwalt räusperte sich. „Sicherlich werde ich diesen Gesichtspunkt im Prozess geltend machen. Versprechen Sie sich aber bitte nicht zu viel davon: Wie Sie schon am lateinischen Wortlaut erkennen, handelt es sich um einen Grundsatz des römischen Rechts. Das magische Recht ist aber eine Fortentwicklung des alt-angelsächsischen Rechts, in dem dieses Prinzip nicht ohne Weiteres gilt. Ich fürchte, es gibt eine Reihe von Präzedenzfällen für die rückwirkende Geltung von Strafgesetzen…“

Ginny stöhnte.

„Im Übrigen“, fuhr der Anwalt unbeirrbar fort, „hat der Zaubergamot nur über die Schuld oder Unschuld Ihres Mannes zu befinden, nicht über das anzuwendende Recht und auch nicht über das Strafmaß. Das obliegt allein dem Richter…“

„… also wieder Hermine! Wie um alles in der Welt wollen Sie unter solchen Voraussetzungen einen Prozess gewinnen?“, fragte sie, und bei aller Beherrschung schwang ein Anflug von Panik in ihrer Stimme.

„Der Schlüssel liegt im Zaubergamot“, entgegnete Greengrass, „als der Instanz, die von der Ministerin unabhängig ist. Spricht er Ihren Mann schuldig, so ist davon auszugehen, dass die Richterin ihn zum Tode verurteilt. Eine defensive Prozessstrategie, die auf eine milde Strafe abzielt, wäre zum Scheitern verurteilt. Es gibt nur Sieg oder Tod, nichts dazwischen. Wir müssen es auf einen glatten Freispruch anlegen!“

„Und Sie meinen, Sie schaffen das?“

„Ich kann selbstverständlich nichts versprechen und muss auch abwarten, welche Beweise die Magische Strafverfolgung vorlegt. Nach allem, was Sie mir erzählt haben und was ich dem Tagespropheten entnehme, wird die Anklage den Vorwurf des versuchten Mordes, sofern sie ihn überhaupt aufrechterhält und er nicht nur aus propagandistischen Gründen erhoben wurde, nicht beweisen können. Der zentrale Vorwurf, an dem auch die voraussichtlichen Neben-Anklagepunkte, Körperverletzung und dergleichen, hängen, ist der des Hochverrats…“

„… und der wird schwer zu entkräften sein“, ergänzte Ginny resigniert.

„Technisch hat Ihr Mann diesen Tatbestand unwiderlegbar erfüllt, denn er hat die Zaubereiministerin im Amt angegriffen und außer Gefecht gesetzt, und dies mit dem Ziel, sie an der Ausübung ihres Amtes zu hindern und sich zumindest zeitweise an ihre Stelle zu setzen. Allerdings“ – Greengrass machte eine Kunstpause und erhob den Zeigefinger – „kann ein solches Vorgehen durchaus legal sein – und auch dafür gibt es Präzedenzfälle –, wenn es sich gegen einen Machthaber richtet, der seinerseits ein Hochverräter ist und deshalb gestürzt werden darf und sogar muss. Dies scheint mir auf die gegenwärtige Ministerin zuzutreffen.“

„Aber Hermine wird die entsprechenden Beweise kaum im Prozess zulassen“, wandte Ginny ein.

„Darauf bin ich auch nicht unbedingt angewiesen“, beruhigte Greengrass sie. „Ihre Meinungsgesetze, die Gründung einer Geheimpolizei, der Rückruf der Dementoren, schließlich die jüngste Notverordnung sind zum Großteil bekannt und ergeben in der Zusammenschau den Versuch, die hergebrachte innere Ordnung des Magischen Staates zu Gunsten einer Diktatur umzustürzen. Hinzu kommt noch ihre Politik der ‚Öffnung gegenüber der nichtmagischen Welt‘, die die Integrität des Magischen Staates schlechthin untergräbt. Selbst wenn sie mich daran hindert, es in der Beweisaufnahme vorzutragen: Mein Plädoyer kann nicht einmal die Ministerin mir verbieten, und ich bin zuversichtlich, dass es seinen Eindruck auf die Mitglieder des Gamots nicht verfehlen wird, zumal, wenn man auf diese Mitglieder im Vorfeld einen gewissen… Einfluss ausübt.“ Er lächelte.

„Einfluss?“, fragte Ginny etwas verwirrt.

„Ich kenne sie alle, und ich kenne ihre Schwächen“, antwortete der Anwalt selbstgefällig.

Ginny fand zwar, dass dies alles penetrant nach Korruption roch, zumindest aber nach genau den Methoden, über die Harry und sie sich immer aufgeregt hatten, aber was blieb ihr übrig?

„Das heißt also“, fasste sie zusammen, „Sie wollen einen politischen Prozess führen. Wenn der Gamot Harry freispricht, hat er Hermine automatisch schuldig gesprochen, und dann kommt nicht nur mein Mann frei, sondern die Zaubereiministerin stürzt.“

„So ist es“, bestätigte Greengrass.

44 – Ron wird eingeweiht

 

Um neun Uhr – der Anwalt hatte sich gegen acht verabschiedet – saß Ginny über dem Brief an ihre Söhne, als sie jemanden vor dem Haus apparieren hörte und es an der Tür klingelte. Es war Ron, kreidebleich. Die Geschwister fielen sich in die Arme.

Ginny, ich kann nichts dafür“, schluchzte Ron, „ich habe alles versucht. Als sie nach Hause kam, habe ich sie sofort zur Rede gestellt, aber sie ist völlig verbohrt…“

„Ich weiß“, meinte Ginny, „komm erst einmal herein.“

„Ich habe einen Entschluss gefasst“, sagte Ron, als er auf Ginnys Sofa saß. „Ich weiß noch nicht, ob ich mich scheiden lasse, aber in jedem Fall werde ich mich von Hermine trennen.“

„Das wirst du nicht tun!“, entgegnete seine Schwester streng. „Du wirst bei ihr bleiben, koste es, was es wolle, und du wirst sogar besonders lieb zu ihr sein. Sie braucht dich jetzt mehr als je zuvor.“

Ron starrte Ginny an, als sei sie nicht ganz bei Trost.

„Du machst dir Gedanken darüber, was Hermine braucht? Hast du jetzt keine anderen Sorgen?“

„Doch“, antwortete Ginny, „aber die Sorge um Hermine war der Grund, aus dem Harry sich überhaupt in diese Situation gebracht hat. Er hat versucht, dich herauszuhalten, aber beim jetzigen Stand solltest du einige Dinge wissen.“

Sie erzählte ihm von dem Fluch, von Odysseus und der Tonaufzeichnung. Ron hörte mit offenem Mund zu.

„Verstehst du jetzt, warum du bei ihr bleiben musst?“, schloss sie ihre Erzählung. „Das, was dir als ‚Hermine‘ gegenübertritt, ist nicht Hermine, höchstens ein blasses Abbild. Ihre wirkliche Seele, ihr wahres Ich, ist in ihr selbst eingemauert und todkrank, spürt aber die Anwesenheit der Menschen, die sie lieben. Wahrscheinlich lebt sie überhaupt nur noch von dieser Liebe. Und weil der, der sie kontrolliert, das weiß, versucht er dich aus ihrem Leben hinauszugraulen, genau wie er Harry, Albus und mich daraus vertrieben hat.“

„Mein Gott“, sagte Ron, „jetzt geht mir ein ganzer Kronleuchter auf! Das erklärt alles, ihre diktatorische Politik, Harrys Entlassung, ihre Streitsucht zu Hause… Aber verdammt nochmal, warum hat Harry mir denn nichts gesagt? Ich hätte sie doch viel leichter entführen können als er!“

„Hättest du es auch getan? Ich meine vor dem heutigen Tag?“, fragte Ginny. „Und selbst wenn: Hätte Harry es wissen können? Sagen wir es deutlich: Was Harry vorhatte, war ein Staatsstreich, der Hermines Karriere beendet hätte, die sie sich in jahrelanger Arbeit aufgebaut hat. Hätte er wirklich darauf bauen sollen, dass du dafür die Verantwortung übernimmst? In jedem Fall hätte er dich in einen Konflikt gestürzt, den er dir ersparen wollte.“

„Das ist ja ganz toll von ihm, aber ich hätte lieber diesen Konflikt ausgestanden, als meinen besten Freund an den Henker zu verlieren.“

„So schnell verlieren wir ihn nicht.“ Das Gespräch mit Greengrass hatte Ginny zuversichtlich gestimmt. Jetzt konnte sie auch Ron in die Strategie einweihen. Es tat ihr gut, nach dem monatelangen Zerwürfnis endlich wieder vertraut mit ihrem Bruder sprechen zu können.

Ron überlegte. „Habt ihr das Versteck noch?“

„Ja“, entgegnete sie verwundert.

„Ist es weit von hier?“

„Es ist die ehemalige Kammer des Schreckens, wenn du es genau wissen willst. Wir haben sie für Hermine zur Luxus-Suite umgebaut. Warum möchtest du das wissen?“

„Nun ja, wer hindert mich daran, sie selbst zu entführen?“

Ginny lächelte. „Niemand. Nur hätte das im Moment nicht viel Sinn, denn was willst du erreichen? Sie als Geisel nehmen, um Harry freizupressen? Selbst wenn es dir gelingen sollte, was alles andere als sicher ist, wäre Harry den Rest seines Lebens auf der Flucht. Oder den ursprünglichen Plan verfolgen und jemand Anderen an ihre Stelle setzen? Wer soll das sein? Ich könnte die private Hermine imitieren, habe aber keine Ahnung von den Abläufen im Ministerium. Sogar Harry muss irgendeinen Fehler gemacht haben. Es käme allenfalls als letztes Mittel in Frage, um Hermine am Urteilsspruch zu hindern, falls der Gamot Harry schuldig spräche, aber ich glaube nicht, dass dann noch Zeit bliebe.“

Ron grübelte.

„Und das Problem, dass Hermine unter einem Fluch steht“, fuhr Ginny fort, „hättest du damit immer noch nicht gelöst, weil du kein Mittel hast, den Fluch zu brechen.“

„Ich werde trotzdem noch einmal darüber nachdenken“, erwiderte Ron. „Es muss irgendeine Lösung geben.“

„Tu das“, meinte seine Schwester. „Aber solange uns nichts wirklich Brillantes einfällt, konzentrierst du dich darauf, Hermines Seele zu streicheln, um sie am Leben zu erhalten. Versprochen?“

Ron konnte nicht mehr antworten, denn in diesem Moment wurde der Raum von blendendem silberfarbenem Licht erfüllt, das von einer großen Kobra ausging.

„Lass dich nicht unterkriegen“, sagte die Schlange. „Dein Mann wird den Dementoren trotzen, das hat er gelernt. Deinen Söhnen geht es gut, sie sind stolz auf dich und ihren Vater. Der Bär hat die Schlangen ausgeschickt. Entspann dich und geh morgen Abend in den Zoo.“

Die Schlange verschwand.

Ron starrte auf die Stelle, an der eben noch die Schlange gewesen war.

„Ein Patronus“, stammelte er und sah nicht besonders schlau aus.

„Klug erkannt“, strahlte Ginny ihn an.

„Ja, aber wessen Patronus? Ich meine, wer zur Hölle hat eine Schlange…“

Er unterbrach sich, weil er merkte, dass seine Schwester sich über ihn amüsierte.

„Eine Schlange, ja, ich kann mir schon denken, dass es ein Slytherin ist…“

Ginny nickte, und der glühende Stolz in ihrem Gesicht brachte Ron schließlich auf die richtige Spur:

Albus?“, fragte er fassungslos. Und da sie wieder nickte: „Al kann einen gestaltlichen Patronus erzeugen? Mit elf?“

„Sein Vater hat es ihm beigebracht.“

Harry? Wann und wo hat er das denn gemacht?“

„Vor zwei Monaten in Hogwarts. Und weil das außer ihm und den Unbestechlichen niemand weiß, hat Albus seine Botschaft so formuliert, dass für einen Außenstehenden nicht ohne Weiteres klar ist, dass der Patronus von ihm kommt. Er konnte ja nicht wissen, wer möglicherweise anwesend ist und mithört. Deshalb auch die verschlüsselte Sprache.“

„Was soll denn das heißen“, fragte Ron ratlos, „der Bär hat die Schlangen ausgeschickt?“

„Der Bär ist Roy MacAllister, die Schlangen sind die Slytherins. Sie werden uns in irgendeiner Weise helfen, ich weiß allerdings noch nicht, wie. Um das zu erfahren, gehe ich morgen Abend in den Zoo.“

„In den Zoo?“, fragte Ron verwirrt.

„Zu den Unbestechlichen.“

„Die ‚Unbestechlichen‘ – das sind doch die…“

„… die deine Tochter freundlicherweise die ‚führenden Todesser des Hauses Slytherin‘ nennt. Albus ist einer von ihnen, er ist stolz darauf, und wir sind es auch.“

„Merkwürdige Freunde, die ihr da habt…“

„Nicht so merkwürdig wie deine Ehefrau.“

 

Sein Versprechen, unbedingt an Hermines Seite zu bleiben, konnte Ron nicht erfüllen. Als er spät in der Nacht nach Hause zurückkehrte, fand er einen kurzen Brief seiner Frau vor. Sie hatte ihre Sachen gepackt und war ins Gästehaus des Ministeriums gezogen. Ihren Sohn Hugo ließ sie zurück.

45 – Alles oder nichts

 

Draco hatte sich den Vormittag freigenommen und saß mit seiner Frau Astoria und seinen Eltern Lucius und Narzissa beim Frühstück. Es war seit Menschengedenken üblich, dass die Männer der Familie bei dieser Gelegenheit über Politik und Geschäfte sprachen. Die Frauen blieben so stets auf dem Laufenden, um notfalls übernehmen zu können, falls ihre Männer verhaftet wurden – was schon gelegentlich vorgekommen war –, beteiligten sich aber nur selten an diesen Gesprächen. Heute konnte es nur ein Thema geben:

Scorpius hat mir gestern eine Eule geschickt“, sagte Draco. „Er bittet mich, dem kleinen Potter zu helfen, indem wir seinem Vater helfen.“

„Gut“, erwiderte Lucius. „Hast du schon etwas unternommen?“

„Ich habe die Eule gar nicht erst abgewartet. Als ich gestern hörte, dass Potter verhaftet wurde, habe ich Honorius zu seiner Frau geschickt. Er wird die Verteidigung übernehmen. Die Rechnung geht an uns.“

„Kein Thema“, meinte Lucius.

Dass Draco ein Honorar zugesagt hatte, das das Jahresgehalt der Zaubereiministerin überstieg, war in der Tat nichts, was an diesem Tisch irgendjemanden interessiert hätte.

„Unsere Pflicht haben wir damit getan“, fügte Lucius hinzu, „und zwar ohne Risiko. Gewinnt Potter, ist er uns zu Dank verpflichtet. Gewinnt das Schlammblut, kann uns niemand einen Strick daraus drehen, dass wir jemandem einen Anwalt vermittelt haben.“

„Gewinnt das Schlammblut, bleibt von der magischen Welt nicht viel übrig“, erwiderte Draco düster.

Er hatte den Ausdruck „Schlammblut“ jahrelang nicht benutzt – bei den Malfoys hatte ihn überhaupt nur noch Lucius gebraucht, von dem Scorpius ihn aufgeschnappt hatte. Aber seit Hermine den Ausdruck verboten und mit einem Tabuzauber belegt hatte, hatte Draco ihn sich in Bezug auf die Ministerin wieder angewöhnt – aus Trotz, aber auch aus einem gewissen Ärger über sich selbst und seinen eigenen Opportunismus, mit dem er sich an ihre Politik angepasst hatte.

„Weißt du, Vater, ich habe ja wirklich versucht, mich mit ihr zu arrangieren, aber es geht einfach nicht mehr, ich kann es nicht mehr mittragen, und ich sehe auch nicht ein!“

„Nur zu verständlich“, räumte sein Vater ein, „aber der Ärger darf dich nicht dazu verleiten, die Interessen unseres Hauses aus den Augen zu verlieren. Mag ja sein, dass die magische Welt untergeht – das Haus Malfoy geht deshalb noch lange nicht unter! Gut, man müsste sich umstellen und Beziehungen zu den Muggel-Oberschichten knüpfen. Dann geht man eben nicht mehr zur Drachenjagd, sondern zur Fuchsjagd, nicht mehr zu Hippogreif-Rennen, sondern zu Pferderennen, kauft keine Quidditch-, sondern Fußballclubs – alles zugegebenermaßen nicht besonders appetitlich, aber kein Weltuntergang, und Scorpius hätte damit bestimmt weniger Probleme als du oder ich.“

„Und heiratet eine Muggelprinzessin?“, fragte Draco wenig erbaut. „Darauf läuft es doch hinaus, wenn zwei Oberschichten zu einer verschmolzen werden. In zwei oder drei Generationen sind unsere Nachkommen bestenfalls noch Squibs.“

„Wenn überhaupt“, bestätigte Lucius. „Wenn das Schlammblut gewinnt, wird es in zwei oder drei Generationen überhaupt kaum noch wirkliche Zauberer mehr geben, und die wenigen, die es dann noch gibt, werden eine verfolgte Minderheit sein. Ansonsten gibt es dann nur noch Muggel, auch in unserer Familie. Nur wären die einen Muggel oben und die anderen unten, und unsere Nachkommen wären weiterhin oben.“

„Vater, das kann doch nicht dein Ernst sein!“

„Ich sage ja nicht, dass es erstrebenswert ist“, besänftigte der Vater den Sohn. „Ich weise dich nur darauf hin, dass wir Optionen haben, die wir auch abwägen müssen. Lohnt es sich, das Risiko einzugehen, das unweigerlich damit verbunden ist, der Zaubereiministerin in die Quere zu kommen? Denn eines muss dir klar sein, mein Sohn: Granger spielt mit hohem Einsatz. Wenn es ihr nicht gelingt, Potter aufs Schafott zu bringen, ist ihre Karriere beendet. Und da sie das weiß, wird sie Jeden, der sich für Potter aus dem Fenster lehnt, als Feind betrachten und behandeln.“

„Seit wann scheust du Risiken, Vater?“

„Das macht die Lebenserfahrung. Ich habe einige Male zu hoch gepokert.“

In der Tat hatte Lucius sich mit Voldemorts Todessern gleich zwei Mal derart kompromittiert, dass die Familie ihren ganzen Einfluss und Unsummen an Bestechungsgeldern hatte aufbieten müssen, um ihn vor einer lebenslangen Haft in Askaban zu bewahren. Trotzdem hatte er sich so unmöglich gemacht, dass er die Leitung des Hauses seinem Sohn Draco übertragen musste. Da Lucius aber weiterhin einen Großteil des gewaltigen Familienvermögens verwaltete, kam Draco nicht umhin, ihn bei wichtigen Entscheidungen weiterhin zu konsultieren, und mit der Zeit waren sie zu einem eingespielten Team zusammengewachsen.

„Wenn wir Potter den besten Anwalt des Landes vermitteln, ihn aber nicht vor dem Henker bewahren, wird man sagen, wir hätten nicht mehr die Kraft, unsere Freunde zu schützen“, wandte Draco ein.

„Auch das ist ein wichtiger Gesichtspunkt“, räumte sein Vater ein. „Aber immerhin weiß Jeder, dass wir ihm geholfen haben. Es geht jetzt nur darum, wie weit die Hilfe gehen soll. Du kannst es dabei bewenden lassen, Honorius zu finanzieren, und ansonsten stillhalten. Oder du tust mehr, was aber riskanter ist. Dann musst du Nägel mit Köpfen machen! Granger zu ärgern, ohne sie zu stürzen, wäre das Falscheste. Wenn du sie schon ärgerst, dann wirf alles in die Waagschale, was wir aufzubieten haben, nicht nur Honorius! Tu Alles, oder tu nichts, aber nichts dazwischen. Du bist der Chef des Hauses, du entscheidest!“

Er ließ seinem Sohn Zeit zum Nachdenken, während die Hauselfen das Frühstücksgeschirr diskret vom Tisch zauberten.

„In diesem Manor hängen die Portraits von achtundzwanzig Generationen Malfoys, allesamt erstklassige Zauberer“, sinnierte Draco. „Soll ich Scorpius sagen, sie waren alle blöd, weil sie die magische Welt verteidigt haben, statt sie für ein Stühlchen an der Tafel des Muggeladels zu verkaufen? Soll ich ihm sagen, du bist der Letzte, mach’s Licht aus?“

„Entscheide dich: Alles – oder nichts?“, bohrte Lucius.

„Alles!“, entschied Draco.

Als die Familie sich vom Frühstückstisch erhob, brachten ihre Vorfahren aus ihren Portraits heraus Draco stehende Ovationen dar.