36 – Nach Hause

 

Für die meisten Hogwarts-Schüler war dieser 23. Dezember der Tag der Heimreise in die Weihnachtsferien. Roy wäre am liebsten in Hogwarts geblieben, aber er fühlte sich verpflichtet, nach seiner Mutter zu sehen, und er war verpflichtet, als Vertrauensschüler den Hogwarts-Express zu begleiten. Wenn wenigstens seine Freundin mitgefahren wäre! Arabella aber würde an diesem Morgen schon um halb neun von ihrer Mutter am Portal des Schulgeländes abgeholt werden, um mit ihr, wie jedes Jahr, Weihnachten bei ihren Großeltern in Nordengland zu verbringen.

„Du begleitest mich zum Portal“, entschied Arabella, „ich werde dich meiner Mutter vorstellen und ihr sagen, dass wir zusammen sind.“

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragte Roy zweifelnd, denn er wusste, dass Arabellas Mutter ausgesprochen prüde war. „Wie sie das wohl aufnehmen wird?“

„Sie wird schockiert sein“, erwiderte Arabella ruhig. „Sie war wohl nicht immer so, aber seit mein Vater uns verlassen hat, ist sie furchtbar verbittert. Sie sieht in allen Männern Wüstlinge, die Frauen Kinder machen und sie dann mit ihnen sitzenlassen. Am liebsten würde sie mich wahrscheinlich in ein Hexenkloster stecken, um mich vor euch Hallodris zu schützen“, sagte sie, gab ihm ein Küsschen und hob ihren Ferienkoffer mit einem Schwebezauber an. Hand in Hand verließen sie die Eingangshalle des Schlosses und gingen Richtung Geländeportal. Eilig hatten sie es nicht.

„Seit sie weiß, dass ich in einer Clique bin, die sonst nur aus Jungs besteht“, fuhr Arabella fort, „also schon seit Jahren, warnt sie mich davor, mich mit einem von euch einzulassen. Jedes Argument ist ihr recht: dass Julian und Ares aus Todesserfamilien stammen oder dass Orpheus Künstler ist – die taugen in ihren Augen alle nichts. Am meisten hat sie mich aber vor dir gewarnt. Blöderweise habe ich ihr vor Jahren erzählt, aus welchen Verhältnissen du stammst, sie sagt, dein Vater müsse ein noch größeres Schwein gewesen sein als meiner, von deiner Mutter hält sie noch weniger, und sie glaubt, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“

„O je, und ausgerechnet mit mir musst du daherkommen. Hast du keinen Bammel?“

„Doch“, sagte Arabella, „aber den werde ich mir nicht anmerken lassen. Wenn ich sie schon schockiere, dann sofort und gründlich. Nimm bloß keine Rücksicht auf ihre Prüderie! Wenn du mich zum Abschied küsst – und untersteh dich, es nicht zu tun! –, dann so leidenschaftlich, dass sie gar nicht erst auf die Idee kommt, einen Keil zwischen uns treiben zu wollen.“

„Wird mir nicht schwerfallen“, meinte Roy und strahlte sie an. Dann seufzte er. „Ich wünschte nur, ich hätte Julians Charme! Du hättest mal sehen sollen, wie er Ginny um den Finger gewickelt hat, als wir bei den Potters zu Besuch waren.“

„Damit kämst du bei ihr nicht weit. Mein Vater war auch so ein Charmebolzen, mit diesem Typ Mann ist sie restlos fertig. Im Übrigen bin ich sehr froh“, meinte sie spitz, „dass du Julians spezielle Talente nicht hast. Einen Freund, der von allen Hogwarts-Mädchen angeschmachtet wird, habe ich für mein Glück ungefähr so nötig wie ein Loch im Kopf – eine Patricia hat mir gereicht!“

„Dir ist aber hoffentlich bewusst, dass dir keine mehr gefährlich werden kann, nicht einmal ein Veelablut wie Patricia, die ihrerseits von sämtlichen Jungs angeschmachtet wird?“

Arabella lächelte.

„Ich würde mich hüten, dich meiner Mutter vorzustellen, wenn ich daran Zweifel hätte.“

Sogar von weitem konnte man die alte Mrs. Wolfe – sie war noch keine vierzig, aber verglichen mit Ginny oder Hermine wirkte sie wie eine alte Frau – erbleichen sehen, als sie ihre Tochter Hand in Hand mit einem Jungen auf sich zukommen sah.

„Hallo Mama“, begrüßte Arabella ihre wie versteinert dastehende Mutter und drückte ihr ein Küsschen auf die Wange. „Darf ich dir Roy vorstellen, Roy MacAllister? Wir sind seit sechs Wochen ein Paar.“

Roy verbeugte sich höflich und streckte die Hand aus. „Ich freue mich sehr, sie kennenzulernen, Mrs. Wolfe.“ Es war eine Höflichkeitsfloskel. Niemand freut sich, jemanden kennenzulernen, der einen anstarrt, als sei man ein giftiges Insekt, und Roy hatte in der Tat nicht Julians Talent, noch die abgedroschenste Floskel herzlich klingen zu lassen.

Arabellas Mutter ignorierte die ausgestreckte Hand und warf ihrer Tochter einen vernichtenden Blick zu.

„Kind, habe ich dir nicht immer wieder gesagt…“

„Doch, hast du“, fiel Arabella ihr ins Wort, „und ich habe mir erlaubt, es zu ignorieren.“

„Du bist doch noch ein Kind!“, stieß die Mutter hervor.

„Noch bis zum 22. Januar, dann werde ich volljährig“, versetzte die Tochter, die offenbar auf jedes Argument vorbereitet war.

„Ich kann dich immer noch enterben!“

„Was aus dem Mund einer Neununddreißigjährigen, die ohnehin nicht so schnell stirbt, keine sehr starke Drohung ist“, antwortete Arabella wie aus der Pistole geschossen.

Roy warf seiner Freundin einen bewundernden Blick zu. Er wusste schon, dass sie nervenstark war, aber das hier war einfach cool. Er räusperte sich und zwang Mrs. Wolfe dadurch, ihn anzusehen – wenn auch mit einem Blick, dessen Eiseskälte selbst Hermine nicht besser hinbekommen hätte.

„Mrs. Wolfe“, sagte er vorsichtig, „ich glaube, es wird uns nichts Anderes übrigbleiben, als uns aneinander zu gewöhnen.“

„Wozu?“, fragte sie verächtlich. „Und für wie lange?“

Diesmal antworteten Roy und Arabella gleichzeitig:

„Für immer.“

 

***

 

Wie jedes Jahr kurz vor Weihnachten warteten einige hundert fröstelnde Elternpaare unter der seltsamen Bahnhofsbeleuchtung, in der man nichts wirklich hell, aber alles gestochen scharf sieht, am Gleis Neundreiviertel auf den Hogwarts-Express. Harry hatte den Arm um Ginnys Schulter gelegt.

Hermine tat so, als habe sie die beiden nicht bemerkt, plauschte angeregt mit dem Ehepaar Wildfellow und schob die ganze Gruppe wie unabsichtlich und zufällig immer weiter von den Potters weg. Harry sah zu Ron, den die ganze Situation offensichtlich bedrückte, schenkte ihm ein komplizenhaftes Zwinkern, erntete ein unsicheres, aber dankbares Lächeln von ihm und versank wieder in seinen Gedanken.

Seine Nervenkrise vom November, die er Roy gegenüber nur angedeutet hatte, war gottlob ausgestanden. Wochenlang hatte er tagsüber jede Einzelheit seines Plans durchdacht und akribisch seine Vorbereitungen getroffen, um Nacht für Nacht schweißgebadet aus Alpträumen zu erwachen, in denen er Hermine gefoltert, getötet, irrtümlich mit dem Anti-Imperius belegt und auf jede denkbare Art erniedrigt hatte. In solchen Nächten tat es gut, sich an Ginny festhalten zu können.

Ginny war es auch, die es in buchstäblich Dutzenden von Gesprächen allmählich schaffte, ihm ins Bewusstsein und sogar ins Unterbewusstsein zu hämmern, dass sein schlechtes Gewissen in diesem Fall fehl am Platze war, dass er derjenige war, der Hermine retten musste, weil er der Einzige war, der es konnte, dass es nicht seine Schuld war, dass er Methoden wie Schockzauber, Entführung und Legilimentik benutzen musste, und dass er sich daher genauso wenig zu schämen brauchte wie ein Muggelchirurg, der seine Patienten, technisch gesehen, auch verletzen musste, um ihnen helfen zu können. Vielleicht würde Hermine ihm nie verzeihen, aber wenn er zusah, wie ihre Seele von einem Schwarzmagier erdrosselt wurde, würde er selbst es sich nie verzeihen können.

In diesem Dezember, in dem der Plan in die heiße Phase trat, hatte es keine DA-Stunden mehr gegeben. Der Plan würde abrollen wie besprochen, er würde die Unbestechlichen dabei nicht brauchen, sie hatten alles gelernt, was sie vielleicht brauchen würden, falls er…

Sie werden es nicht brauchen, ich werde nicht zulassen, dass sie es brauchen! Alles wird klappen wie am Schnürchen, niemand wird je erfahren, dass es eine Entführung gegeben hat, erst recht niemand ahnen, dass die Unbestechlichen davon wussten.

Er sah hinüber zu Hermine, die inzwischen zwei Waggonlängen zwischen sie gebracht hatte.

Der Countdown läuft, noch achtzehn Tage bis zum 10. Januar…

„Hallo Harry“, riss eine Stimme ihn aus seinen Gedanken. Sie gehörte Draco Malfoy, der gerade mit seiner Frau Astoria am Bahnsteig erschienen war. Die beiden Ehepaare begrüßten einander freundlich, wenn auch nicht überschwänglich.

„Na, Draco“, fragte Harry, „wie geht’s denn so?“

„Ich kann nicht klagen“, erwiderte dieser, „wenn man davon absieht, dass ich mich im Ministerium dreimal täglich übergeben möchte.“

„So schlimm?“

„Seit du weg bist, hat die Ministerin alle Hemmungen verloren, du warst wohl so etwas wie ihr schlechtes Gewissen, jetzt lässt sie die Sau raus. Manchmal frage ich mich, was ich dort überhaupt noch zu suchen habe, ich habe es schließlich nicht nötig zu arbeiten, ich könnte mich auch auf unser Manor zurückziehen. – Apropos Manor, sprechen wir von etwas Erfreulicherem: Scorpius hat angefragt, ob ich Albus nach Weihnachten für den Rest der Ferien zu uns einladen würde. Ich möchte das sehr gerne tun, wollte aber erst euch fragen, vielleicht habt ihr ja andere Pläne…“

„Wenn Albus gerne möchte, haben wir kein Problem damit“, antwortete Ginny für beide, „ganz im Gegenteil…“ Sie unterbrach sich, denn der Hogwarts-Express lief soeben ein, hüllte die Wartenden in eine Dampfwolke und übertönte jedes weitere Wort.

Das ohrenbetäubende Kreischen der Bremsen war kaum verklungen, da wurden schon die Türen aufgerissen. Albus, Scorpius und Bernie waren die Ersten, die aus einer Tür auf halber Höhe zwischen den Potters und den Weasleys auf den Bahnsteig sprangen. Nachdem sie sich kurz orientiert und festgestellt hatten, dass sie in verschiedene Richtungen mussten, verabschiedeten Albus und Scorpius sich von Bernie und gingen auf ihre Eltern zu, quietschvergnügt und Jeder den Arm um die Schulter des Anderen gelegt.

„Meine Güte“, sagte Draco, „sie sehen genauso aus wie wir damals. Man kommt sich vor wie auf einer Zeitreise.“

„Ja, aber auf einer Zeitreise in eine kuriose Parallelwelt, in der wir Freunde gewesen wären“, ergänzte Harry.

„Hätten wir sein können“, antwortete Draco, „aber du wolltest ja nicht.“

„Ich hätte schon gewollt, wenn du damals nicht so ein arroganter Kotzbrocken gewesen wärst.“

Draco lachte. „Ich habe mein Sohn wohl besser erzogen, als mein Vater mich erzogen hat. Na ja, hauptsächlich erzieht meine Frau ihn.“

Harry lachte ebenfalls. „Ach, deshalb ist er so nett?“

Die beiden Jungs waren inzwischen bei ihnen und ließen es sich erst einmal gefallen, von ihren Müttern geknuddelt zu werden, bevor die Väter sie mit einem kurzen Schulterklopfen begrüßten.

„Darf ich ein Foto von euch beiden machen?“, fragte Astoria, die schon ihren Fotoapparat gezückt hatte. Der Anblick der beiden glücklichen Jungs, die so sichtbar ihre Freundschaft genossen, musste jedes Mutterherz zum Schmelzen bringen.

„O ja, ich mache auch gleich eins“, rief Ginny, wandte sich aber zunächst ihrem Ältesten zu, der eben dazugestoßen war. Sie nahm James besonders liebevoll in den Arm, er sollte spüren, dass sie nicht mehr böse auf ihn war.

Nachdem alle Fotos in allen möglichen Besetzungen geschossen worden waren, fragte Draco Albus: „Wir würden uns freuen, wenn du die Zeit nach Weihnachten bis zum Ende der Ferien als Gast der Familie Malfoy bei uns im Manor verbringen würdest. Hast du Lust?“

„Na klar!“, rief Albus sofort begeistert, als ihm einfiel, dass er vielleicht zuerst seine Eltern fragen sollte. „Äh, darf ich?“

„Natürlich darfst du“, lachten Harry und Ginny.

„Also, abgemacht“, sagte Draco, während Albus und Scorpius sich abklatschten.

Während die beiden Frauen sich noch ein wenig unterhielten, sah Harry aus den Augenwinkeln, wie Roy, der soeben seinen Kontrollgang beendet und als Letzter den Zug verlassen hatte, zügig an der Gruppe um Hermine vorbeiging und näherkam. Harry sah sich um. Roy schien der einzige Schüler zu sein, auf den niemand wartete, dem niemand zuwinkte und niemand entgegeneilte. Sie hatten vereinbart, öffentlich nicht zu erkennen zu geben, wie gut sie sich kannten. So rief Roy den Potters ein knappes „Frohe Weihnachten“ zu, als er an den Potters und Malfoys vorbeikam und schritt dann weiter, allein auf die Absperrung zu.

Harry sah ihm nach. Eigentlich wusste er nichts über Roy MacAllister. Obwohl sie einander irgendwie mochten, war Roy ihm ein Rätsel geblieben. Als Harry ihn nun aber allein, schnurstracks zwischen all den strahlenden Familien hindurch ohne einen Blick nach links oder rechts, zum Ausgang marschieren sah, löste sich ein Teil des Rätsels.

Roy verschwand hinter der Absperrung.

37 – Trauriger Heiligabend

https://www.youtube.com/watch?v=tIHxzpGZooo

 

Roy verließ die U-Bahn-Station und sah sich um. Jedes Mal, wenn er hier war, erschien ihm die Gegend noch ein wenig trostloser und heruntergekommener. Praktisch jede Hauswand war mit Schmierereien übersät, aus irgendwelchen Boxen dröhnte vulgärer Gangsta-Rap, an den Straßenecken vertickten afrikanische Dealer seelenruhig ihren Stoff – in diesen Teil Londons traute die Polizei sich schon seit Jahren nur noch in Mannschaftsstärke, wenn überhaupt.

Roy ballte die Faust um seinen Zauberstab, dachte an Hermine und schnauzte sie im Geist an:

Das ist also die Welt, von der wir lernen sollen, Schlammblut? Das sind die Errungenschaften, mit denen du uns beglücken willst? Du und dein Freund Jonathan Wildfellow?

Roy war froh, dass Bernie ihn am Bahnhof nicht bemerkt und seinem Vater vorgestellt hatte, wie es eigentlich seine Absicht gewesen war. Für Roy war der Premierminister ein fast ebenso so Rotes Tuch wie die Zaubereiministerin.

Passen gut zusammen, diese zwei Geschwister im Ungeist, dachte Roy. Beide machen das ihnen anvertraute Land kaputt, beide missbrauchen das Vertrauen gutwilliger einfacher Leute, beide tun es, weil sie lieber irgendwelchen Ideologien trauen als ihren eigenen Augen, beide werden trotzdem oder gerade deshalb nie selber die Suppe auslöffeln müssen, die sie Anderen einbrocken. Was macht es eigentlich für einen Unterschied, ob Hermie verhext ist oder nicht? Wildfellow ist es nicht, und sie verstehen sich trotzdem bestens! Und wir versuchen noch, sie zu retten, statt sie zu töten! Ares hat recht, das ist doch alles tuntig, was wir hier vorhaben, nichts Halbes, nichts Ganzes! Rodolphus hat recht, der Fluch, unter dem sie steht, ist der einzige, dessen Opfer nicht unschuldig sind! Warum schonen wir sie eigentlich?

Roy blieb stehen und atmete durch. Er kannte es schon: Immer, wenn er durch diese Straßen ging, fiel er in ein Loch aus schwarzen Gedanken. Kein Wunder, dass diese Gegend schon mehr als einen Terroristen hervorgebracht hatte.

Ares hat unrecht, zwang er sich zu denken, Harry hat recht. Er ist unser bester Mann, er wird es schaffen. Er muss es schaffen.

Roy stand nun vor dem Haus, in dem auch er gelebt hatte, bis er nach Hogwarts durfte. Ein Altbau, heruntergekommen wie praktisch jedes Haus hier, mit zwanzig Parteien. Er sah auf die Klingelschilder. Vor einem Jahr hatten fünf britische Nachnamen hier gestanden, im Sommer noch drei, jetzt war nur noch einer übrig: sein eigener. Roy schloss auf und stieg ohne Eile in den fünften Stock hoch.

Als er die Wohnungstür aufschloss, drang ihm schon der Gestank entgegen, den er so hasste: verwesende Lebensmittelreste, gemischt mit den Ausdünstungen einer seit Monaten nicht mehr geputzten Toilette. Die Wohnung war eine Müllhalde, und der Müll bestand hauptsächlich aus leeren Flaschen. Aus dem Fernseher im Wohnzimmer drang klebriger Weihnachtspop, offenbar lief gerade eine Musikshow. Er betrat das Wohnzimmer. Seine Mutter lag schnarchend auf dem Sofa. Sie hatte wieder getrunken. Natürlich hatte sie getrunken.

Roy fegte einen Haufen Schmutzwäsche vom Sessel, der einzigen Sitzgelegenheit im Raum, warf sich darauf, griff nach der Fernbedienung und wechselte den Kanal. Es war ihm egal, was lief, solange es nur nicht White Christmas oder ähnlicher Kitsch war.

Roy legte keinen Wert auf weiße Weihnachten. Er hatte nicht erwartet, abgeholt zu werden, er hatte auch kein Geschenk erwartet, von einem Weihnachtsbaum ganz zu schweigen – er wusste, dass seine Mutter noch ihren letzten Penny in Fusel investierte. Aber verdammt noch mal, sie hätte wenigstens ansprechbar sein können!

Er versuchte minutenlang, sie zu wecken, vergeblich. Der Geruch, der von ihr ausging, verriet, dass sie sich seit Wochen nicht gewaschen hatte. Sie war nicht einfach vor dem Fernseher eingeschlafen, sie musste buchstäblich bis zur Besinnungslosigkeit gesoffen haben. Was geht mich diese Schnapsleiche eigentlich an? dachte er. Soll sie doch in ihrem Dreck… In solchen Momenten hasste er sie und ekelte sich vor ihr – und zugleich hasste er sich selbst dafür, so zu denken – sie war trotzdem seine Mutter.

Sie hatte schon an der Flasche gehangen, als sie noch Arbeit hatte, aber selbst nachdem sie ihren letzten Job verloren hatte, hatte sie sich wenigstens an Weihnachten zusammengenommen, solange er zu Hause gewohnt hatte. Es waren auch damals keine idyllischen Postkartenweihnachten gewesen – dass Albus mit einer Weihnachtserinnerung einen Patronus erzeugen konnte, war für Roy ein Märchen aus einer anderen Welt –, aber sie hatte wenigstens etwas Vernünftiges gekocht, und sie hatten sich unterhalten können.

Seit er in Hogwarts war, ging es mit ihr steil bergab. Roy weigerte sich, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. Es half nichts, er hatte es trotzdem, und er hasste sie dafür, dass sie ihm diese Schuldgefühle auch noch aufbürdete.

Er hatte durchaus versucht, ihr zu helfen: Vor drei Jahren – da war er gerade einmal dreizehn – hatte er sich während der Sommerferien die Hacken wundgelaufen und ihr einen Platz in einer Entziehungsklinik verschafft, ein kirchlicher Fonds hätte die Kosten übernommen, Pater Patrick hatte dafür gesorgt. Nach dem ersten Vorstellungstermin hatte die Klinik abgelehnt.

„Versteh bitte“, sagte der Arzt, der Mitleid mit ihm hatte, „einem Alkoholiker können wir nur helfen, wenn er es selbst wirklich will. Deine Mutter aber will im Grunde nicht, die Behandlung wäre vergeblich. Unsere Kapazitäten sind knapp. Für Jeden, den wir aufnehmen, müssen wir einen Anderen abweisen, und ich kann es einfach nicht verantworten, jemanden aufzunehmen, dem wir garantiert nicht helfen können, um einen Anderen abzulehnen, dem wir vielleicht helfen könnten. Es tut mir wirklich leid.“

Danach hatte Roy die Hogwarts-Bibliothek regelrecht ausgewrungen, um einen Zauber, vielleicht einen Zaubertrank gegen Alkoholsucht zu finden – vergeblich. Er hatte sich sogar dazu durchgerungen, Whiteman zu fragen und dessen verächtliches Naserümpfen zu ertragen. „MacAllister“, hatte Whiteman ihn kühl beschieden, „gegen Alkoholismus ist selbst in unserer Welt kein Kraut gewachsen.“

Roy stand auf. Im vergangenen Jahr war die Rückreise auf Heiligabend gefallen, und er hatte nach seiner Ankunft den Rest von Heiligabend und den gesamten Weihnachtsfeiertag damit verbracht, die Wohnung aufzuräumen und zu putzen. Diesmal würde er es leichter haben, weil Harry die Ministeriumsspur gelöscht hatte und er deshalb gefahrlos zaubern konnte. Nach ungefähr einer Stunde – in Haushaltszaubern war er nicht geübt – war er fertig.

Es war jetzt nach elf – zu spät, um noch den alten Pater Patrick zu besuchen, der sich in ein Kloster in der Nähe von London zurückgezogen hatte, wo er seinen Lebensabend verbrachte. Er würde ihn morgen besuchen. Er brauchte ihn. Gespräche mit dem alten Priester waren in den über zehn Jahren, die er ihn kannte, immer so etwas wie kühler Balsam auf seinen Wunden gewesen, sein Rat war immer weise. Wann immer er verwirrt war, wurden die Dinge klarer, wenn er sie mit dem Pater besprach.

Danach, so beschloss er, würde er Weihnachten bei seiner Mutter absitzen und den Rest der Ferien in den Muggelbibliotheken verbringen. Roy legte sich auf das Bett, das er vom Müll gereinigt hatte, und das seit Sommer nicht mehr frisch bezogen worden war. Er hatte die Bettwäsche saubergezaubert. So werden meine Kinder nicht aufwachsen, meine nicht!, dachte er noch. Dann fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

 

Am nächsten Morgen stand er früh auf, warf einen Blick auf seine Mutter, die immer noch oder schon wieder ihren Rausch ausschlief, und disapparierte in die Nähe des kleinen Klosters, das lange Zeit als Hotel fungiert hatte und erst seit Kurzem wieder seinem ursprünglichen Zweck diente.

Der Türklopfer ließ die mächtige Eichentür dröhnen. Roy wartete einen Moment, dann öffnete ein älterer Benediktinermönch die Tür.

„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“

„Gelobt sei Jesus Christus“, antwortete Roy.

Der Mönch lächelte. „In Ewigkeit, Amen.“

„Mein Name ist Roy MacAllister, ich würde gerne mit Pater Patrick sprechen, Patrick Knight.“

Der Mönch sah ihn einen Moment lang an. „Ich bin Pater Matthew. Folgen Sie mir bitte.“

Er führte ihn in ein kleines Büro. Für Roy war es ein merkwürdiges Déjà vu, das ihn an seinen Besuch auf dem Friedhof der Todesser erinnerte, als er mit Julian auch in ein Büro geführt worden war. Pater Matthew bat ihn, Platz zu nehmen.

„Es tut mir sehr leid, Mister MacAllister“, sagte er ernst, „Pater Patrick ist vor etwa einem Monat von uns gegangen.“

Roy saß wie betäubt in seinem Stuhl. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er gehört hatte. Pater Patrick, sein Pater Patrick… Er spürte die Tränen einschießen, kämpfte dagegen an. Bezwing dich, herrschte er sich in Gedanken selbst an, bezwing dich, du bist ein Slytherin!

„Hat er gelitten?“, fragte er nach minutenlangem Schweigen.

„Nein“, sagte der Priester, „er war nur altersschwach. Er ist friedlich im Schlaf gestorben.“

„Gott sei Dank.“

„Er ahnte wohl, dass er nicht mehr lange auf dieser Welt weilen würde. Er hat mir schon im September einen Brief für Sie gegeben.“

Er öffnete eine Schublade, und wieder fühlte Roy sich an den Friedhofswärter MacBride erinnert. Julian hatte damals erfahren, dass sein Großvater noch lebte. Er selbst musste den Abschiedsbrief eines Toten entgegennehmen.

„Und dann noch das hier“, sagte der Pater und holte einen Rosenkranz hervor. Es war ein schlichter Rosenkranz, dessen Holz sich in den Jahrzehnten fast schwarz verfärbt hatte. Roy erkannte ihn. Es war Patricks Rosenkranz gewesen.

Der Priester legte den Brief und den Rosenkranz behutsam vor Roy auf den Tisch. Roy nahm sie nicht gleich.

„Würden… würden Sie mich bitte einen Moment alleinlassen?“, fragte er zaghaft.

„Selbstverständlich. Falls Sie später mit jemandem sprechen möchten, und ich glaube, das sollten Sie tun, so finden Sie mich drüben in der Kapelle.“ Roy nickte. Er kannte die Kapelle.

Roy wartete einen Moment, bis die Schritte des Priesters draußen verklungen waren, dann griff er nach dem altmodisch versiegelten Brief und erbrach das Siegel.

 

Mein Sohn,

las Roy, und musste bei aller Trauer lächeln. Alle Priester titulierten ihre Schützlinge gerne als „Mein Sohn“, aber wenn Pater Patrick ihn so nannte, hatte das Wort eine andere Tiefe und Fülle gehabt.

Wenn Du diese Zeilen liest, wirst du wissen, dass unser Herr Deinen alten Pater heimgeholt hat. Ich gehe leichten Herzens, und doch schmerzt es mich, Dich verlassen zu müssen und Dich auf Deinem schwierigen Weg nicht länger begleiten zu dürfen.

Ich habe in meinem langen Leben viele beglückende Begegnungen gehabt und durfte viele wertvolle Menschen kennenlernen, die mir teuer waren. Und doch möchte ich im Rückblick sagen, dass es niemanden gab, der mir mehr Glück und Freude bereitet hat als Du…

Die Schrift verschwamm vor Roys Augen. Er legte den Brief auf den Tisch und sah zum Fenster hinaus in den klaren Himmel des sonnigen Wintermorgens. Roy atmete ein paarmal tief durch und las weiter:

Ich danke Gott dafür, dass es mir vergönnt war, das verwirrte und unglückliche Kind, dass Du einst warst, zu einem jungen Mann heranreifen zu sehen, dem es gelungen ist, gegen alle Widrigkeiten und gegen jede weltliche Wahrscheinlichkeit die Gaben zur Entfaltung zu bringen, mit denen der Herr ihn gesegnet hat. Ich danke Ihm, dass es mir vergönnt war, Dir auf diesem Weg beizustehen und Dir ein wenig die Richtung zu weisen…

Ein wenig? Roy musste wieder lächeln. Pater, ohne Sie hätte ich ohne Kompass und Karte in einem Labyrinth gestanden!

Ich meine nicht in erster Linie Deine Klugheit und Deinen Wissensdurst, mit dem Du Dir die Welt erschlossen hast, in der Du Dich verloren fühltest wie in einem feindlichen Exil. Ich meine vor allem Deine frühe Entschlossenheit, dem Guten, dass in Dir angelegt ist und das Deinem wahren Wesen entspricht, Raum zu geben und Dein Herz gegen das Böse zu verschließen.

Pater, wie hätte ich unter Ihrer Leitung etwas Anderes wollen können?

Du weißt, dass ich Dich nicht ohne Sorge nach Hogwarts gehen sah, aber mir scheint, dass diese Welt, die Dir zur Heimat geworden ist, allem Anschein zum Trotz weniger heidnisch ist als die, die sich immer noch christlich nennt, in der aber zahllose leere Kirchen vom Gegenteil zeugen.

Und doch mache ich mir Sorgen um Dich. Ich weiß, welche Willensanstrengung es Dich immer noch kostet, Deine Seele im Gleichgewicht zu halten. Die natürliche seelische Stabilität eines Menschen, der aus der Geborgenheit einer glücklichen Familie stammt, hast Du einfach nicht, kannst Du nicht haben und wirst Du womöglich nie haben. Du wirst immer – mehr als Andere – auf Menschen angewiesen sein, die Dir Halt geben. Sei Dir dessen bewusst! Du bist auf Deine Art sehr stark, ja geradezu bewundernswert stark, aber lass bei Menschen, die Dich lieben, nicht das Missverständnis aufkommen, Du bräuchtest sie gar nicht – bei Deinem Hang, Dich durch Verschlossenheit zu schützen, ist dies eine große Gefahr.

Die Familie, die Dir Halt gibt, wirst Du selbst gründen müssen. Ich möchte Dich in diesem Zusammenhang vor einem modernen Missverständnis warnen, das für das Zerbrechen so vieler Ehen und Familien verantwortlich ist: Viele glauben, es liege an ihnen, sich für die Richtige zu entscheiden – und glauben folgerichtig, eine korrekturbedürftige Fehlentscheidung getroffen zu haben, wenn ihre Ehe nicht so traumhaft verläuft, wie sie sich das vielleicht vorgestellt haben, und von neuem nach der Richtigen suchen zu müssen. Unter diesen Voraussetzungen findet man die Richtige nie. Es gibt nämlich nichts zu entscheiden, nur etwas zu erkennen, nämlich wen Gott für einen bestimmt hat. Verlass Dich drauf, Gott schickt Jedem die Richtige über den Weg, aber wehe dem, der sie nicht erkennt, weil er glaubt, es müsse ja noch eine Bessere geben!

Keine Sorge, Pater, ich habe sie gefunden. Schade, dass ich Ihnen Arabella nicht mehr persönlich vorstellen kann, ich wäre gerne von Ihnen getraut worden. Und eigenartig, dass Sie just in dem Monat gestorben sind, in dem ich die Richtige erkannt habe, als wäre es ein Stabwechsel…

Was mich aber zuversichtlich stimmt, Dich nicht zu früh zu verlassen, ist Deine seltene Gabe, Dich von der Sünde fernzuhalten.

(Abgesehen vom Zorn, mein Lieber, der Zorn ist die einzige Todsünde, für die Du wirklich anfällig bist! Natürlich kann jeder Mensch auch einmal zornig sein, aber ich beschwöre Dich nochmals, stets darauf zu achten, dass Du den Zorn hast und nicht der Zorn Dich!)

Deine Armut hat Dich nie zur Habgier verleitet, Dein Unglück nicht zur Missgunst gegenüber dem Glück Anderer, Dein enormer Ehrgeiz nicht zu faulen Kompromissen auf Kosten der Wahrheit und des Guten. Ich habe es Dir schon oft gesagt, aber da dies die letzten Worte sind, die ich an Dich richten kann, möchte ich es wiederholen: Wer der Sünde widerstehen will, muss unbestechlich sein, und gerade diese innere Unbestechlichkeit ist Deine größte natürliche Charaktergabe!

Nein, Pater, das ist keine natürliche Gabe. Die Unbestechlichkeit habe ich, wie alles, was ich gelernt habe, von Ihnen gelernt. In einer Kirche, deren Bischöfe das Jüngste Gericht weniger fürchten als die nächste Meinungsumfrage, haben Sie das Zweite Vatikanische Konzil und seine Folgekatastrophen unbeirrbar ignoriert und am wahren katholischen Glauben festgehalten. Selbst Päpsten haben Sie widerstanden! Die Rolle des Störenfrieds haben Sie weder gesucht noch geliebt, aber gelassen in Kauf genommen. Sogar die Alte Messe haben Sie zelebriert, und Ihre Kirche war voll, bis man Ihnen Ihre Gemeinde weggenommen hat…

Ich glaube, diese Unbestechlichkeit hast Du von Deiner Mutter geerbt.

Roys Kinnlade fiel herunter. Was?

Sie war ein verwahrlostes, unglückliches junges Ding, als sie mit Dir schwanger wurde. Alle lagen ihr in den Ohren, Dich abzutreiben, niemand, den sie kannte, hätte ihr einen Vorwurf gemacht. Man warf ihr im Gegenteil vor, dass sie es nicht tat. Jede Scheinrechtfertigung, jede Ausrede stand parat, sie hätte sie nur zu ergreifen brauchen. Für sie galt exemplarisch das Wort: „Die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführt; und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenige sind ihrer, die ihn finden.“ (Mt 7, 13) Deine Mutter hat diesen Weg für Dich gefunden, weil sie nach dem Guten strebte – und bedenke: Sie hatte nicht, wie Du, einen Priester, der ihr den Weg wies! – und darin unbestechlich war. Wäre sie es nicht gewesen, gäbe es Dich nicht!

Ich weiß, dass Du auf Deine Mutter zornig bist, und wer wollte es Dir verargen? Bedenke aber bitte, dass Jeder nur geben kann, was er hat. Deine Mutter hat selbst nur wenig empfangen und konnte Dir deshalb nicht viel geben, aber was sie Dir geben konnte, hat sie Dir gegeben. Es steht Dir zu, Dich zu beklagen – aber den Stab über sie zu brechen, das steht Dir nicht zu!

Ich habe Pater Matthew gebeten, Dir nach meinem Tod den Rosenkranz zu geben, der mich seit meiner Kindheit begleitet hat. Er wird Dich daran erinnern, dass ich stets bei Dir bin.

Dein alter Pater und Freund

Patrick

 

Roy nahm den Rosenkranz in die Hand, den Pater Patrick Zehntausende von Malen gebetet hatte. Wenn überhaupt ein Teil seiner Seele auf Erden zurückgeblieben war, dann wohnte sie in diesem Kranz, den Roy nun behutsam in die linke Brusttasche seiner Jacke gleiten ließ. Er war nicht allein, sein Pater war bei ihm.

Roy stand auf, verließ das Büro und ging auf den kleinen Klosterfriedhof. Er hätte sich das Grab zeigen lassen können, aber er wollte allein sein, und es war auch nicht schwer zu finden. Aus der Innentasche seiner Jacke zog er einen winzigen Blumenstrauß, duplizierte ihn mit seinem Zauberstab, vergrößerte ihn und legte ihn dem Pater aufs Grab. Fast eine Stunde lang blieb er davor stehen.

Dann ging er in die Klosterkapelle, kniete vor der Mutter Gottes, nahm eine Kerze und entzündete sie für Patrick. Dann eine zweite für seine Mutter.

Nacheinander zündete er für jeden Menschen, der ihm etwas bedeutete, eine Kerze an. Eine für Arabella. Eine für Julian. Eine für Albus. Eine für Ares. Eine für Orpheus.

Er sah die sieben Kerzen brennen, zögerte einen Augenblick, griff, ohne so recht zu wissen, warum er es tat, zu einer achten Kerze, und entzündete auch diese.

Eine für Harry.

Acht Kerzen. Er war nicht allein.

Er stand auf und wollte schon gehen, als er hinter sich ein diskretes Räuspern hörte. Es war Pater Matthew.

„Darf ich Sie etwas fragen, Roy?“

„Nur zu.“

„Was ist das für ein Blumenstrauß, den Sie auf Patricks Grab gelegt haben?“, fragte Matthew. „Solche Blumen habe ich noch nie gesehen.“

„Natürlich nicht“, sagte Roy schmunzelnd. „Es ist ein magischer Strauß.“

„Magisch?“, fragte der Priester erschrocken.

„Weiße Magie, Pater. Nichts, wovor man sich fürchten müsste.“

„Ja“, sagte der Priester und sah ihn nachdenklich an, „Patrick hat mir erzählt, dass Sie ein Zauberer sind. Ich konnte es kaum glauben.“

„Dann hat er Ihnen sicher auch gesagt, dass ich niemals Schwarze Magie treiben würde?“

Pater Matthew lächelte. „In der Tat.“

„Eine Frage, Pater: Kann ich eine Nichtkatholikin heiraten?“

„Nun, wir müssten natürlich Dispens einholen, aber grundsätzlich geht das schon. Sie ist Anglikanerin?“

„Nein, sie ist eine Hexe.“

Der Pater musste nun doch schlucken, bevor er antwortete: „Die aber ebenso wenig Schwarze Magie treibt wie Sie, hoffe ich?“

„Selbstverständlich. Manche der Hochzeitsgäste könnten allerdings“, Roy grinste, „ein wenig, ähm, exzentrisch wirken.“

Der Priester musste nun auch schmunzeln. „Das stört uns nicht, die meisten unserer Mitmenschen finden auch uns hier ziemlich exzentrisch. – Hätte Patrick Sie getraut?“

„Ja“, sagte Roy knapp. Er wusste, dass er es getan hätte.

„Dann wird es an mir nicht scheitern.“

Nach einem Moment des Schweigens fragte der Pater: „Kann ich noch etwas für Sie tun?“

„Nehmen Sie mir die Beichte ab.“

 

Als er nach Hause kam, hörte er seine Mutter mit schwacher Stimme rufen: „Roy?“

Er trat ins Wohnzimmer. Sie hatte sich aufgesetzt und blinzelte mit glasigen Augen umher.

„Hast du hier aufgeräumt?“, fragte sie mit schwerer Zunge.

„Ja, Mama.“ Er hatte sie schon seit Jahren nicht mehr „Mama“ genannt. „Frohe Weihnachten auch.“

„Frohe Weihnachten, mein Junge.“

Sie schwiegen. Dann sagte er: „Es ist zwar erst Heiligabend, aber du sollst dein Geschenk jetzt schon haben.“

Er zauberte eine mit Wasser gefüllte Vase herbei, zog den zweiten winzigen Blumenstrauß aus der Innentasche, vergrößerte ihn und stellte ihn in die Vase auf den Tisch.

„Roy, was machst du da?“

„Ich zaubere. Bisher durfte ich es nicht außerhalb von Hogwarts. Dieser Strauß ist übrigens ein ewiger Blumenstrauß. Die Blumen sterben nicht ab, sondern verwandeln sich in andere Blumen. Du wirst also ab jetzt immer Blumen auf dem Tisch haben.“

„Ich habe gar kein Geschenk für dich“, murmelte sie schuldbewusst.

„Du kannst mir eins machen.“

„Ja?“

„Trink einfach nur so viel, dass wir noch miteinander reden können. – Ich lege dir jetzt frische Klamotten ins Bad und lasse dir Badewasser ein.“

„Ach Roy, lass mich…“

„Du stinkst!“, schnauzte er sie heftiger an, als er beabsichtigt hatte. „Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass du nicht stinkst“, fuhr er etwas leiser fort.

„Gut, gut…“ sagte sie schüchtern. Dann setzte sie eine Flasche Hochprozentiges an die Lippen. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie einiges davon verschüttete.

Als Roy die zitternde Hand sah und in ihr früh gealtertes, aufgedunsenes, zerstörtes Gesicht blickte, durchfuhr es ihn wie ein Schlag: Sie wird Ostern nicht mehr erleben, wusste er plötzlich. Dies sind die letzten Tage, die du mit ihr zusammensein kannst!

Er würde die Ferien nicht in der Bibliothek verbringen.

38 – Weihnachten im Fuchsbau

 

„Sehr gut!“

Ginny musterte zufrieden ihre beiden Söhne, die sich gerade für das Weihnachtsessen bei ihren Großeltern umgezogen hatten. Ursprünglich hatte Albus den selten benutzten und daher immer noch tadellosen Festumhang seines Bruders übernehmen sollen, aber der war scharlachrot, und Ginny wollte Albus nicht zumuten, in Gryffindor-Farben herumzulaufen.

Sie hatte ihm einen grünen Umhang gekauft und eigenhändig silberfarbene Schlangenstickereien an dessen Ecken gezaubert. Als die beiden Brüder nun unter dem prüfenden Blick ihrer Mutter nebeneinander standen, der eine in Rot, der andere in Grün, wirkten sie gerade durch den Kontrast noch beeindruckender, als wenn sie die gleichen Farben getragen hätten.

„Ihr seht umwerfend aus, Jungs!“, rief sie stolz. „Eure Cousinen werden Augen machen! – Deine Söhne laufen dir den Rang ab“, zwickte sie ihren Mann auf, der gerade zur Tür hereinkam, „sie sehen immer besser aus, du immer älter…“

Harry grinste. „Männer sehen neben ihren Söhnen nie so alt aus wie Frauen neben ihren Töchtern. Warte nur, bis Lily im entsprechenden Alter ist, dann revanchiere ich mich…“

Da nun auch die neunjährige Lily ins Wohnzimmer kam – sie hatte sich, sehr zu Albus‘ Missvergnügen, einen roten Hexenumhang gewünscht –, war die Familie reisefertig.

„Darf ich das Flohpulver werfen, Mama?“, bat Lily.

„Wenn du willst, darfst du sogar als erste zu Oma und Opa.“

Lily strahlte, warf mit feierlicher Geste das Flohpulver in den Kamin, dessen Flammen sich nun smaragdgrün färbten, trat mitten in die Flammen, rief laut „Zum Fuchsbau“ und verschwand. Ihre Brüder taten das gleiche, Harry und Ginny folgten zuletzt.

Als Albus ankam, löste sich James soeben aus Oma Mollys Umarmung, um seinen Großvater und die zahlreichen Verwandten zu begrüßen, sofern sie sich schon im Weasley-Haus eingefunden hatten – einem Haus, das über Jahrzehnte hinweg durch etliche Anbauten ein so chaotisches Aussehen erlangt hatte, dass es in der Tat an einen aus der Erde gezogenen Fuchsbau erinnerte und deshalb auch so hieß.

Albus!“, jubelte Molly und knuddelte ihren Enkel ausgiebig. Dann stutzte sie. „Aber Albus, warum trägst du denn einen grünen Umhang? Ist das jetzt modern?“

„Äh, Oma, ich bin ein Slytherin…“

Natürlich hatte Molly davon erfahren, aber die bestürzende Tatsache, einen Slytherin zum Enkel zu haben, war ihr so peinlich, dass sie dieses Wissen nach Kräften verdrängt hatte und erst durch Albus daran erinnert werden musste.

„Ach ja, natürlich, wie dumm von mir…“

Albus grinste ein wenig in sich hinein und sah sich um: Alle, die keine neutralen Farben wie Schwarz oder Anthrazit trugen, trugen hier Gryffindor-Rot, nur er nicht. Mal sehen, wie viele dumme Bemerkungen er heute zu hören bekommen würde. Albus hob den Kopf. ‚Wir werden dem Haus Slytherin zur Ehre gereichen‘, fiel ihm Scorpius‘ Bemerkung vom ersten Abend in Hogwarts ein, und wieder musste er grinsen.

Er begrüßte nacheinander seinen Großvater und seine Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, soweit sie schon da waren.

Mit Victoire tauschte er allerdings nur ein höfliches Kopfnicken. Obwohl Gryffindors und Slytherins das Kriegsbeil vorerst begraben hatten und er sich zumindest mit James wieder gut verstand, gingen er und seine Cousinen sich in Hogwarts immer noch so weit wie möglich aus dem Weg, nicht unbedingt feindselig, aber unsicher.

Hermine, Ron, Rose und ihr kleiner Bruder Hugo kamen als Letzte aus dem Kamin, und wieder gab es die übliche Begrüßungscour, bei der sich Hermine den Potters gegenüber allerdings reserviert gab. Nur für Lily und natürlich für ihren Fan James hatte sie wenigstens ein Lächeln übrig. Albus und Rose mieden einander.

Nachdem Alle vollzählig waren, rief Molly ihre Gäste zur Festtafel. Die Sitzordnung, festgelegt von Molly, brachte es mit sich, dass die Potters und Hermines Familie einander direkt gegenübersaßen. Ob Molly so etwas wie eine Versöhnung erzwingen wollte oder einfach nur zu zerstreut war, um sich an das Zerwürfnis zwischen Hermine und den Potters zu erinnern – wer hätte das sagen wollen?

Albus saß genau auf Höhe von Hermine. Sie musterten einander kühl und abschätzend.

Albus liebte Hermine nicht weniger als früher – eher noch mehr, da er sie in Gefahr wusste, ihre Seele zu verlieren. Aber was ihm da gegenübersaß, war eben nicht Hermine – oder jedenfalls nicht mehr so richtig. Ein Teil davon mochte noch sie selbst, zumindest ein Schatten ihrer selbst, sein, der Rest wurde von einem Anderen kontrolliert, den Albus nicht kannte, aber hasste.

Da er fest entschlossen war, nicht auszuweichen, auch nicht, als er wieder spürte, wie es im Raum kälter wurde, bohrten ihre Blicke sich immer tiefer ineinander, bis sie fast dem Drohstarren von Boxern vor dem Kampf ähnelten.

Ein allgemeines „Aaaah!“, als Molly das Festmahl auf die Tafel zauberte, machte dem stummen Duell ein Ende.

Alle hatten gewusst, dass Mollys Festtafel sich biegen würde, und Alle hatten vorsorglich Hunger mitgebracht. So drehten sich die spärlichen Gespräche vor allem ums Essen, und Oma bekam von allen Seiten ihr wohlverdientes Lob, ansonsten aber herrschte rund um den Tisch die Stille andächtigen Genusses.

Erst als alle satt waren, die jüngeren Kinder Lily und Hugo, die sich vom Streit ihrer Eltern nicht beirren ließen, die Tafel verlassen hatten, um spielen zu gehen, und die Erwachsenen sich diverse magenräumende Getränke schmecken ließen, hielt Onkel George die Zeit für gekommen, das Gespräch zu eröffnen. Natürlich konnte es nur ein Thema geben:

„Na, Al“, fragte er grinsend, „wie geht’s dir denn so bei deinen Todessern?“

Albus war nicht beleidigt. Wenn George so etwas sagte, war Jedem klar, dass es ein Witz war.

„Danke bestens“, strahlte Albus ihn an, „in unserer Freizeit foltern wir Hauselfen, das ist sehr lustig.“

Alle glucksten, nur Hermine zog ein finsteres Gesicht.

„Im Ernst, Albus“, schaltete Oma Molly sich ein, „hast du denn schon Freunde gefunden?“

Albus fand die Dutzligkeit seiner Oma irgendwie liebenswert. Er war schon dreieinhalb Monate in Hogwarts, glaubte sie wirklich, er hätte dort noch keine Freunde?

„Ja sicher“, antwortete er, „und gar nicht so wenige.“

„O ja“, warf Rose nun spitz ein, „lauter gaaaanz nette Freunde: einen Malfoy, einen Lestrange, einen Macnair, einen Avery…“

„…einen Roy MacAllister“, ergänzte Albus gelassen und fügte, zu seiner Oma gewandt, erklärend hinzu: „Das ist der, den der Tagesprophet als ‚Neo-Todesser‘ zum Staatsfeind Nummer eins erklärt hat.“

„Ja, aber Albus“, meinte Molly erschrocken – die Ironie war ihr wohl entgangen –, „findest du, dass das der richtige Umgang für dich ist?“

„Ich bin stolz auf diesen Umgang“, sagte Albus lächelnd. „Wer im Tagespropheten nicht verleumdet wird, lebt ohnehin verkehrt.“

„Lass mich raten“, griff mit süßsaurer Miene nun Hermine ein, „das war jetzt Originalton Roy MacAllister, stimmt’s?“

„Stimmt“, erwiderte Albus und sah sie übertrieben treuherzig an, „und wer im Tagespropheten allzu oft gelobt wird, lebt erst recht verkehrt. Das war jetzt Originalton Albus Potter.“

Rund um den Tisch wurde geschmunzelt, denn allen Anwesenden war klar, dass niemand im Tagespropheten öfter und hemmungsloser bejubelt wurde als Hermine.

„Stimmt es eigentlich“, wollte Rose nun wissen, „dass du auch zur Clique dieser sogenannten“ – sie rümpfte die Nase – „‚Unbestechlichen‘ gehörst?“

„Natürlich stimmt das“, sagte Albus freundlich – es war ohnehin ein offenes Geheimnis –, „ich halte mich immer an die Besten.“

„Kaum bist du in Slytherin, schon klingst du wie Draco Malfoy“, knurrte Ron.

„Wer sind die Unbestechlichen?“, fragte Opa Arthur neugierig.

„Das sind die führenden Todesser des Hauses Slytherin“, erwiderte Rose, bevor Albus irgendetwas sagen konnte.

„Ach weißt du, Rose“, erwiderte Albus, der seine eigene Coolness zu genießen begann, „sofern ich mir aussuchen kann, mit wem ich mich abgebe, halte ich mich lieber an ein paar intelligente Todesser als an Leute, die dummes Zeug nachplappern.“ Rose errötete leicht. „Allerdings habe ich in Slytherin noch keine Todesser getroffen.“

Molly versuchte, die zunehmend giftige Atmosphäre zu entspannen, indem sie etwas fragte, was sie für harmlos hielt: „Hast du denn in Hogwarts auch eine kleine Freundin?“

Ginny, Bill, Charlie, Percy, George und Ron verdrehten den Blick zur Decke. Ihre Mutter konnte sowas von peinlich sein!

Albus grinste. Jetzt würde er Rose einen mitgeben!

„Na klar, Oma, du weißt doch, dass ich auf rothaarige Mädchen stehe…“ Er ließ eine Kunstpause folgen, in der Rose unter ihrem flammend roten Haar sichtlich verwirrt dreinblickte. „Glücklicherweise haben wir in Slytherin eine, und sie ist sehr nett!“

Rose funkelte ihn an.

Arthur wollte das Thema wechseln: „Na, George und Ron, was macht denn das Geschäft?“

George und Ron waren gleichberechtigte Teilhaber und Geschäftsführer von „Weasleys zauberhafte Zauberscherze“.

„Ach ja, danke, läuft gut“, erwiderte George, der Albus die ganze Zeit grinsend beobachtet hatte und über den Themenwechsel hörbar enttäuscht war. „Wir wollen unsere Produktpalette ausweiten, also nicht nur Scherzartikel herstellen, sondern alle möglichen intelligenten Zauberartikel, die einem das Leben erleichtern. Allerdings“, seufzte er, „bin ich mit dem Tagesgeschäft derart ausgelastet, dass die Geistesblitze rar werden. Was wir bräuchten, wäre ein kreativer Produktentwickler, aber wo soll man den hernehmen?“

„Ich wüsste einen“, sagte Albus und freute sich schon auf das Gesicht, das Hermine gleich machen würde.

„Ach ja?“, fragte George interessiert. „Wen denn?“

„Roy MacAllister.“

Hermine verschluckte sich an ihrem Feuerwhisky, bekam einen Hustenanfall und bekleckerte dabei ihr Kostüm. Ron klopfte ihr auf den Rücken und säuberte ihre Kleidung dann mit Tergeo.

„In einer Firma, in der mein Mann Geschäftsführer ist“, entschied sie gebieterisch, nachdem der Husten sich gelegt hatte, „wird dieser Mensch garantiert nicht arbeiten!“

„Darf ich dich daran erinnern, geliebte Schwägerin“, flötete George nicht ohne hinterhältigen Unterton, „dass wir in der Firma eine klare Kompetenzaufteilung haben und die Produktentwicklung mitsamt den dazugehörigen Personalentscheidungen in meine Zuständigkeit fällt?“ Er wandte sich nun wieder an Albus. „Was hat er denn bisher so erfunden?“

„Zum Beispiel einen Besen, mit dem Squibs und sogar Muggel fliegen können. Er hat ihn Bernie Wildfellow zum Geburtstag geschenkt. Bernie ist ein Muggel und kann daher nicht zaubern“, erklärte er auf die fragenden Blicke der Anwesenden hin.

„Ein Muggel in Hogwarts?“, fragte George verwundert. „Wie ist denn der da hingekommen?“

„Per Sondererlass deiner geliebten Schwägerin“, antwortete Albus nicht ohne Ironie.

George warf Hermine einen Blick zu, der erhebliche Zweifel an ihrem Geisteszustand erkennen ließ.

„Ich hatte meine Gründe“, beschied sie ihn kühl.

„Er war zuerst in Hufflepuff“, erzählte Albus, „aber dort fand er keine Freunde, nur bei uns. Deshalb haben wir – also wir, die führenden Todesser des Hauses Slytherin“, betonte er mit beißendem Sarkasmus, „ihn in Slytherin aufgenommen und versuchen ihm jetzt nach Kräften zu helfen. Roy zum Beispiel hat ihm eben diesen Besen gebaut.“

„Sehr clever!“, warf Percy nun ein, der dabei ironisch zu klingen versuchte. „Aber so furchtbar weit kann es mit MacAllisters rührender Muggelfreundlichkeit wohl nicht her sein, sonst würde er schließlich die Politik des Ministeriums unterstützen!“

„Onkel Percy“, sagte Albus nun ernst, „ich fürchte, deine Logik hinkt. Nur weil wir Bernie mögen und in Slytherin aufgenommen haben, müssen wir es noch lange nicht richtig finden, die magische Welt Großbritanniens von sechzig Millionen Muggeln überschwemmen zu lassen!“

„Seht ihr?“, warf Hermine ein und machte dabei ihr berüchtigtes Ich-hab’s-doch-schon-immer-gesagt-Gesicht. „Das ist die typische Todesser-Panikmache!“

George ignorierte sie. „Was hat euer Superstar denn sonst noch so erfunden?“, wollte er wissen.

„Zum Beispiel das hier“, antwortete Albus und zog aus seinem Umhang eine Wasseruhr. „Roy hat sie mir zu Weihnachten geschenkt. Man kann damit Töne aufzeichnen.“ Er berührte die Uhr mit seinem Zauberstab, um die Aufzeichnung in Gang zu setzen, und öffnete den winzigen Hahn. Das Wasser begann langsam in die untere Kammer zu fließen.

„Sehr beeindruckend“, meinte Hermine mit verächtlichem Naserümpfen. „Damit ist dein Roy ja fast auf dem Stand, auf dem Edison schon vor hundertvierzig Jahren war. Verglichen mit dem, was es heute an Tontechnik in der nichtmagischen Welt gibt, ist das doch primitiv.“

Hermine begann einen langen Vortrag, in dem sie den übrigen Gästen die Technologien der Muggel in den leuchtendsten Farben schilderte: Computer, Internet, Kabelfernsehen, Flugzeuge, Hochgeschwindigkeitszüge, Nanotechnologie, Raumfahrt und, und, und. Opa Arthur, der seit jeher ein Fan der Muggeltechnik war, nickte immer wieder begeistert. Dann ging sie dazu über, ihren Zuhörern voll Verachtung die Rückständigkeit der magischen Welt vor Augen zu halten, und wirklicher Hass klirrte in ihrem Ton, als sie zur großen Abrechnung mit den Gegnern der Öffnung zur Muggelwelt schritt: bestenfalls kleine Geister, schlimmstenfalls Todesser, die die magische Welt brauchten, um dort ihre Diktatur zu errichten! Es war ihr Lieblingsthema, und sie hielt sich lange dabei auf, während die übrigen Anwesenden immer unbehaglichere Blicke wechselten. Selbst Arthur hatte aufgehört zu nicken und sah seine Schwiegertochter zunehmend besorgt an.

Hermine“, warf Harry ein, als sie endlich einmal Luft holte, während die Wasseruhr ablief, „das mit den Muggeltechnologien ist ja alles schön und gut. Aber wie sollen wir die nutzen und gleichzeitig die Geheimhaltung der magischen Welt gegenüber den Muggeln aufrechterhalten?“

Hermine sah ihn kalt an. „Wer sagt denn, dass wir sie aufrechterhalten müssen? Natürlich muss man behutsam vorgehen, Schritt für Schritt…“

„…aber am Ende werden magische Welt und Muggelwelt verschmolzen, richtig?“, bohrte Harry.

„Im Prinzip ja“, bestätigte Hermine, der die entgeisterten Blicke der Anderen anscheinend egal waren, und fügte forsch hinzu: „Heutzutage gilt es Grenzen zu überwinden und offen zu sein. Wo ist das Problem?“

„Das Problem ist“, antwortete Ginny, „dass wir zaubern können und sie nicht. Sie werden das nicht mögen. Im Übrigen, liiiiebe Schwägerin, stünde es dir gut zu Gesicht, dich bei meinem Sohn für den Ausdruck ‚Todesser-Panikmache‘ zu entschuldigen, nachdem du selbst soeben bestätigt hast, dass du genau die Ziele verfolgst, die er dir unterstellt, und dass er mit seinen Befürchtungen den Nagel auf den Kopf getroffen hat!“

„Es ist trotzdem Panikmache!“, beharrte Hermine zunehmend erregt. „Wer sagt denn, dass Muggel nicht zaubern können? Ich kann es, Harrys Mutter konnte es, und sogar dein lieber MacAllister kann es!“, rief sie zu Albus gewandt. „Alle muggelstämmig! Und auch Bernie beweist doch gerade, dass angebliche Nichtmagier zaubern können!“

Bernie kann nicht zaubern!“, rief Albus genervt und aufgebracht. „Wozu bräuchte er sonst einen Spezialbesen? Seine magische Energie ist so schwach, dass er nicht einmal einen Lumoszauber schafft. Er bringt dabei nicht mehr als einen dunkelroten Glutpunkt hervor!“

„Siehst du?“, krähte Hermine triumphierend. „Dann kann er ja doch zaubern. Dieser Glutpunkt ist der Anfang…“

„Nein!“, fiel Albus ihr ins Wort. „Er ist das Ende! Er kommt keinen Schritt voran! Das kannst du doch nicht ‚Zaubern‘ nennen! Magische Fähigkeiten hat man geerbt, man kann sie nicht lernen!“

„Geerbt, ja?“ Hermine funkelte ihn an. „Wusste ich’s doch, dass du über kurz oder lang mit diesem Reinblüterquatsch anfangen würdest, Slytherin!“

Albus fiel eine Formulierung des Stadionsprechers vom letzten Quidditch-Match ein: Slytherin nimmt das Tempo aus dem Spiel. Er lehnte sich zurück und fixierte Hermine seinerseits. „Habe ich irgendetwas von Reinblütern gesagt?“, fragte er provozierend ruhig.

„Du sagst, es müsse geerbt sein, man müsse also Zaubererblut haben! Ich habe es aber nicht geerbt, und dein Roy auch nicht, und deine Oma Lily nicht! Wir haben keinen Tropfen Zaubererblut!“

„Das stimmt nicht, Tante Hermine“, erwiderte Albus so gelassen wie möglich. „Die Zauberergesellschaft und die Muggelgesellschaft sind erst seit ein paar Jahrhunderten getrennt und waren vorher gemischt. Ein paar Tropfen Zaubererblut hat praktisch jeder Muggel.“

„Na also!“, rief Hermine, als hätte Albus soeben irgendetwas bestätigt. „Warum sollen sie dann nicht zaubern können?“

„Nicht ‚Na also‘!“, antwortete Albus gereizt. „Dass alle Muggel ein paar Tropfen Zaubererblut haben, ist genauso richtig, wie wenn ich sage, dass alle Nordafrikaner ein paar Tropfen Germanenblut haben, weil die Wandalen vor sechzehnhundert Jahren dort eingefallen sind…“

„Beschäftigst du dich mit Muggelgeschichte?“, unterbrach ihn Arthur in einem verzweifelten Versuch, das Gespräch wieder in ruhige Bahnen zu lenken.

„Ich nicht, aber Roy, und von dem weiß ich es.“

„Na klar, dein Guru hat ja auch immer recht!“, schnappte Hermine dazwischen.

„Er ist der klügste Kopf in Hogwarts, noch vor manchem Lehrer“, konterte Albus. „Ich wäre blöd, wenn ich nicht von ihm lernen würde. Beweis du mir, dass es nicht stimmt! Was nun Nordafrika angeht, so kommt es bis heute immer wieder vor, dass dort blonde Kinder geboren werden, bei denen das Wandalenblut durchschlägt. Sie sind nur unglaublich selten, genauso selten wie muggelstämmige Zauberer gemessen an der Muggelbevölkerung insgesamt. Wenn du sagst, alle Muggel könnten zaubern, nur weil es muggelstämmige Zauberer vereinzelt auch gibt, dann könntest du ebensogut behaupten, alle Nordafrikaner seien blond!“

Da alle Anwesenden gebannt zuhörten, bemerkte niemand, dass in diesem Moment eine kleine Haarsträhne aus Hermines Schopf fiel, ein paar Zoll über dem Boden schweben blieb und dann, Richtung Harry segelnd, unter dem Tisch verschwand.

„Bravo, dein Todesser-Guru hat dich ja gründlich indoktriniert!“, zickte Hermine.

„Ich würde eher sagen, seine Argumente überzeugen mich und deine nicht“, ließ Albus Hermines Aggressivität an sich abtropfen.

„Außerdem – ganz ehrlich, Hermine“, griff nun überraschenderweise James ein, „MacAllister mag ja schräge Ansichten haben, aber ein Todesser ist er nun wirklich nicht!“

„Das sagst du doch jetzt nur“, ergriff Rose die Partei ihrer Mutter, „weil er dich nach deinen Schmierereien vor dem Rausschmiss gerettet hat, obwohl du sie den Slytherins in die Schuhe schieben wolltest.“

Nun stellte Albus sich vor seinen Bruder: „Für Slytherin ist der Fall erledigt und wird nicht mehr erwähnt! Und wenn er für uns erledigt ist, hat auch kein Anderer darauf herumzureiten!“

„Ach soooo“, meinte Hermine gedehnt, „ich glaube, ich verstehe allmählich, warum es zwischen Gryffindor und Slytherin seit langem so verdächtig ruhig ist. Zuerst schwört ihr heilige Eide, hinter mir zu stehen, aber wenn es um den eigenen Hintern geht, knickt ihr ein, kriecht zu Kreuze und macht einen Deal mit dem Feind!“

Das wiederum wollte Victoire nicht auf ihrem Haus sitzenlassen: „Gryffindor steht hinter dir, Hermine! Aber hinter dir zu stehen, heißt doch nicht, dass wir in Jedem, der anderer Meinung ist, gleich einen…“

„Doch, genau das heißt es!“, fiel Hermine ihr ins Wort. „Und ich dachte, ihr hättet das verstanden! Stattdessen verteidigt ihr jetzt einen, der ohne mit der Wimper zu zucken ‚Schlammblut‘ sagt!“

Peng! Vor dem Haus war jemand appariert.

Hermine schrak zusammen. „Was war das denn?“

„Das“, sagte George süffisant, „ist das typische Geräusch, das entsteht, wenn einer deiner Benimmonkel aus dem Ministerium appariert, um erwachsenen Bürgern einen Vortrag darüber zu halten, das sie ganz böseböseböse Ausdrücke gebraucht haben.“

Hermine stöhnte genervt. „Percy, schick ihn weg!“

Percy, der schon eilfertig aufspringen wollte, wurde von George und Bill auf seinen Stuhl zurückgedrückt.

„Oh nein, lieber Bruder“, sagte George zuckersüß, „du kennst doch den Erlass des Ministeriums, vermutlich hast du ihn selber verfasst. Die Belehrung muss sich derjenige anhören, der das böseböseböse Wort gesagt hat. Hermine? Wer Anderen eine Grube gräbt…“

Mit hochrotem Gesicht sprang Hermine auf und stolzierte unter dem schadenfrohen Gekicher der anderen Gäste zum Hauseingang.

Arthur und Molly blickten äußerst bekümmert drein. Sonst war Weihnachten im Fuchsbau ein Familienfest wie aus dem Bilderbuch, voller Herzlichkeit und Wärme, aber diesmal lief es völlig aus dem Ruder.

„Na?“, fragte Molly, die ob der Aussicht auf eine herminefreie Minute richtig aufzuatmen schien, „besucht uns denn in diesen Ferien auch einmal eines unserer Enkelkinder?“

„Ich schon“, rief James, der es liebte, zusammen mit seinem Opa in dessen Schuppen an Muggeltechnik herumzuschrauben.

„Hugo auf jeden Fall“, meinte Ron. „Er hat schon gefragt, ob er gleich hierbleiben kann.“

„Aber ja“, strahlte Molly, „und solange er will!“

„Dann wird Lily sicher auch hierbleiben“, ergänzte Ginny, „die beiden sind immer noch ein Herz und eine Seele.“

„Da sind sie wohl klüger als ihre Eltern“, meinte Molly spitz. „Und du, Rose?“

„Ich würde gerne nächstes Wochenende kommen. Davor und danach habe ich schon Verabredungen mit Freundinnen, und lernen muss ich auch noch.“

Albus? Wenn Rose hier ist, kommst du doch bestimmt auch?“, fragte Molly freundlich, während Albus sich darüber ärgerte, dass er bei dieser Frage – wie Rose – rosa anlief.

„Tut mir leid, Oma, sonst immer gerne, aber ich verbringe die Ferien diesmal bei Scorpius. Die Malfoys haben mich auf ihr Manor eingeladen.“

„Oho“, warf Ron naserümpfend ein, während Hermine zurückkam und sich wieder setzte, „herzlichen Glückwunsch, man verkehrt in der feinen Gesellschaft! Da hast du für die Plebs natürlich keine Zeit mehr!“

Noch bevor Ginny oder Harry, die sich über Rons saudumme Bemerkung sichtlich ärgerten, ihm antworten konnten, hackte Albus zurück:

„Mit Scorpius bin ich befreundet, weil er ein feiner Kerl ist, nicht weil seine Familie zur feinen Gesellschaft gehört! Und was heißt hier Plebs? Du bist mit der Zaubereiministerin verheiratet, du gehörst doch selber zur feinen Gesellschaft!“

„So“, unterbrach Molly, entschlossen, den erneut aufziehenden Sturm zu unterbinden, „dann gehen wir jetzt Alle ins Wohnzimmer und machen es uns dort gemütlich!“

 

Nachdem die Familie im Wohnzimmer – wie jedes Jahr – schicksalsergeben Mollys kitschige Lieblingslieder über sich hatte ergehen lassen, war die Atmosphäre sehr entspannt, weil die Potters und die Granger-Weasleys einander nun aus dem Weg gehen konnten.

Bill setzte sich zu Harry und Ginny. „Alle Achtung, einen solchen Entwicklungsschub wie bei eurem Kurzen habe ich noch nie erlebt. Im Sommer war er noch ein richtiges Kind, heute hatte ich eher das Gefühl, einen sehr intelligenten Fünfzehnjährigen vor mir zu haben als einen Elfjährigen. Die Art, wie er Hermine Contra gegeben hat, überhaupt die ganze Haltung, das Auftreten, das hatte richtig Stil!“

„Er entwickelt sich zu einem waschechten Slytherin“, meinte Harry, „die legen Wert auf solche Dinge wie Haltung, Auftreten und Stil. Hinzu kommt, dass einige seiner Freunde deutlich älter sind als er. Bei den Unbestechlichen ist er mit Abstand der Jüngste, und natürlich ist es ihm wichtig, von ihnen ernstgenommen zu werden, vor allem von MacAllister.“

„Er musste auch schnell reifen“, fügte Ginny hinzu, „um über den Bruch mit Hermine hinwegzukommen. Für ihn war das ein furchtbarer Schlag, du weißt ja, wie er sie immer angehimmelt hat. Einen Moment hatte ich Angst, er würde daran zerbrechen, aber nein, er ist daran gewachsen. Er musste lernen, dass sogar seine heißgeliebte Hermine nur ein Mensch ist, der in die Irre gehen kann, und dass er sie trotzdem lieben kann – auch wenn er das heute natürlich nicht gezeigt hat.“

 

Unterdessen zeigten Albus und sein kleiner Cousin Hugo einander ihre Weihnachtsgeschenke.

„Das hier“, sagte Albus und zog eine tischtennisballgroße gläserne Kugel aus seinem Umhang, „ist ein Glücksbarometer. Hat Scorpius mir geschenkt. Wenn man es in die Hand nimmt, kann man an der Farbe erkennen, wie glücklich oder unglücklich man in den nächsten 24 Stunden sein wird. Je heller die Kugel ist, desto glücklicher wird man sein und umgekehrt. Schwarz heißt so viel wie ‚Katastrophe‘.“

„Ich glaube, so etwas würde ich gar nicht wissen wollen“, meinte Hugo, der die Kugel in die Hand nahm und sie etwas ängstlich betrachtete, als befürchtete er, sie werde sich gleich pechschwarz färben. Da sie dazu aber keine Anstalten machte, sondern in seiner Hand ein freundliches Grasgrün annahm, war er beruhigt. „Schau mal, Rose“, rief er seine Schwester herbei, „mir geht es in den nächsten 24 Stunden gut!“

Rose setzte sich interessiert dazu, vermied es aber, Albus anzusehen, der seinerseits so tat, als spreche er mit Hugo allein.

„Die Farben spielen auch eine Rolle“, erklärte er ihm, „an denen kannst du ablesen, was für eine Art von Glück oder Unglück dich erwartet: Grün steht für die Menschen um dich herum und ob du dich mit ihnen wohlfühlst, also zum Beispiel für Streit, wenn die Kugel dunkel wird, oder dass sich alle gut verstehen, wenn sie hellgrün ist, so wie jetzt. Ist ja auch kein Wunder, du bleibst ja im Fuchsbau bei Oma und Opa. Rot steht für Kampf: hellrot, wenn du gewinnst, dunkelrot, wenn du verlierst, Blau für etwas Sachliches, also zum Beispiel gute oder schlechte Noten.“

Rose, die Albus nicht fragen wollte, streckte ihrem kleinen Bruder die geöffnete Hand hin, und Hugo legte ihr gehorsam das Glücksbarometer auf die Handfläche. Die Kugel begann in pulsierender Folge immer neue, ganz verschiedene Farben anzunehmen, und Albus fühlte sich unwillkürlich an eine Frau erinnert, die verschiedene Kleider anprobiert, bevor sie sich für eines entscheidet. Allmählich wurden die Abstände zwischen den Farbwechseln länger, die Unterschiede zwischen den Farbtönen geringer, bis das Glücksbarometer in Roses Hand sich festgelegt hatte: auf ein tiefes, schmutziges Dunkelgrün.

„An einen solchen Quatsch können auch nur Slytherins glauben!“, rief sie, knallte die Kugel vor Albus auf den Tisch und verzog sich.

 

Nachdem Albus am nächsten Morgen mit seinen Eltern gefrühstückt hatte – James und Lily waren im Fuchsbau geblieben –, bat sein Vater ihn um Roys Wasseruhr und hörte sich Hermines Tirade vom Vortag noch einmal an.

„Musstest du dir das wirklich antun?“, fragte Albus danach.

„Ja“, erwiderte Harry, „ich muss demnächst in ihre Rolle schlüpfen und deshalb ein Gefühl dafür haben, was sie sagt und wie sie es sagt.“

„Weißt du schon, wann du es machen wirst?“, wollte Albus wissen.

„Der Termin steht fest“, beschied ihn sein Vater. „Ich werde ihn aber nur Roy mitteilen, der euch am betreffenden Tag mittags Bescheid geben wird.“

Albus sah ihn missmutig an. „Warum sagst du es nicht mir? Vertraust du mir nicht?“

Harry lächelte nachsichtig.

„Natürlich vertraue ich dir. Aber vertrau du bitte auch mir: In konspirativer Technik kenne ich mich aus. Wir hatten vereinbart, dass jeder nur so viel erfährt, wie er wissen muss. Ich möchte vermeiden, dass irgendeiner von euch sich vor lauter Nervenanspannung auffällig verhält und womöglich verdächtig macht.“

Gedankenverloren drehte Albus die Wasseruhr um. Er war überrascht, Hermines Monolog nun rückwärts zu hören, es klang wirklich kurios. Auch seine Eltern hörten belustigt zu.

Dann aber starrten sie alle drei mit wachsendem Entsetzen auf die Wasseruhr, denn aus dem Kauderwelsch schälten sich deutlich Worte heraus, sehr langsam, sehr gedehnt und irgendwie dumpf, wie aus einem Grab heraus gesprochen, aber gut zu verstehen:

Albus – – – Ron – – – Harry – – – Rose – – – Ginny – – – Hilfe – – – Helft mir – – – Ich – kann – nicht – mehr – – – Ich – bin – eingesperrt – – – Es – ist – so – eng – – – Ich ersticke – – – Ich sterbe – – – Hilfe.“

Die Uhr lief ab.

Wie benommen saßen die Potters um den Tisch herum.

„Was war das denn?“, fragte Ginny schließlich.

„Das muss Hermines Seele gewesen sein“, sagte Albus, der mit aller Macht seine Tränen zurückdrängte. „Sie schmuggelt Botschaften hinaus. Bernie hat mir von diesem Phänomen erzählt. Es ist sein Hobby, so etwas aufzuspüren.“

Ginny stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

„Interessant“, murmelte Harry, der sich wieder gefasst hatte. „Sie hat dich als ersten genannt, Albus, weil sie mit dir im Gespräch war. Sie hat nach ihrer Tochter gerufen, aber nicht nach ihrem Sohn, denn der war nicht im Raum…“

Harry blickte sinnend zur Decke.

„Obwohl ihre Seele von der Außenwelt so gut wie abgeschnitten ist, empfindet sie, was um sie herum vorgeht. Sie spürt die Gegenwart von Menschen, und sie hat von allen Anwesenden genau diejenigen um Hilfe angefleht, die sie am meisten lieben.“

Ginny sah auf. Sie hatte nicht geweint. In ihrem Blick lag etwas Stählernes, das Albus an seiner Mutter noch nie zuvor gesehen hatte:

„Weißt du jetzt endgültig, warum du es machen musst?“

„Ja“, sagte Harry.

39 – Die Freundschaft der Malfoys

Am nächsten Tag um die Mittagszeit hörten die Potters vor ihrem Haus jemanden apparieren. Gleich darauf klingelte es, und Ginny öffnete. Vor ihr stand, gekleidet in eine äußerst vornehme Livree, ein Hauself, der sich tief vor ihr verneigte.

„Das Haus Malfoy entbietet dem edlen Hause Potter seinen Gruß und seine besten Wünsche“, sagte er geschraubt. „Mein Name ist Blubber. Die gnädigen Herrschaften haben mich beauftragt, den jungen Herrn Albus abzuholen und zum Manor zu geleiten.“

Ginny war einen Augenblick lang unsicher, ob sie nun in ähnlich geschwollener Sprache antworten müsse, meinte dann aber nur:

„Das ist ganz reizend, vielen Dank, Blubber, treten Sie doch bitte ein.“

Der Elf verbeugte sich und folgte ihr ins Wohnzimmer, in dem schon Albus mit seinem gepackten Koffer wartete. Er war ein wenig enttäuscht, denn eigentlich hatte er gehofft, Scorpius selbst würde ihn abholen.

Albus Potter“, stellte er sich vor. Da der Elf sich schon wieder verneigte, traute Albus sich nicht, ihm die Hand zu geben.

„Blubber“, erwiderte der Elf, „ich habe die Ehre, dem Hause Malfoy dienen zu dürfen. Darf ich fragen, ob der junge Herr reisefertig sind?“

„Äh, ja“, meinte Albus. Er überlegte einen Moment, wie er seine Frage höflich formulieren konnte, und meinte dann: „Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mich abholen, Blubber, aber warum macht Scorpius das nicht?“

„Ich fürchte, das ist nicht üblich, Sir“, antwortete der Elf mit leicht pikiertem Unterton. „Es entspräche nicht seinem Stand. Allerdings wartet der junge Gnädige Herr bereits in der Empfangshalle des Manors.“

„Ja, dann wollen wir ihn mal nicht unnötig warten lassen“, sagte Albus etwas ratlos, umarmte seine Eltern zum Abschied, und sagte dann zu dem Elfen, der seinen Koffer bereits per Schwebezauber angehoben hatte: „Wir können.“

„Darf ich fragen, ob der junge Herr lieber per Flohnetzwerk oder per Seit-an-Seit-Apparieren zu reisen wünschen?“

„Flohnetzwerk ist bequemer, finde ich…“

Abermals verneigte sich der Elf. „Sehr wohl. Gestatten der junge Herr bitte, dass ich vorauseile, um seine Ankunft zu melden.“

 

Als Albus in der großen Empfangshalle des Manors aus dem Kamin stieg, strahlte Scorpius ihm schon entgegen. Die beiden umarmten sich kurz, dann sagte Scorpius zu dem Hauselfen: „Es ist gut, Blubber, ich bringe unseren Gast selbst nach oben.“

Scorpius wollte den Koffer, der neben dem Elfen schwebte, an sich nehmen, sah sich aber durch dessen energisches Räuspern daran gehindert.

„Ich fürchte“, sagte Blubber mit unbewegter Miene, „der junge Gnädige Herr verkennen die Standeswidrigkeit eines solch beispiellosen Aktes. Teile der magischen Gemeinschaften könnten dies als durchaus skandalös erachten.“

„Na gut“, ächzte Scorpius resigniert, „dann nehmen Sie den Koffer und gehen uns voraus.“

Der Elf verneigte sich fast bis zum Boden. „Wie der junge Gnädige Herr wünschen.“

„Ihr habt noch Hauselfen?“, fragte Albus, als sie Blubber über eine prachtvolle Marmortreppe in die erste Etage folgten. „Ich dachte, meine Tante hätte die Elfen befreit.“

In der Tat war die Befreiung der Elfen, Hermines altes Herzensanliegen, ihre zweite Tat als Ministerin gewesen. Die erste war die Erstellung der Liste verbotener Ausdrücke.

„Sie hat den Zauber aufgehoben, der auf ihnen lag“, antwortete Scorpius, „aber die Elfen dienten uns weiter wie eh und je. Dann hat sie verfügt, dass sie bezahlt werden müssen. Als wir ihnen das mitteilten, dachte ich, gleich bricht der Elfenaufstand aus, so beleidigt waren sie. Sie fühlten sich entehrt. Wir mussten Stein und Bein schwören, dass nicht wir, sondern die Zaubereiministerin daran schuld war. Schließlich ließen sie sich doch dazu überreden, eine Bezahlung anzunehmen.“

„Nicht viel, nehme ich an?“, meinte Albus.

„So wenig, dass es mir peinlich wäre, dir die Summe zu nennen. Aber wir konnten nichts machen, mehr hätten sie nicht akzeptiert.“

„Dann hat sich praktisch nichts geändert?“, fragte Albus enttäuscht, denn er war sehr stolz darauf gewesen, der Neffe der Elfenbefreierin zu sein, als die Hermine im Tagespropheten gefeiert wurde.

„Zwei Dinge haben sich geändert“, erwiderte Scorpius, „nämlich erstens, dass wir sie endlich anständig einkleiden können, ohne dass sie uns verdächtigen, wir wollten sie loswerden. Das ist sehr gut, in Livree machen sie doch ganz anders was her als in den schmuddeligen Spültüchern, die sie vorher trugen. Und zweitens“, seufzte er, „können wir jetzt praktisch überhaupt nichts mehr selbst machen, sonst glauben sie, wir seien ihrer Dienste überdrüssig. Du hast es ja gesehen: Ich darf dich nicht abholen, darf deinen Koffer nicht tragen und so weiter.“

„Mach’s doch einfach trotzdem“, meinte Albus, „ich meine, ihr seid doch die Chefs hier?“

Scorpius lächelte süßsauer. „Mach das mal, wenn dein Hauself dir mit Selbstmord droht.“

Während sie miteinander sprachen, sah Albus sich neugierig um. Ein solches Haus hatte er noch nie von innen gesehen. Dass die Malfoys ihren Familiensitz ein Manor nannten, hätte ein Kontinentaleuropäer vermutlich als typisch britisches Understatement aufgefasst. Es war ein Schloss. Von den Marmorfußböden über die Holzvertäfelungen bis hin zu den kunstvoll geschnitzten Stuhlbeinen war alles edel und gediegen und roch nach sehr altem Geld.

„Lebst du eigentlich gerne hier?“, wollte Albus wissen.

Scorpius wusste, was Albus meinte, und lächelte.

„Sagen wir, ich kenne es nicht anders und habe mich daran gewöhnt, in einem Haus zu leben, in dem man sein Zimmer nur verlassen kann, wenn man wie aus dem Ei gepellt aussieht. In diesem Kasten kommt man gar nicht auf die Idee, es irgendwie anders zu machen, aber manchmal hätte ich es schon ganz gern etwas gemütlicher. Dass deine Eltern dir manchmal erlauben, im Schlafanzug am Frühstückstisch zu sitzen“, sagte er verzückt, „ist toll. Meinst du, ich darf das auch, wenn ich euch mal besuchen komme?“

Albus musste lachen. „Bestimmt!“

Sie betraten nun das für Albus bestimmte Zimmer, das in seiner Pracht, aber auch in seinem Rokoko-Stil den Räumen ähnelte, die Albus und Ginny in der ehemaligen Kammer des Schreckens für Hermine eingerichtet hatten.

„Wow!“, staunte Albus. „Hier könntet ihr einen König unterbringen!“

„Wir legen Wert darauf, dass unsere Gäste sich in unserem Hause als Könige fühlen“, antwortete Scorpius mit der ihm eigenen Grandezza, während Blubber Albus‘ Koffer öffnete und mit einem bloßen Wink seiner Hand seine Kleidungsstücke wohlgeordnet im Kleiderschrank verschwinden ließ.

Dann verbeugte der Elf sich vor Albus und sagte: „Die Familie empfängt den jungen Herrn in zehn Minuten im großen Salon.“

„Und danach gibt es Mittagessen“, fügte Scorpius hinzu, nachdem Blubber den Raum verlassen hatte.

 

Am nächsten Vormittag gingen Albus und Scorpius in eine eigens für Zauberübungen vorgesehene Halle des Schlosses, denn Albus hatte seinem Freund versprochen, ihm die Zauber beizubringen, die er mit den Unbestechlichen in den DA-Stunden geübt hatte. Im Manor konnte Scorpius das auch als Minderjähriger gefahrlos tun, das Schloss war vor den Aufspürzaubern des Ministeriums geschützt.

„Du hast meine Leute schwer beeindruckt“, sagte Scorpius beiläufig, als sie durch die schier endlosen Korridore des Manors gingen.

„Ach ja?“ Albus war sich des vorzüglichen Eindrucks, den er bei Erwachsenen hinterließ, immer noch nicht so recht bewusst.

„Ja. Mein Großvater meinte, ich hätte eine sehr glückliche Hand bei der Auswahl meiner Freunde.“ Er grinste zufrieden.

„Ja, ich hatte auch zeitweise das Gefühl, dass sie mich ab und zu beobachteten.“

„Ab und zu?“ Scorpius grinste wieder. „Sie haben dich die ganze Zeit beobachtet. Unter anderem deshalb bist du eingeladen worden. Sie wollten dich unter die Lupe nehmen, um sicherzugehen, dass ich mit dem Richtigen befreundet bin.“

„Mit dem Richtigen?“ Albus blieb stehen und starrte ihn entgeistert an. „Ich meine, wer wäre denn der Falsche? Und wieso kümmern sich deine Eltern und Großeltern darum? Es ist doch deine Sache, mit wem du befreundet bist.“

„In Kreisen wie unseren ist das ein bisschen anders“, erwiderte Scorpius. „Du fragst, wer der Falsche gewesen wäre. Der Falsche wäre zum Beispiel einer gewesen, der die Pracht und den Luxus hier mit Missgunst oder Gier betrachtet hätte. Das hast du nicht getan, du hast dich nur neugierig und interessiert umgesehen, weil du ein solches Haus wie unseres wahrscheinlich noch nie gesehen hast. Weißt du, wir sind ja nun einmal ziemlich reich, aber wie alle anderen Menschen wollen auch wir echte Freunde haben, also niemanden, der uns wegen unseres Geldes mag, aber auch niemanden, der deswegen Komplexe hat, neidisch ist und uns insgeheim hasst.“

„Das verstehe ich“, meinte Albus. „Und wer wäre noch der Falsche gewesen?“

„Jemand, der einen labilen, unkalkulierbaren Charakter hat. Auf uns können sich unsere Freunde immer verlassen, und zwar ein Leben lang. Das heißt aber, dass wir umgekehrt ebenfalls Freunde haben möchten, auf die wir uns verlassen können, und auch das ein Leben lang. Und da Kinder nicht unbedingt die Menschenkenntnis haben, das zu beurteilen – obwohl der Zauberer-Hochadel seine Kinder von klein auf dazu erzieht, sich Menschen genau anzusehen –, machen die Erwachsenen sich ein eigenes Bild von unseren Freunden.“

„Dann waren die Gespräche gestern so eine Art Prüfung?“

„So etwas Ähnliches“, sagte Scorpius, „und du hast sie mit Bravour bestanden.“

„Und wenn ich durchgefallen wäre?“

„Ich wusste, dass du nicht durchfallen würdest“, erwiderte Scorpius gelassen.

„Ja, aber nur einmal angenommen“, bohrte Albus nach. „Wärst du dann nicht mehr mein Freund?“

Nun war es Scorpius, der stehenblieb und Albus ins Gesicht sah. „Das glaubst du jetzt nicht wirklich, oder?“

„Na ja“, meinte Albus etwas verunsichert, „du sagst ja selber, dass bei euch alles ein bisschen anders ist, also woher soll ich es wissen?“

„Ich verstehe. Also, du wärst dann immer noch mein Freund, aber eben nur mein Freund. So aber darfst du dich als Freund des Hauses Malfoy betrachten.“

„Und was heißt das?“

„Das heißt, dass die Familie Malfoy unsere Freundschaft unterstützt und dich nie im Stich lassen wird, wenn du ihre Hilfe brauchst, und wir umgekehrt darauf vertrauen, dass du es auch nicht tun würdest.“

„Wie sollte ich euch denn helfen?“, fragte Albus fast ein wenig belustigt. „Ihr habt doch alles, was man haben kann, nicht nur Geld…“

„Im Laufe eines ganzen Lebens ergeben sich genug Gelegenheiten, verlass dich drauf.“

„Könnte eigentlich jemand wie Roy auch in dieser Weise euer Freund sein?“ Die Frage kam Albus spontan in den Sinn.

„Hm, das wäre schwieriger.“

„Weil er muggelstämmig ist?“

„Er ist ein Slytherin, da kann er sich seine Muggelstämmigkeit sozusagen leisten“, meinte Scorpius. „Ich werde auch nie vergessen, wie er sich gleich am ersten Tag für mich eingesetzt hat, bei dieser Schlammblut-Geschichte…“

„O je“, warf Albus ein, „gleich apparieren die Ministeriumsleute!“

„Nicht bei uns“, grinste Scorpius, „das Manor ist vor dem Tabuzauber des Ministeriums durch den gleichen Gegenzauber geschützt wie Hogwarts und das Ministerium selbst. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, also ich hoffe sehr, dass ich mich irgendwann einmal bei MacAllister revanchieren kann. Er ist genau einer, der mein Freund sein könnte, aber kaum als Freund der Familie akzeptiert würde, so wie du.“

„Warum?“

„Weil sie instinktiv spüren würden, dass er nicht zu uns passt. Er ist so anders, so eigensinnig, dass er für die Familie unkalkulierbar wäre. Respektieren würden sie ihn bestimmt – wer respektiert ihn nicht? –, und sie geben auch zu, dass er für Slytherin wichtig ist, gerade weil er so eigensinnig ist. Aber er ist eben… nun ja, eben anders.“

„Wenn er das aber nicht wäre…“

„…könnte er ein Freund der Familie durchaus sein, es würde jedenfalls nicht an seiner Herkunft scheitern. Allerdings könnte er auch dann kein Mitglied der Familie werden, das heißt, er könnte zum Beispiel nicht meine Schwester heiraten, während du das sehr wohl könntest.“

„Meine Güte“, stöhnte Albus, „ist das kompliziert bei euch! Warum macht ihr euch das Leben nicht ein bisschen leichter?“

„Weil wir nicht seit achthundert Jahren zu den führenden Zaubererfamilien des Landes gehören würden, wenn wir es uns leichter machten.“

40 – Sind wir noch Freunde?

 

Scorpius kehrte von der Toilette des Hogwarts-Expresses zurück, der sie an diesem ersten Januarsonntag zurückbrachte, setzte sich wieder auf seinen Fensterplatz, lehnte sich nach vorn und forderte Albus, der ihm gegenübersaß, dadurch auf, das gleiche zu tun. Offenbar wollte er nicht, dass Bernie, Jennifer, Lance und Malcolm mithörten.

Rose Weasley steht draußen auf dem Gang“, sagte er leise.

Albus runzelte die Stirn. „Was macht die denn hier? In diesem Waggon sind nur Slytherins…“

Scorpius sah ihn mitleidig an, als sei Albus etwas schwer von Begriff.

„Sagen wir so, sie wirkte ziemlich enttäuscht, als sie mich aus unserem Abteil kommen sah. Sie hatte wohl auf einen Anderen gehofft.“

„Wenn sie etwas von mir will, muss sie schon herkommen“, brummte Albus schroff.

„Und riskieren, dass du ihr vor versammelter Mannschaft eine Abfuhr erteilst? Ich glaube, das würde sie nicht verkraften.“ Und da Albus nicht antwortete, fügte Scorpius hinzu: „Sie sieht ziemlich unglücklich aus.“ Albus schwieg immer noch. „Und sie ist immerhin bis in den Slytherin-Waggon gekommen.“

„Was willst du mir jetzt eigentlich sagen?“, fragte Albus leicht gereizt.

„Dass du ein viel zu edler Ritter bist, um die Dame deines Herzens schmachten zu lassen, wenn sie unglücklich ist und dich braucht.“

„Dame meines Herzens – wie kommst du denn auf diesen Blödsinn?“, wehrte Albus ab, konnte aber nicht verhindern, dass er dabei rosa anlief.

„Ach, nur so ein unbestimmtes Gefühl“, meinte Scorpius, lehnte sich zurück und grinste ihn süffisant an.

Albus, der sich durchschaut fühlte, erwiderte den Blick unwirsch. Wenn die Malfoys ihre Kinder dazu erzogen, sich ihre Mitmenschen ganz genau anzusehen, so war diese Erziehung bei Scorpius wirklich von durchschlagendem Erfolg gekrönt!

Schließlich zog Albus seinen Zauberstab, malte ein imaginäres Rechteck auf die Zugscheibe und tippte dagegen: „Speculo.“ Das Rechteck verwandelte sich in einen Spiegel. Unter den verwunderten Blicken aller Mitreisenden außer Scorpius tat Albus sein Bestes, das widerspenstige Potter-Haar halbwegs zu bändigen, und trat dann ohne ein weiteres Wort auf den Gang hinaus. Er würde so tun, als müsse er rein zufällig zur Toilette.

Rose wandte ihm den Kopf zu, und für einen kurzen Augenblick wollte ein Lächeln aufflackern – dann zuckte sie zurück und tat wieder so, als sei sie ganz in den Anblick der trostlosen Landschaft vertieft, die im trüben Winterwetter vor dem Fenster vorbeiflog.

Fest entschlossen, keine Notiz von ihr zu nehmen, sofern sie es ihrerseits nicht tat, marschierte er erhobenen Hauptes an ihr vorbei. Zwei Schritte später hörte er sie endlich fragen:

„Al?“

Er drehte sich zu ihr um.

Wenn Scorpius fand, sie sehe unglücklich aus, so hatte er noch deutlich untertrieben. Sie sah zum Erbarmen aus. Bleich, zitternd und zerbrechlich sah sie ihn aus geröteten Augen an.

„Al“, fragte sie leise, „sind wir noch Freunde?“

Albus zögerte, aber nur ganz kurz.

„Natürlich, Rose, natürlich sind wir noch Freunde!“

Rose atmete deutlich auf. Sie sahen sich schweigend an.

„Tut mir leid, wie das alles gelaufen ist“, sagte sie schließlich.

„Mir auch“, antwortete er.

Er hätte es unpassend gefunden, ihr jetzt vorzurechnen, dass es ihre Schuld gewesen sei, es war ja auch völlig egal.

„Ich habe sonst niemanden, mit dem ich reden kann.“

„Mit mir kannst du immer reden“, sagte er sanft. „Ist denn… ist etwas passiert?“

Sie schluckte.

„Ich glaube…“ Sie stockte. „Ich glaube, meine Eltern lassen sich scheiden!“

„Was?“, rief Albus entsetzt.

„Seit Weihnachten haben sie nur noch gestritten.“ Tränen liefen jetzt über ihre Wangen. „Mein Vater sagt, sie würde die ganze Familie gegen sich aufbringen, und er könne ihretwegen nicht mehr mit seinem besten Freund reden. Er nennt sie stur und fanatisch, einmal hat er sogar gesagt, sie sei schlimmer als die Todesser…“

Sie schluchzte.

„… und Mama nennt ihn einen Verräter und sogar einen… Schlappschwanz, und sie hat geschrien, auf so einen wie ihn könne sie verzichten und mit so etwas wolle sie nicht mehr verheiratet sein…“

Sie schluchzte so heftig auf, dass Albus nicht mehr anders konnte: Er umarmte sie, drückte sie fest an sich und strich ihr zärtlich durchs Haar. Die spöttischen Blicke der Zweitklässler aus dem Abteil, vor dem sie standen, waren ihm egal.

„So schnell lassen die sich nicht scheiden“, sagte er tröstend. „Deine Eltern waren schon ineinander verliebt, als sie noch nicht viel älter waren als wir heute, ich weiß es von meinem Papa.“

„Das weiß ich auch“, erwiderte sie, „aber du hast sie nicht gehört, das war nicht irgendein Krach, wie es ihn immer wieder einmal gibt, das war richtiger Hass. Vor allem meine Mutter hättest du sehen sollen, ich habe sie gar nicht mehr wiedererkannt, als ob sie gar nicht sie selbst wäre, so kalt, so… Du kannst es dir nicht vorstellen!“

„Doch“, sagte Albus, der sie immer noch in den Armen hielt. „Doch, ich habe es auch schon an ihr erlebt. Ich hätte aber nicht gedacht, dass sie zu Hause auch so ist.“

„Was soll ich denn jetzt machen?“, stöhnte sie verzweifelt. „Ich habe jede Nacht Alpträume, dass ich in Hogwarts eine Eule kriege, dass meine Eltern nicht mehr meine Eltern sind…“

„Es wird alles gut werden, Rose, ich versprech’s dir.“

Sie lockerte die Umarmung ein wenig und sah ihn traurig an. „Wie willst du das versprechen? Du kannst doch noch weniger tun als ich.“

Albus hätte etwas darum gegeben, ihr jetzt sagen zu dürfen, dass der Fluch, unter dem ihre Mutter stand, bald gebrochen sein würde, aber das kam selbstverständlich nicht in Frage, er hatte ohnehin schon fast zu viel gesagt.

„Nein, natürlich kann ich nichts tun, aber…“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. „Es wird alles gut werden. Denk nicht nach und glaub mir einfach.“

Sie schmiegte, ja klammerte sich fast an ihn.

„Es ist so gut, dass du da bist.“

„Ich glaube, das Vertrauensschülerabteil ist jetzt leer. Lass uns dort hingehen, diese Zweitklässler hier gehen mir langsam auf die Nerven.“

Den Rest der Fahrt verbrachte Albus damit, ihr Mut zuzusprechen, sie abzulenken und hier und da sogar zum Lachen zu bringen. Als sie in Hogsmeade ankamen, war sie beinahe fröhlich.