46 – Plan B

 

Zur selben Zeit, als die Malfoys über ihr weiteres Vorgehen beratschlagten, lächelte Albus in der großen Halle verträumt vor sich hin. Vor ihm lag der Tagesprophet, der auf Seite 1 mit der Resolution der Gryffindors samt allen Unterschriften aufmachte.

„Nanu, Albus?“ Roy hatte sich neben ihm aufgebaut und grinste fast von einem Ohr zum anderen. „Ich dachte, ich müsste dich nach dem hier“ – er deutete auf den Tagespropheten – „erst wieder aufbauen, stattdessen schaust du drein, als wäre gerade Weihnachten.“

„Sowas Ähnliches“, strahlte Albus ihn an. Und da Roy fragend die Brauen hob: „Sie hat nicht unterschrieben!“

„Wer?“

Rose. Rose Weasley! Sie hat nicht unterschrieben! Obwohl sie damit nicht nur ihr Haus, sondern sogar ihre Mutter gegen sich aufbringt! Hermine wird toben, wenn sie das liest!“, rief er glückselig. Dann stutzte er: „Und was ist mit dir, Roy? Du siehst auch aus, als ob gerade Weihnachten wäre.“

Roy lachte: „Auch sowas Ähnliches!“

Albus war in Gedanken schon wieder bei Rose. „Ich bin so stolz auf sie, sie ist so mutig – ich könnte sie küssen!“

„Tu dir keinen Zwang an“, meinte Roy grinsend. „Da kommt sie gerade!“

Albus fuhr herum, aber sein glückliches Strahlen fiel in sich zusammen, als er Rose sah. Sie war nicht so bleich und verweint wie gestern und am Sonntag, aber sehr ernst. Nach Küssen war ihr jetzt bestimmt nicht zumute.

„Es ist passiert!“, sagte sie, setzte sich zu Albus und legte zwei Briefe auf den Tisch. „Meine Mama hat meinen Papa verlassen!“

Albus fragte „Darf ich?“, und nahm die beiden Briefe: knapp, kühl und sachlich der von Hermine, ausführlich und voller Wärme der von Ron. Dass Ron seiner Tochter einschärfte, Hermine auch in Zukunft ganz oft zu schreiben, rührte Albus besonders.

Sie stützte ihr Kinn auf ihre Hände, starrte ins Leere und schüttelte den Kopf.

„Ich kann nicht einmal weinen, ich fühle mich nur leer – die ganze Zeit seit Weihnachten ist wie ein Alptraum, der immer schlimmer wird. Und ich wache einfach nicht auf!“ Sie sah zu Albus und lächelte schwach. „Na gut, ab und zu schon. Wenn du da bist.“

Albus nahm ihre Hand in seine.

 

***

 

Es war schon abends viertel nach sieben, als sich die Tür des Geheimraums öffnete, in dem die Unbestechlichen auf Ginny warteten. Sie zogen reflexartig ihre Zauberstäbe, dann erst machte Ginny sich sichtbar.

„Mama, wir dachten, du würdest apparieren!“

„Ich bin schon seit anderthalb Stunden in Hogwarts“, entgegnete Ginny, während sie ihren Sohn kurz umarmte. „Ich habe lange mit James gesprochen, nachher wäre es zu spät gewesen.“ Sie wandte sich an Roy: „Was hast du bis jetzt unternommen?“

„Alle Slytherins haben ihren teils einflussreichen Familien klargemacht, dass wir von ihnen jede Unterstützung erwarten, um Harry freizubekommen. Die Malfoys haben schon umfassende Hilfe zugesagt. Außerdem hat Bernie seinen Vater, den Muggelpremier, bearbeitet, und im Übrigen haben wir Albus den Rücken gestärkt. Und du, was hast du unternommen?“

„Mit dem Anwalt die Strategie besprochen. Wir gehen auf einen glatten Freispruch aus…“

„…den Hermine politisch nicht überleben kann“, ergänzte Roy.

Ginny nickte. In ihrem Blick lag wieder der gewisse stählerne Glanz, den Albus schon einmal an ihr gesehen hatte.

„Der Freispruch ist Plan A“, sagte sie. „Auf den Zaubergamot wird mit allen Mitteln Einfluss genommen. Ich bin zuversichtlich, aber selbstverständlich könnte der Plan auch scheitern. Wir brauchen einen Plan B.“

„Ich nehme an“, fragte Ares, „ein Attentat auf die Ministerin ziehst du immer noch nicht in Erwägung?“

„Nein. Harry würde seines Lebens nicht mehr froh werden, wenn es mit ihrem bezahlt worden wäre.“

„Ich bewundere dich“, sagte Roy, „ich glaube, wenn Arabella in derselben Lage wäre, würde ich auf Menschenleben keine Rücksicht mehr nehmen.“

„Und wenn es zum Beispiel Julians Leben wäre?“, wollte Ginny wissen. „Wenn er unter diesem Fluch stünde?“

Julian half Roy aus der Verlegenheit: „Auch dann würde er es nicht tun. Und ich billige es. Er könnte nicht anders.“

„Gut“, sagte Ginny, „das müsst ihr wissen. Ich bleibe bei meiner Entscheidung und weiß, dass Harry es auch täte. Wir können auch nicht anders.“

„Gut, dass wir darüber gesprochen haben“, meldete sich Orpheus nun schmunzelnd. „Es geht also um eine Gefangenenbefreiung, richtig?“

„Richtig“, bestätigte Ginny. „Kann ich auf euch zählen?“

„Selbstverständlich, was für eine Frage!“, antwortete Roy stellvertretend für Alle.

„Wir wissen nicht wie viel Zeit uns zwischen einem Schuldspruch und der Hinrichtung bleibt“, erläuterte Ginny. Es könnten Wochen, aber auch nur Stunden sein. Wir brauchen einen Plan, der jederzeit aus dem Stand umgesetzt werden kann.“

„Wir brauchen mehr als nur einen Plan“, warf Ares ein. „Wenn wir Pech haben, bleiben uns zwischen einer Verurteilung und der Hinrichtung nicht einmal Stunden, sondern nur Minuten, wenn das Urteil nämlich direkt im Gebäude des Ministeriums vollstreckt wird. In diesem Fall müssen wir die Befreiung direkt aus dem Gerichtssaal versuchen. Einen zweiten Plan, nämlich die Befreiung aus Askaban brauchen wir für den Fall, dass sich bereits vor dem Urteil im Zaubergamot eine Mehrheit für die Verurteilung abzeichnet. In diesem Fall sollten wir das Urteil gar nicht erst abwarten und ihn aus Askaban befreien. Eine Befreiung aus Askaban ist schwierig, aber sicherlich immer noch leichter als direkt aus dem Ministerium.“

„Woher sollen wir wissen, was im Zaubergamot vor sich geht?“, fragte Albus.

„Die Malfoys halten uns auf dem Laufenden“, entgegnete Ginny. „Sie haben zu vielen Mitgliedern Kontakt. Unser Anwalt wird auch gut informiert sein.“

„Das sollte also das geringste Problem sein“, meinte Roy. „Nur werden sowohl Askaban als auch das Ministerium schwer bewacht sein. Um Pläne auszuarbeiten, müssen wir etwas über die Verhältnisse und die Sicherheitsvorkehrungen vor Ort wissen.“

„Was Askaban angeht, kein Problem“, sagte Ares. „Mein Vater war in Askaban, etliche seiner alten Kameraden waren dort, zum Teil sind sie erst vor ein oder zwei Jahren freigelassen worden.“

„Mein Großvater kennt sich auch gut dort aus“, fügte Julian hinzu.

„Gut, dann noch eine Frage“, kam Roy zum nächsten Punkt. „Wir sind ganze sieben Personen. Je nach Plan könnte das genügen oder auch nicht. Wie viele Leute würden sich noch an einer Gefangenenbefreiung beteiligen?“

„Der ganze Weasley-Clan“, erwiderte Ginny, „vor allem jetzt, wo Hermine Ron verlassen hat: meine Eltern, alle meine Brüder außer Percy, außerdem Fleur, James, Victoire… außer mir mindestens neun.“

„Mein Großvater“, ergänzte Julian.

„Mein Vater“, fügte Ares hinzu. „Für so etwas ist er bestimmt zu haben. Außerdem werde ich diskret fragen, wie viele seiner Kumpels mitmachen. Ein Dutzend könnte ich mir schon vorstellen. Am besten fragen wir gleich nach, wenn wir Erkundigungen über Askaban einziehen.“

Ginny sah die beiden zweifelnd an. „Und ihr glaubt wirklich, die alten Todesser helfen uns, ausgerechnet Harry Potter herauszuholen?“

„Warum nicht?“, fragte Ares achselzuckend. „Sie alle hassen das Ministerium, sie alle haben noch ein Hühnchen mit den Dementoren zu rupfen. Außerdem helfen sie Harry nicht. Du hilfst Harry, wir helfen dir, mein Vater hilft uns, und die Todesser helfen meinem Vater. Es könnte höchstens sein, dass sie eine Bedingung stellen.“

„Die da wäre?“, fragte Ginny misstrauisch. Die Aussicht, mit echten Todessern zusammenzuarbeiten, gefiel ihr ungefähr so wie die auf einen Kuhfladen zum Mittagessen.

„Dass auch die noch einsitzenden Todesser befreit werden.“

„Begeistert wäre ich davon nicht“, sagte Ginny, „aber ich werde nicht zulassen, dass mein Mann stirbt, nur um Andere im Gefängnis zu halten.“

„Dann wäre das also geklärt“, fasste Roy zusammen, „Julian und Ares, ihr nehmt Kontakt zu den Todessern auf und holt jede Information über die Bedingungen in Askaban heraus, die ihr bekommen könnt. Nächster Punkt: Das Ministerium.“

„Das übernimmt mein Vater“, antwortete Ginny. „Die Räumlichkeiten kennt er wie seine Westentasche, und was die Sicherheitsmaßnahmen angeht, so weiß er genau, wen er fragen und wem er vertrauen kann. Außerdem könnte ich Draco Malfoy bitten, sich umzuhören, vor allem bei den Slytherin-Kollegen. Am besten wäre es natürlich, einen der Auroren als Informanten zu haben. Ich kenne einige Kollegen meines Mannes, bin aber mit keinem so eng befreundet, dass ich sicher auf ihn zählen würde.“

„Gracchus Barclay vielleicht?“, fragte Arabella.

Ginny schüttelte den Kopf. „Barclay ist bestimmt nicht glücklich über die Entwicklung, aber er ist Beamter bis auf die Knochen und würde nie etwas Illegales tun. Vergesst Barclay. – Ich muss es mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen, vielleicht fällt mir jemand ein.“

„Was wissen wir bisher schon über Askaban?“, wollte Roy wissen. „Kennen wir zum Beispiel die genaue geographische Lage?“

„Mein Mann hat mir einiges über Askaban erzählt“, antwortete Ginny, „weil er manchmal dienstlich dort zu tun hatte. Es liegt vor der schottischen Küste ungefähr fünfzehn Meilen östlich des Fischerdorfs Branness auf einer Insel in der Nordsee…“

„Englische Meilen oder Seemeilen?“, hakte Roy nach.

„Englische Meilen, nehme ich an, Harry rechnet nicht in Seemeilen. Für Muggel ist es nicht zu orten, und ihre Schiffe werden magisch daran vorbeigelotst. Für uns ist es ebenso gut sichtbar wie Hogwarts. Askaban liegt unter einer halbkugelförmigen magischen Schutzglocke, das heißt man kann dort nicht apparieren oder disapparieren, und wer unter einem Unsichtbarkeitszauber in die Schutzglocke eindringt, wird automatisch sichtbar. Flüche oder Zauber von außen prallen an der Schutzglocke ab, aber innerhalb der Glocke kann man sie anwenden.“

„Das sind ja fürs erste gar nicht so wenige Informationen“, nickte Roy zufrieden. „Wie groß ist der Radius der Schutzglocke?“

„Eine Meile.“

„Wenn man dort nicht apparieren kann“, fragte Julian, „wie bringen sie dann ihre Gefangenen hin?“

„Soviel ich weiß, gibt es eine kleine Insel knapp außerhalb der Glocke, auf der sie apparieren. Von dort aus bringen sie die Gefangenen auf einem kleinen Schiff nach Askaban. Das ist jedenfalls das normale Verfahren.“

Roy dachte laut und konzentriert nach: „Wir brauchen die Auskünfte der ehemaligen Gefangenen, um Genaues über das Innere der Festung zu erfahren: die genaue Lage der Zellentrakte, Treppen, Türen und so weiter.“ Er stockte, überlegte einen Moment, dann fuhr er fort:

„Was Wach- und Sperranlagen, die Stärke der Besatzung, mögliche Angriffspunkte und so weiter angeht, also wo es um Schwachstellen für ein Eindringen geht, sind ihre Auskünfte möglicherweise nicht präzise genug, weil sie hauptsächlich im Gebäudeinneren waren. Außerdem dürften ihre Kennnisse veraltet sein. Hermine hat die Dementoren erst vor Kurzem zurückgeholt, ich glaube nicht, dass sie einfach die Dienstvorschriften von vor zwanzig Jahren übernommen haben.“

„Und das heißt?“, fragte Arabella.

„Dass wir uns nicht nur auf Auskünfte aus zweiter Hand verlassen dürfen“, erwiderte Roy. „Wir müssen uns selbst ein Bild machen und die Festung auskundschaften – und zwar so genau wie nur möglich. Das übernehme ich.“

Alle starrten ihn mit offenem Mund an. „Wie willst du das machen?“, wollte Julian wissen. „Aus einer Meile Entfernung wirst du nicht viel sehen, und wenn du mit einem Besen näher heranfliegst, hast du sofort die Dementoren auf dem Hals.

Roy grinste. „Lass mich mal machen.“

47 – Askaban

 

Am Morgen des folgenden Samstags apparierte Roy unsichtbar im kleinen Fischerhafen von Branness, in dem gerade die Kutter entladen wurden, die von ihrer nächtlichen Fangfahrt zurückkehrten. Zahllose Möwen kreisten um die Boote, um sich den einen oder anderen Fisch zu schnappen.

Roy wartete, bis das Treiben sich etwas gelegt hatte und die meisten Fischer die Pier verlassen hatten, um sich in einem Pub aufzuwärmen oder nach Hause zu gehen. Dann bestieg er, immer noch unsichtbar, eines der verlassenen Boote, auf dessen Reling einige Silbermöwen es sich bequem gemacht hatten. Er suchte sich eine aus, die ihm besonders kräftig zu sein schien, und richtete den Zauberstab auf sie:

Petrificus totalus“, murmelte er und fing gleich darauf die Möwe auf, die aufs Deck zu fallen drohte. Er legte sie behutsam auf die Planken.

Wäre einer der Fischer in diesem Moment zurückgekehrt, so hätte er sich zweifellos über die leuchtend blauen Lichtstreifen gewundert, die etwa eine Minute lang über das Gefieder der Möwe pulsierten.

Roy hob den Petrificus-Zauber wieder auf. Die Möwe sah sich einen Augenblick lang verdattert um, dann breitete sie die Flügel aus und beeilte sich, gehörigen Abstand zu diesem unheimlichen Kutter zu gewinnen, auf dem so seltsame Dinge geschahen. Sie ließ sich in einiger Entfernung auf der Mastspitze eines Segelbootes nieder und begann ausgiebig ihr Gefieder zu putzen.

Auf dem Deck des Kutters tauchte nun wie aus dem Nichts eine weitere Möwe auf, die ebenfalls ihre Schwingen ausbreitete und unter dem wolkenlosen Morgenhimmel in östlicher Richtung davonflog.

 

Roy hatte in der Nacht nach der letzten Lagebesprechung wieder einmal die Verbotene Abteilung besucht und sich über Animagus-Zauber kundig gemacht. Dass es verboten war, sich ohne ausdrückliche Genehmigung des Ministeriums zum Animagus zu machen, kümmerte ihn wenig: So ziemlich alles, was er in den letzten drei oder vier Monaten getan hatte, war verboten. Allerdings schien die Verwandlung in einen Animagus knifflig und nicht ganz ungefährlich zu sein. Daher hatte er noch am Freitagabend Minerva McGonagall – einen gemeldeten und zugelassenen Katzen-Animagus – in ihrem Büro aufgesucht, sie in seinen Plan eingeweiht und um Hilfe gebeten.

McGonagall hatte ihm eine ganze Reihe wichtiger Tipps gegeben, ohne die sein Vorhaben in der Tat gescheitert wäre. Dann hatte sie ihn ernst und eindringlich ermahnt:

„Dass ich Ihnen das alles sage, MacAllister, dürfen Sie als erstrangigen Vertrauensbeweis ansehen! Ich täte es trotzdem nicht, wenn es nicht um Harry ginge und Sie nicht der Einzige wären, dem ich zutraue, seinen Kopf zu retten.“

„Das ehrt mich, Frau Professor. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Ach, und weil ich schon einmal hier bin: Wir werden demnächst, so Gott will, einen neuen Zaubereiminister brauchen, eine Person von untadeligem…“

„Man ist bereits an mich herangetreten“, unterbrach ihn die Schulleiterin, „und ich habe zugesagt, dass die Ablösung der Ministerin nicht am Fehlen einer Gegenkandidatin scheitern wird.“

Sie erhob sich.

„Das braucht aber nicht Ihr Problem zu sein, MacAllister, darum kümmern sich Leute, die strategisch günstiger platziert sind als Sie. Konzentrieren Sie sich darauf, Harry herauszuholen, falls er verurteilt wird.“

„Natürlich, Frau Professor. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

„Ich Ihnen auch.“

Roy war schon an der Tür, da rief McGonagall noch einmal:

„MacAllister?“

„Ja?“ Roy drehte sich um. Zum ersten Mal nahm er in dem sonst so strengen Gesicht der Schulleiterin so etwas wie einen mütterlichen Zug wahr.

„Passen Sie gut auf sich auf.“

„Das werde ich tun. Ich verspreche es Ihnen.“

 

Roy gewann schnell an Höhe. Da er keinen Kompass benutzen konnte, wollte er einen möglichst großen Sichtradius haben, um nicht womöglich an der Gefängnisinsel vorbeizufliegen. In der Ferne gewahrte er einen Punkt, der nach einer Insel aussah. Er ging in einen langen Sinkflug über und konnte nach und nach Einzelheiten ausmachen: In der Mitte der fast kreisrunden Insel, die vielleicht vierhundert Meter Durchmesser hatte, erhob sich eine alte Burg mit einem hohen Turm. Die Inselküste war mit einer etwa vier Mauer hohen Mauer befestigt.

Nun, da er Askaban gefunden hatte, gab Roy der Versuchung nach, es den anderen Möwen gleichzutun und ein wenig mit dem Wind zu spielen. Selbst für einen Zauberer, der es gewohnt war, zur Fortbewegung Besen zu benutzen, war es ein einzigartiges Vergnügen, aus eigener Kraft fliegen zu können. Er ließ sich vom starken Seewind nach oben tragen, kippte zur Seite, setzte zu einem kleinen Sturzflug an, kreiste in weiten Spiralen wieder nach oben, blieb in der Luft stehen, sauste wieder nach unten, schoss knapp über die Wellen und zog wieder hoch.

Er hätte stundenlang so weitermachen können. Wenn das alles vorbei ist, dachte er, werde ich es einmal nur zum Spaß machen. Jetzt aber hatte er Wichtigeres zu tun. Er flog auf die Spitze des Burgturms und ließ sich dort nieder. Von dort würde er einen guten Überblick haben.

Roy putzte sein Gefieder – als Möwe konnte er nicht anders –, dann sah er sich um: Die äußere Mauer war von zwölf Wachtürmen gesäumt, unter deren Dächern sich Fenster befanden, die der Besatzung einen Rundumblick erlaubten. Zwischen der Mauer und der Burg erstreckte sich ringsum eine über hundertfünfzig Meter breite, unbebaute, aber gepflasterte Fläche. Man hatte sorgfältig darauf geachtet, dass keinerlei Hindernisse den Blick verstellten. Wer immer versuchte, diese Fläche zu überqueren, musste von den Besatzungen der Wachtürme und der Burg gesehen werden.  Auf der Westseite war die Mauer von einem großen Wassertor unterbrochen, das von zwei Türmen begrenzt war. Eine Art Kanal führte durch das – momentan allerdings verschlossene – Tor hindurch und ragte rund dreißig Meter auf das Gefängnisgelände, wo er an einer Anlegestelle endete. Etwas nördlich vom Tor schmiegte sich ein etwa zweihundert Meter langes und acht Meter breites flaches Steingebäude an die Mauer. Seine Fenster waren, anders als sämtliche Fenster der Burg, nicht vergittert.

Roy stieß sich von der Zinne ab, flog zu einem der Wachtürme und umkreiste ihn. Das Innere lag in einem Halbdunkel, das er, der im strahlenden Sonnenschein seine Kreise zog, nicht durchdringen konnte. Er ließ sich auf der Schattenseite auf einem der Außensimse der nicht verglasten Fenster nieder, ließ seinen Augen einen Moment Zeit, sich anzupassen, und spähte hinein. Zwei Auroren, erkennbar an ihren dunkelblauen Umhängen, schoben hier Wache – keine Dementoren, die verrichteten offensichtlich nur in der Burg ihren Dienst. Vermutlich sollte die breite Freifläche nicht nur die Gefangenen am Ausbruch hindern, sondern auch die Dementoren auf Abstand zu den Auroren halten.

Roy vergewisserte sich an einigen anderen Türmen, dass je zwei Auroren die Standardbesatzung eines Turms darstellten, dann nahm er das flache Steingebäude in Augenschein. Offenbar handelte es sich um die Unterkunft der Auroren, von denen er einige in ihren Etagenbetten schlafen sehen konnte. Am Ende des Gebäudes befanden sich eine Großküche und der geräumige Speisesaal. Nachdem er durch mehrere Fenster gespäht hatte, rechnete Roy sich aus, dass die Unterkunft für etwa vierhundert Personen ausreichen musste. Da die ständige Besetzung der zwölf Wachtürme mit je zwei Auroren in drei Acht-Stunden-Schichten täglich nicht mehr als zweiundsiebzig Beamte erforderte, dürfte die Normalbesatzung, selbst wenn man großzügig Küchen- und Verwaltungspersonal und eine Reserve an zusätzlichen Beamten im Bereitschaftsdienst hinzurechnete, kaum mehr als zweihundert Auroren betragen, von denen die meisten sich in ihrer Unterkunft aufhielten. Das Ministerium hielt aber Kapazitäten für eine doppelt so große Aurorenbesatzung bereit. Damit würde man rechnen müssen.

Roy umkreiste nun die Burg. Obwohl alle Fenster vergittert waren, gab es anscheinend keine oberirdischen Zellen, denn hinter allen Fenstern, durch die er spähte, konnte er Dementoren wahrnehmen, keine Gefangenen. Obwohl sie ihm sehr nahekamen, spürte er nichts von der Kälte, die sie sonst bei dem Versuch verströmten, alle Glücksgefühle aus Menschen herauszusaugen. Gegen Tiere wirkte ihre Macht offenbar nicht.

Roy sah vom Sims eines der Burgfenster aus drei Auroren auf ihre Besen steigen und steil nach oben fliegen. Nach oben? dachte er. Was wollen sie denn dort? Er folgte ihnen in einem gewissen Abstand viele hundert Meter hoch, während die Burg unter ihnen immer kleiner wurde. Als sie schon fast den Rand der Schutzglocke erreicht haben mussten, blieben die Auroren in der Luft stehen. Sie schienen auf irgendetwas zu warten.

Wie aus dem Nichts erschienen nun über ihnen drei weitere Auroren auf Besen. Sie machten bei ihren Kollegen kurz Halt, während Roy näher heranflog. „Keine besonderen Vorkommnisse“, hörte er einen der soeben aufgetauchten Auroren sagen. Besonders scharfsinnig schienen sie nicht zu sein, sonst hätten sie sich wohl gefragt, was eine Silbermöwe in fast einer Meile Höhe zu suchen hatte. Die Auroren klatschten sich ab, dann stiegen diejenigen, die Roy verfolgt hatte, weiter und verschwanden plötzlich, während die anderen sich zur Burg hinuntersinken ließen. Roy wurde klar, dass er eine Wachablösung beobachtet hatte. Offenbar kreisten je drei Auroren unsichtbar über der Festung, um etwaige Angreifer schon von weitem sehen und gegebenenfalls abwehren zu können, ohne selbst von ihnen gesehen zu werden.

Er ließ sich nun in weiten Kreisen wieder sinken und landete auf dem Turm, um die Burg selbst in Augenschein zu nehmen. Tief unter sich sah er einen quadratischen Innenhof mit etwa zwanzig Metern Seitenlänge. Die Mauern der ihn umgebenden Burg ragten so weit in die Höhe, dass kaum Licht hineinfiel. Dennoch konnte Roy einen Gefangenen ausmachen, der, bewacht von Dementoren, in diesem Hof im Kreis umherging. Roy wurde neugierig, stieß sich erneut ab und kreiste nach unten in den Innenhof, wo er sich auf einem etwa mannshohen Mauervorsprung niederließ.

Der Gefangene war Harry. Er war unverletzt und wirkte keineswegs unglücklich oder verzweifelt, eher konzentriert in sich gekehrt, fast wie ein meditierender tibetischer Mönch. Als Harry den Mauervorsprung fast erreicht hatte, stieß Roy den Kontaktruf der Silbermöwen aus. Harry blickte auf und schien sich zu wundern, anscheinend verirrten sich nur selten Möwen in den dunklen Hof. Der Gefangene, der seinen Schritt fortsetzte, und die Möwe sahen einander unverwandt an. Roy ließ erneut den Kontaktschrei ertönen, und auf Harrys Gesicht erschien einen Moment lang ein Schmunzeln.

Ein Dementor, der an der Tür wartete, die anscheinend zum Zellentrakt führte, winkte den Gefangenen zu sich heran. Offenbar war der Hofgang beendet. Roy flog los, umkreiste Harry zwei Mal, wobei er wieder den Silbermöwenschrei ausstieß, und stieg dann in spiralförmigem Flug in den Himmel. Bevor Harry wieder in dem finsteren Gebäude verschwinden musste, sah er noch einmal nach oben und blickte der Möwe nach. Er lächelte.

48 – Ginny übernimmt

 

Ginny traf sich am folgenden Mittwoch wieder im Geheimraum mit den Unbestechlichen. Offiziell durfte sie London zwar nicht verlassen, da sie aber disapparierte und niemand überprüfen konnte, wohin, stand das Verbot praktisch nur auf dem Papier.

Roy begrüßte sie: „Ich habe Harry gesehen.“

„Wie das?“, fragte Ginny mit großen Augen.

„Ich war in Gestalt einer Möwe in Askaban.“

„Als Animagus?“

Roy nickte. „Ich habe Harry beim Hofgang gesehen, er hat mir gut gefallen. Die Dementoren konnten ihm wohl nicht viel anhaben.“

„Das dachte ich mir schon“, meinte Ginny gelassen. „Als Auror hat er gelernt, bei Bedarf jedes Glücksgefühl so in seiner Seele einzuschließen, dass Dementoren es nicht absaugen können. Waren noch andere Gefangene auf dem Hof?“

„Nicht, als ich dort war.“

„Es ist nie mehr als einer gleichzeitig auf dem Hof“, meldete sich nun Julian zu Wort. „Die Gefangenen werden strikt voneinander isoliert, es gibt nicht einmal einen gemeinsamen Hofgang. Du hast Riesenglück gehabt, Harry zu sehen. Hofgang hat jeder Gefangene in Askaban nur einmal pro Woche.“

Julian war am Wochenende bei seinem Großvater gewesen und hatte eine Reihe detaillierter Pläne der Festung mitgebracht, die Rodolphus, der vierzehn Jahre lang dort inhaftiert gewesen war, aus dem Gedächtnis gezeichnet hatte.

Roy warf einen prüfenden Blick darauf. Der Plan der äußeren Anlagen entsprach in der Tat genau dem, was er selbst vor Ort vorgefunden hatte, Rodolphus musste ein hervorragendes Gedächtnis haben. Bauliche Veränderungen hatte es in Askaban seit Rodolphus‘ Ausbruch 1996 allem Anschein nach nicht gegeben.

Wichtiger waren die Pläne der drei Untergeschosse, in denen sich die Zellentrakte befanden. Die Tür, durch die Harry vom Innenhof aus hatte gehen müssen, führte zu einer Wendeltreppe, die den einzigen Zugang zu den Zellengeschossen darstellte. Alle drei Geschosse waren gleich aufgebaut: Von der Wendeltreppe aus durchquerte man zunächst den Wachraum der Dementoren, von dem aus eine Tür zum Hauptgang führte, der rund siebzig Meter lang war und von acht ebenso langen Nebengängen gekreuzt wurde, an denen die Zellen lagen, vierzig in jedem Nebengang, dreihundertzwanzig pro Geschoss, neunhundertsechzig insgesamt. Der Grundriss der Untergeschosse ragte zu allen Seiten über den der Burg hinaus.

Die Zellen waren winzig – etwa zweieinhalb Meter breit, dreieinhalb Meter tief – und boten gerade noch Platz für eine Pritsche, eine Toilette, eine Waschgelegenheit, einen kleinen Tisch und einen Stuhl.

„Meine Güte, was für Löcher“, murmelte Arabella betroffen. „Wie hält einer das aus?“

„Was Harry angeht“, erwiderte Ginny, „so war der Verschlag, in dem er als Kind bei seiner Muggel-Pflegefamilie hausen musste, noch viel kleiner. Gegen so etwas ist er abgehärtet.“

„Wir werden über die Wendeltreppe eindringen müssen“, überlegte Orpheus. „Dabei schicken wir unsere Patroni voraus. Ich sehe ein Problem: Wenn wir die Patroni hinunterschicken, werden die Dementoren flüchten und dabei tief in die Gänge hineingetrieben. Dann sammelt sich eine Horde Dementoren in den Zellentrakten, direkt bei den Gefangenen. Es wird schwer sein, dann noch an die Zellen heranzukommen.“

„Nicht, wenn wir es geschickt anstellen“, wandte Julian ein. „Mein Großvater hat mir erzählt, dass immer zuerst die Zellen im ersten Untergeschoss belegt werden. Wenn die voll sind, kommt das zweite und dann erst das tiefste Untergeschoss an die Reihe. Da im Moment nicht allzu viele Gefangene in Askaban sind, brauchen wir die Dementoren nur ins unterste Geschoss zu treiben und haben dann in den beiden oberen Etagen freien Zugang zu den Zellen.“

„Und wenn es nicht anders geht, müssen wir die Dementoren eben töten“, fügte Roy hinzu.

„Kann man das denn?“, wollte Albus wissen. „Ich meine, die sind doch schon mehr tot als lebendig, aber das bisschen Leben in Ihnen wird durch Schwarze Magie aufrechterhalten.“

„Mit den Giftzähnen des Basilisken kann man es“, entgegnete Roy. „Harry hat sie mir noch im Dezember anvertraut, damit sie bei einer Hausdurchsuchung nicht gefunden werden können. Sie liegen im Labor. Wir werden uns damit bewaffnen.“

„Schön und gut“, meinte Ginny, „dieses Problem ist also lösbar. Aber wie kommen wir hinein?“

„Eins nach dem anderen“, antwortete Roy. „Ich schlage vor, vom Ende her zu denken und uns dann zu den Voraussetzungen vorzufressen. Wir holen also die Gefangenen aus den Zellen. Wir müssen Besen dabeihaben, und zwar Besen, die schneller sind als die der Auroren…“

„Feuerblitze!“, rief Julian. „Wir nehmen die Slytherin-Quidditchbesen. Falls wir mehr brauchen, werden die Malfoys sich schon nicht lumpen lassen…“

„Die Fluchtroute führt unter dem Schutz unserer Patroni und zusätzlicher Schildzauber senkrecht nach oben“, nahm Roy die Planung wieder auf, „bis wir die Schutzglocke verlassen haben und uns unsichtbar machen können. Was, wenn die Auroren mit ihren Besen aufsteigen, um uns an der Flucht zu hindern?“

„Wir holen sie von den Besen runter“, schlug Ares vor. „Bevor einer mit seinem Besen aufsteigen kann, gibt es immer einen kritischen Moment, in dem er praktisch auf dem Präsentierteller sitzt. Wenn wir genug Leute auf dem Burgturm haben…“

„Und wo nehmen wir die her?“, unterbrach ihn Ginny.

„Ich habe meinen Vater noch nicht kontaktieren können, weil er tagelang im Ministerium festgehalten wurde, aber ich bleibe dabei, dass er eine Handvoll alte Todesser auftreiben könnte, vorausgesetzt, deren Kameraden werden ebenfalls befreit.“

„Wie viele Todesser sitzen denn noch ein?“

„Rund ein Dutzend“, antwortete Ares. „Wenn wir für alle zu befreienden Gefangenen Zauberstäbe mitbringen – die werden nicht perfekt sein, aber irgendwie werden sie schon damit zaubern können –, sind wir etwa vierzig Leute, geschützt von Patroni und Schildzaubern, und wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Waghalsig, aber machbar, vor allem wenn man bedenkt, dass die Auroren, die zum Dienst in Askaban abgestellt werden, nicht die Besten und Hellsten sein dürften, eher die, die man anderswo nicht brauchen kann.“

„Ja, aber es können um die zweihundert sein, vielleicht sogar mehr, wenn die Mannschaften bis dahin verstärkt werden“, gab Roy zu bedenken. „Dagegen stehen wir, die Weasleys und eventuell die Todesser, vorausgesetzt, dein Vater kann sie wirklich überreden mitzumachen. Fünfundzwanzig bis dreißig Leute, von denen die Hälfte unten im Zellentrakt damit beschäftigt sein wird, die Gefangenen zu befreien. Bleiben etwa fünfzehn, die zweihundert Auroren und obendrein diejenigen Dementoren in Schach halten müssen, die nicht im Zellentrakt, sondern oben in der Burg sind.“

„Dementoren kann man mit Patroni vertreiben, die sind nur gegen Wehrlose stark“, meinte Ares.

„Bleiben immer noch die Auroren“, überlegte Roy. „Wir müssen sie außer Gefecht setzen.“ Er grübelte, dann grinste er. „Und ich glaube, ich weiß auch, wie…“

Ginny hob fragend die Brauen. Roy fuhr fort: „Falls die Auroren alarmiert werden, beschießen wir ihre Türme und die Unterkunft mit peruanischem Finsternispulver. Dann sind sie praktisch blind. Wir aber können sie sehen, und zwar mit dem Calorate-Zauber. Die wenigen, die in es der allgemeinen Verwirrung und Dunkelheit schaffen, auf ihre Besen zu steigen, schalten wir dann gezielt mit Schockzaubern aus. – Ich gehe doch davon aus“, wandte er sich an Ginny, „dass die ehrwürdige Firma Weasleys zauberhafte Zauberscherze uns dieses Pulver zur Verfügung stellen kann?“

Ginny lachte. „Tonnenweise, wenn nötig!“

„Schön. Bleibt die Sache mit den Patroni. Wie viele aus deiner Familie schaffen einen Patronus, Ginny?“

Ginny dachte kurz nach und meinte dann: „Alle außer James und Victoire.“

„Dann werden wir James und Victoire darin ausbilden“, entschied Roy. „In einer Burg voller Dementoren können wir gar nicht genug Patroni haben. In die Planung der Aktion würde ich sie aber nicht einbinden. Überhaupt sollte die weitere Planung auf Ginny und mich beschränkt bleiben. Seid ihr einverstanden?“

Alle nickten, nur Albus sah etwas zweifelnd drein.

„Äh, Mama…“ fragte er zögernd, „traust du dir das wirklich zu? Ich meine, du musst praktisch Papa vertreten…“

Er verstummte, denn Ginny warf ihm einen vernichtenden Blick zu und schwieg ihn schier endlose zehn Sekunden lang an, in denen er zusehends zu schrumpfen glaubte.

„Vierhundertfünfzig zu hundertvierzig“, knurrte sie schließlich.

„Äh, wie?“

„Am Ende meiner fünften Klasse hatten wir das Entscheidungsspiel gegen Ravenclaw um den Quidditchpokal und mussten mit dreihundert Punkten Unterschied gewinnen. Ich war eigentlich Jäger, musste aber Sucher spielen, weil unser Sucher – dein Vater – sich Nachsitzen bei Snape eingehandelt hatte.“ Sie machte eine Kunstpause. „Mit vierhundertfünfzig zu hundertvierzig haben wir die Ravenclaws vom Platz gefegt. Glaub mir, mein Sohn, ich kann deinen Vater vertreten, wenn es sein muss!“

Gegen dieses Argument war kein Einwand möglich.

„Okay, okay…“, murmelte Albus kleinlaut. „Äh, sollten wir vielleicht auch Scorpius den Patronus beibringen?“, schlug Albus vor. „Ich habe mit Scorpius in den Ferien alle möglichen Verteidigungszauber geübt, er ist ziemlich gut…“

Scorpius wird nicht mitmachen!“, schnitt seine Mutter ihm das Wort ab. „Ich glaube nicht, dass außer dir noch ein Erstklässler einen Patronus zustandebringt. Und ich werde ganz bestimmt nicht anderer Leute Kinder in eine so gefährliche Aktion hineinziehen. Ich könnte Astoria Malfoy nicht unter die Augen treten, wenn ihrem einzigen Sohn dabei etwas zustieße. Bei dir und James ist es etwas Anderes, es geht um euren Vater, und deine Freunde hier sind volljährig oder fast volljährig.“

Da Albus ziemlich enttäuscht dreinblickte, schlug Roy vor:

„Zeig ihm trotzdem alles, was du selbst gelernt hast, Al, schaden kann es auf keinen Fall. Du wirst ihm aber nichts über die Befreiungsaktion sagen, hörst du?“

Ginny sah ihn misstrauisch an, widersprach aber nicht, und Albus nickte erleichtert. Er war froh, etwas tun zu können.

„Können wir den Geheimraum benutzen?“, fragte Albus. „Ich meine, wir sollten nicht gesehen werden, und wenn wir es hier nicht machen können, müssen wir in den Raum der Wünsche im siebten Stock.“

Roy schien etwas unsicher, er blickte in die Runde.

Arabella nickte: „Wir wollten ihn, wenn das hier vorbei ist, doch ohnehin in die Gruppe aufnehmen. Ich halte ihn für intelligent und verschwiegen.“

„Er hat mich auch schon gefragt, ob er mitmachen kann“, fügte Albus hinzu.

Da niemand widersprach, sagte Roy: „Dann machen wir ihn quasi offiziell zum Kandidaten. Er sollte aber ruhig wissen, dass es eine besondere Auszeichnung ist, als Einziger unseren Geheimraum zu kennen.“

„Was ist mit den anderen Slytherins?“, wollte Ares nun wissen. „Sollten wir von denen nicht auch ein paar rekrutieren?“

Roy überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. „Die Anzahl der Mitwisser ist jetzt schon bedenklich groß. Ich unterstelle niemandem, dass er ein Verräter ist, aber Jeder könnte sich verplappern oder sich verdächtig machen. Wenn ich es mir recht überlege, sollten wir auch darauf verzichten, die Todesser einzubinden, außer deinem Vater, wenn er mitmachen möchte, und Julians Großvater.“

„Bist du sicher, dass wir dann genug Leute haben?“, wandte Ares ein.

„Wir und die Weasleys, einschließlich James und Victoire, sind zusammen sechzehn Personen. Wenn wir die Todesser an Bord nehmen, sind wir gezwungen, statt einem Gefangenen mehr als ein Dutzend zu befreien, was wesentlich länger dauert, und haben viel mehr Mitwisser, die wir nicht kennen, die wahrscheinlich vom Ministerium überwacht werden, und von denen Jeder das Unternehmen auffliegen lassen kann. Außerdem möchte ich deinen Vater, der ebenfalls das Ministerium auf dem Hals hat, nicht unnötig gefährden. Das Finsternispulver sollte ausreichen, unsere zahlenmäßige Unterlegenheit zu kompensieren.“

„Nächster Punkt“, übernahm Ginny nun die Gesprächsführung. „Wie kommen wir unbemerkt hinein?“

„Wir schalten zunächst die Auroren aus, die über der Festung patrouillieren“, antwortete Roy. „Sie sind zwar unsichtbar, können aber mit Calorate sichtbar gemacht werden und sind daher leicht zu überrumpeln. Dann gehen wir im Sturzflug hinunter.“

„Dabei wird man uns sehen“, wandte Arabella ein.

„Nicht bei Neumond.“

„Und wann ist das?“

„Die nächsten beiden Neumonde sind am 15. Februar und am 17. März.“

„Also in ziemlich genau einem beziehungsweise zwei Monaten“, überlegte Ginny. „Bis Mitte Februar sollten wir wissen, wie unsere Aussichten stehen, Harry im Prozess freizubekommen, und ob wir ihn gewaltsam herausholen müssen oder nicht. Solange wir es aber nicht wissen, stimmen wir alle Vorbereitungen auf den 15. Februar ab.“

„Wie steht es mit der Alternative“, fragte Arabella, „Harry aus dem Gerichtssaal zu befreien?“

„Aussichtslos“, antwortete Ginny. „Ich habe es mit meinem Vater gründlich durchgesprochen. Bei wichtigen Gerichtsverhandlungen wird das Ministerium bewacht wie eine Festung, und zwar sowohl von Dementoren als auch von Auroren. Schon sämtliche Eingangsbereiche sind dann so gut wie unpassierbar, und es bilden sich lange Schlangen von Ministerialbeamten, die zu ihrem Arbeitsplatz wollen. Das ist der Unterschied zu Askaban, das unter freiem Himmel liegt und deshalb gegen ein Eindringen von oben nie vollständig abgeriegelt werden kann. Im Ministerium werden Gitter mit engen Durchlässen angebracht. Jeder, der hineinwill, wird auf alles überprüft, auch auf Vielsaft und Ähnliches. Die Schutzglocke, die sonst nur in der unmittelbaren Umgebung der Ministerin gilt, wird auf das ganze Gebäude ausgedehnt, sodass auch kein Unsichtbarkeitszauber funktioniert, und selbst wenn man die Kontrollen passiert hat, halten überall Sicherheitsleute Wache, vor allem natürlich im Gerichtstrakt und besonders vor dem Gerichtssaal. Man müsste sich den Weg Korridor für Korridor freikämpfen, und zwar gegen wirkliche Profis, und selbst wenn man es in den Gerichtssaal schafft, kommt man an Harry nicht heran, weil die Dementoren darauf vorbereitet sind, jederzeit den Dauerportschlüssel zu verwenden, der für solche Fälle bereitsteht und sie mit dem Gefangenen direkt nach Askaban bringt. Da er auf demselben Wege zur Verhandlung gebracht wird, ist auch eine Befreiung auf dem Transport nicht möglich.“

„Sie befördern die Gefangenen per Portschlüssel?“ Roy runzelte die Stirn. „Ich dachte, Apparieren und Portschlüssel funktionieren nicht in Askaban?“

„Diese speziellen schon“, meldete sich Julian, „wenn sie von denselben Leuten verzaubert werden, die auch die Schutzzauber ausgeführt haben. Ich nehme an, es ist wie mit unserem Geheimraum: Da McGonagall die Schutzzauber für Hogwarts eingerichtet hat, war sie, aber eben nur sie, auch in der Lage, diesen Raum davon auszunehmen.“

„Dann brauchen wir den Plan einer Befreiung aus dem Ministerium also gar nicht weiterzuverfolgen?“, fragte Roy.

„So ist es“, bestätigte Ginny. „Es muss Askaban sein.“

49 – Der Spitzel

 

Rupert Wilkinson war fest entschlossen, der Ministerin gegenüber seine Pflicht zu tun. Angesichts der Gefahr durch die überall lauernden Todesser, fand er, musste jeder Gryffindor als Kämpfer für Hermine auf seinem Posten stehen, und diejenigen Gryffindors, die dazu nicht bereit waren, waren der innere Feind. Solange man sie nicht unschädlich machen konnte, musste man sie wenigstens überwachen. Was für eine großartige Idee diese Resolution doch gewesen war, klopfte er sich innerlich auf die Schulter. Sie hatte den Feind gezwungen, Farbe zu bekennen.

Es war Samstagmorgen. Wilkinson saß mit angewinkelten Knien auf seinem Bett im Schlafsaal der Gryffindor-Fünftklässler und schmiedete Pläne. Vor sich hatte er eine Liste, die die Überschrift FEINDE trug. Sie bestand aus genau vier Namen: James Potter, Victoire Weasley, Rose Weasley und Ethelbert Parker.

Wer war der Gefährlichste, wen musste man überwachen?

Am besten natürlich Alle, aber dazu müsste man sich mit anderen zusammentun und sich die Arbeit teilen. Geteilte Arbeit hieße aber auch: Geteilter Ruhm. Geteilter Merlinorden. Geteiltes Lob der Ministerin.

Wilkinson schnaubte. Er würde nicht teilen. Er – er allein! – würde die Verräter ans Messer liefern! Er allein würde Hermines dankbare, bewundernde Blicke ernten. Und wenn nächstes Jahr die Ämter der beiden Vertrauensschüler für Gryffindor neu zu besetzen waren, würde niemand die Chance haben, an ihm vorbeizukommen, im übernächsten Jahr würde er Schulsprecher sein, und nach der Schule Hermines wichtigster Mann im Ministerium, vielleicht – tagträumte er – überhaupt ihr wichtigster Mann…

Also wer? Rose schied aus, sie war zu jung, um wirklich gefährlich zu sein, außerdem war sie die Tochter der Ministerin. Bestimmt war ihre Mutter wütend auf sie, trotzdem sollte man sie besser in Ruhe lassen. Ethelbert? Ein ruhiger Typ, keiner, der aktiv gegen das Ministerium intrigieren würde, auch keiner, der Anhänger um sich scharte. Bei dem würde er seine Zeit verschwenden. Blieben James Potter und Victoire Weasley. Man müsste sie beide überwachen, bestimmt heckten sie etwas aus, warum sonst mieden sie seit dem Anschlag auf Hermine den Gemeinschaftsraum, warum sonst standen sie seither in den Pausen so oft mit den Unbestechlichen zusammen, dem Feind schlechthin?

Wahrscheinlich steckten sie schon die ganze Zeit mit denen unter einer Decke! War es nicht MacAllister gewesen, der Potter herausgehauen hatte? Und wer war noch dabei gewesen? Parker und Weasley! Und was war das Ergebnis? Dass sie die Gryffindors überredet hatten, die Slytherins in Ruhe zu lassen! Ein abgekartetes Spiel von Anfang an, um Hermines Anweisungen zu hintertreiben. Wie raffiniert…

Potter… Sein Vater hatte den Anschlag verübt, wahrscheinlich dachte der Sohn genauso wie er, und bestimmt würde er irgendetwas unternehmen, um seinen Vater der gerechten Strafe zu entziehen.

Potter! Dem würde er die vielen Witze heimzahlen, die er, der zwei Jahre Jüngere, so oft zur Gaudi des ganzen Hauses auf Wilkinsons Kosten gerissen hatte! Diesem Potter war alles zuzutrauen! Er hatte diese hasardeurhafte Kaltschnäuzigkeit, die manche Mädchen so bewunderten, und dieselbe Bedenkenlosigkeit wie sein Vater. Wenn er älter wäre, hätte wahrscheinlich er den Anschlag auf Hermine verübt. Und wer weiß? Vielleicht machte er jetzt dort weiter, wo der Alte aufgehört hatte.

Potter war derjenige, auf den er sich konzentrieren musste.

Wahrscheinlich saß er jetzt beim Frühstück. Wilkinson sprang aus dem Bett. Für ihn, Rupert Wilkinson, war es Zeit, seinen Dienst anzutreten!

Als er die Große Halle erreichte, kamen James Potter und Victoire Weasley ihm bereits – gemeinsam! – entgegen. Wilkinson fluchte leise. Hätten sie sich nicht Zeit mit dem Frühstück lassen können? Jetzt würde er bis Mittag nichts zu essen bekommen. Egal, für die Ministerin galt es Opfer zu bringen!

Typisch, dass sie wieder zusammengluckten, er hatte es doch gewusst, sie heckten etwas aus! Was sonst hatte die Siebtklässlerin mit dem Drittklässler zu tun?

Wilkinson folgte ihnen mit einigem Abstand, als sie zur ersten großen Treppe gingen, zuerst in den ersten Stock, dann in den zweiten… Er sah sich um. Die beiden hatten ihn nicht bemerkt, und sonst war um diese Zeit kein Schüler auf diesem Stockwerk zu sehen. Also jetzt! Er zückte seinen Zauberstab und machte sich unsichtbar. Jetzt huschte er näher an sie heran. Sie waren im dritten Stock angekommen, da blieben sie stehen, sahen sich um – und machten sich ebenfalls unsichtbar!

Wilkinson grinste. Er hatte bei den Streifengängen mitgemacht, die Barclay nach den muggelfeindlichen Anschlägen Ende Oktober eingerichtet hatte. Dieser Streifendienst war nach einigen Wochen eingestellt worden, aber Wilkinson beherrschte dadurch den Calorate-Zauber. Er sprang einige Meter zurück, denn der Calorate-Zauber wirkte in einem Umkreis von zwanzig Metern auf Jeden. Wenn er ihn zu nahe an den Zielpersonen ausübte, wären nicht nur sie für ihn sichtbar, sondern auch er für sie. Nun, da er glaubte, genug Abstand zu haben, hob er den Zauberstab: „Calorate!“

Er sah gerade noch das gelbe Leuchten, das von ihnen ausging, während sie die nächste Treppe emporstiegen. Er musste seine Schritte vorsichtig setzen, denn da er nur noch Gegenstände sah, von denen Wärme ausging, war er fast blind und drohte bei jedem Schritt und auf jeder Stufe zu stolpern. Glücklicherweise hatten die beiden es nicht eilig, sodass er allmählich zu ihnen aufschließen konnte und sie im fünften Stock so gut wie erreicht hatte. Er hatte jetzt etwas Mühe, sein Schnaufen zu unterdrücken, aber es gelang ihm leidlich. Anscheinend wollten sie in den siebten Stock, aber auf einem merkwürdigen Weg, nicht dem kürzesten, wenn sie in den Gryffindor-Turm wollten.

Im siebten Stock angekommen, gingen sie wiederum in eine Richtung, die nicht zum Gemeinschaftsraum führte. Da er nicht mehr treppensteigen musste, beruhigte sich seine Atmung ein wenig. An der Stelle, wo sich der Wandteppich von Barnabas dem Bekloppten befinden musste, blieben die gelben Lichtflecken wieder stehen und sahen sich um. Dann geschah etwas Merkwürdiges: Sie gingen dreimal einige Meter auf und ab und schienen dabei etwas zu murmeln. Plötzlich öffnete sich die Mauer und gab einen Durchgang frei. Das musste der Raum der Wünsche sein, von dem er gerüchteweise gehört hatte! Als James und Victoire den Raum betraten, schlüpfte Wilkinson ihnen hinterher.

„Wir sind arg früh dran“, meinte James, nachdem er und Victoire sich wieder sichtbar gemacht hatten.

„Besser so als zu spät“, entgegnete Victoire. „Oder ist dir meine Gesellschaft unangenehm?“

„Ganz im Gegenteil. Sie wäre nur noch angenehmer, wenn ich ein paar Jahre älter wäre…“ James grinste sie anzüglich an, wobei seine Ohren allerdings rot anliefen.

Der im Umgang mit Mädchen ziemlich schüchterne Wilkinson war empört: Dieser Scheißkerl aus der dritten Klasse ist dreist genug, sogar mit seiner siebzehnjährigen Cousine zu flirten!

Victoire zog belustigt die Augenbrauen hoch und grinste spöttisch, aber nicht übelwollend zurück.

„Sieh mal einer an! Wird ja langsam richtig kess, der Kleine!“, frotzelte sie, während James‘ Ohren immer röter wurden, ohne dass er deshalb aufgehört hätte zu grinsen. „Sowas haben wir gern: dreckig grinsen, wenn der kleine Bruder mit der einen Cousine schmust, aber selber die andere anbaggern…“

James kicherte ein wenig verlegen.

„Was für ein Pech aber auch“, fuhr sie fort, „dass du mich nicht einholen kannst, was das Alter angeht!“

„Wer weiß“, versetzte James, „vielleicht kann ich aus Onkel George ja das Rezept für seinen legendären Alterungstrank herausfragen…“

„Wenn du ein bisschen mehr in der Bibliothek wärst, wüsstest du, dass das Rezept auch dort zu finden ist. Es würde dir nur nichts nützen, ich weiß trotzdem, dass du erst dreizehn bist.“

„Dafür bin ich viel schöner als Ted!“

In diesem Ton flachsten sie eine Weile weiter, bis James auf Quidditch zu sprechen kam. Es war sein neues Lieblingsthema, seit er bei der Rückkehr aus den Ferien erfahren hatte, dass er – endlich! – in die Gryffindor-Mannschaft aufgenommen worden war, weil deren Sucher, der ihn zu Jahresbeginn noch um Haaresbreite ausgestochen hatte, nach einem Streit mit dem Kapitän zurückgetreten war. Er erläuterte Victoire in allen Einzelheiten, wie sie die Hufflepuffs, ihren nächsten Gegner, zu bezwingen gedachten. Seine Cousine ließ es eine Weile über sich ergehen, dann meinte sie kopfschüttelnd:

„Dass du jetzt nichts als Quidditch im Kopf hast – ich meine, dein Vater sitzt in der Todeszelle…“

„Erstens liegt mir das im Blut, mein Vater konnte selber in den unmöglichsten Situationen an Quidditch denken, und zweitens holen wir ihn ja wieder heraus.“

Wilkinson horchte auf.

James sah auf die Uhr. „Roy müsste jeden Moment kommen. Wollte er eigentlich allein kommen oder mit Albus zusammen?“

„Was wäre dir denn lieber?“

„Allein natürlich! Von Roy lasse ich mir gerne den Patronus zeigen, aber ihn vom kleinen Bruder zu lernen – das wäre doch peinlich!“

Patronus? Wilkinson lauschte mit klopfendem Herzen. Wozu brauchen die einen Patronus?

In diesem Moment öffnete sich die Mauer, und Roy MacAllister betrat den Raum.

„Wartet ihr schon lange?“, fragte er.

„Eine Viertelstunde ungefähr“, erwiderte James.

„Ihr könnt es wohl gar nicht erwarten, was?“

„Natürlich nicht!“

Roy lachte. „Na, dann lasst uns gleich anfangen. Ihr wisst, wozu ihr den Patronus braucht?“

„Um die Dementoren zu bekämpfen“, erwiderte James.

„Genau. Wir wissen nicht, wie viele Dementoren in Askaban sind, aber es dürften ziemlich viele sein, wir können also gar nicht genug Patroni haben. Bis jetzt haben wir etwas mehr als ein Dutzend, da können zwei mehr durchaus den entscheidenden Unterschied ausmachen. Wenn ihr den Patronus sicher beherrscht, können wir später vielleicht noch ein paar andere Zauber üben, die im Kampf nützlich sind.“

„Machst das immer du?“

Roy schüttelte den Kopf. „Nicht immer, wir haben beschlossen, dass die Unbestechlichen sich abwechseln: mal Arabella, mal Julian, mal Albus…“

„Jeden, aber bitte nicht Albus“, stöhnte James, während Roy und Victoire lachten.

In den folgenden zwei Stunden übten sie konzentriert. Wilkinson saß mucksmäuschenstill neben der Stelle, an der sich der Eingang aufgetan hatte. Er lauschte angestrengt, um nur ja kein Wort zu verpassen, aber das Thema „Askaban“ wurde zu seinem Bedauern nicht mehr erwähnt.

James und Victoire schafften beide immerhin einen gestaltlosen Patronus, der sich für den Anfang durchaus sehen lassen konnte.

„Das Patronus-Talent scheint bei euch ja zum Familienerbgut zu gehören“, sagte Roy zum Schluss zufrieden zu James. „Dein Vater war so alt wie du, als er ihn schaffte, dein kleiner Bruder beherrscht ihn schon mit elf, und was dich betrifft“, wandte er sich zu Victoire, „so bist du für heute auch sehr weit gekommen. Sehr gut, wenn ihr so weitermacht, sind eure Patroni in wenigen Tagen einsatzbereit.“

„Können wir die Befreiungsaktion dann vorziehen?“, fragte James, während Wilkinson wieder aufhorchte.

„Nein“, sagte Roy. „Die Aktion findet nur statt, wenn sich ein ungünstiger Ausgang des Prozesses abzeichnet, und auch dann nicht vor Mitte Februar. Wir haben also etwas Zeit. Für heute machen wir Schluss.“

Roy zog die Karte des Rumtreibers heraus.

„Ach übrigens“, fragte er beiläufig, „habt ihr euch Gewissheit verschafft, dass euch niemand gefolgt ist, als ihr hier hereinkamt?“

„Es war niemand zu sehen“, antwortete James.

Roy blickte von der Karte auf. „Das ist keine Gewissheit. Es könnte sich jemand unsichtbar gemacht haben, genau wie ihr selbst. Habt ihr den Calorate-Zauber angewendet?“

James sah verdutzt drein, Victoire errötete ein wenig. „Tut mir leid, daran habe ich nicht gedacht.“

„Was für ein Zauber ist das?“, wollte James wissen. Victoire erklärte es ihm, sie kannte den Zauber, wie Wilkinson, von Barclays Patrouillen.

„Cool“, fand James. „Ich glaube, das probiere ich gleich einmal aus.“

Er zog den Zauberstab. Wilkinson spürte, wie ihm heiß wurde.

„Lass mal stecken“, sagte Roy. „Der Gang vor diesem Raum ist gerade leer. Wer weiß, ob es in zwei Minuten nicht wieder von Gryffindors wimmelt.“

Er öffnete den Ausgang. Roy, James und Victoire verließen den Raum. Wilkinson huschte unsichtbar hinterher. Er suchte das Weite, bevor James womöglich doch noch den Calorate ausprobierte und Roy noch einmal auf diese merkwürdige Karte sah. An der übernächsten Ecke blieb er stehen und spähte zurück: MacAllister verabschiedete sich gerade von den beiden Anderen und ging zügig auf die nächste Treppe zu, Potter und Weasley schlugen den Weg zu den Gryffindor-Räumen ein.

Wilkinson hob den Caloratezauber auf, um wieder normal sehen zu können, und machte sich wieder sichtbar. Das war ja hochinteressant gewesen, gleich beim ersten Mal ein Volltreffer! Er ging wieder hoch in den Gryffindor-Turm, suchte den Schlafsaal auf, holte Schreibzeug und eine Schreibunterlage heraus, setzte sich auf sein Bett und zog die Vorhänge seines Himmelbetts zu. Niemand sollte sehen, was er tat und an wen er schrieb.

Ja, an wen eigentlich? Es ging um eine Sicherheitsangelegenheit, eigentlich war das AMaSi zuständig, aber dann würde Hermine nie erfahren, wem sie diese lebenswichtige Information zu verdanken hatte. Außerdem waren zwei ihrer Verwandten verwickelt. Das musste er ihr schon persönlich melden.

 

Sehr geehrte Frau Ministerin,

mein Name ist Rupert Wilkinson, ich bin Gryffindor-Schüler der fünften Klasse und einem Komplott zur gewaltsamen Befreiung Harry Potters aus Askaban auf der Spur.

Das war ein guter Einstieg, fand er. Das musste sie einfach interessieren.

Da James Potter und Victoire Weasley ihre Illoyalität Ihnen gegenüber kaum noch verbergen und verdächtige Kontakte zum Slytherin-Kreis der sogenannten „Unbestechlichen“ aufgenommen haben, der unter der Führung des notorischen Staatsfeindes und Neo-Todessers MacAllister steht, habe ich auf eigene Initiative beschlossen, die beiden zu observieren, und bin ihnen unter dem Schutz eines Unsichtbarkeitszaubers in den Raum der Wünsche gefolgt. Dort trafen sie sich mit MacAllister, um von ihm den Patronuszauber zu erlernen.

Aus ihren Gesprächen ging hervor, dass der Patronus gegen die Dementoren eingesetzt werden soll, die das Gefängnis Askaban bewachen, um Harry Potter gewaltsam zu befreien, falls der Prozess gegen ihn sich „ungünstig“ entwickeln sollte. Die Befreiung soll nicht vor Mitte Februar stattfinden. Es sollen (ohne J. Potter und V. Weasley) „etwas mehr als ein Dutzend“ (Originalton MacAllister) Personen beteiligt sein, die über Patroni verfügen. Ob darüber hinaus noch weitere Personen teilnehmen sollen, wurde nicht erwähnt. Auch über die Identität dieser Personen wurde nichts gesagt, es ist aber davon auszugehen, dass die Todesser-Vereinigung „Die Unbestechlichen“ beteiligt ist.

Der Patronus-Unterricht soll in den kommenden Tagen abwechselnd von verschiedenen Mitgliedern der „Unbestechlichen“ erteilt werden. Ausdrücklich erwähnt wurden in diesem Zusammenhang Arabella Wolfe, Julian Lestrange und Albus Potter, allerdings schien diese Aufzählung nur beispielhaft und nicht vollständig zu sein.

Ich möchte die Observierung gern fortsetzen, da ich hundertprozentig hinter Ihnen stehe und finde, dass Verräter unschädlich gemacht werden müssen. Ich stehe allerdings vor dem Problem, dass MacAllister V. Weasley angewiesen hat, in Zukunft vor dem Betreten des Raums der Wünsche den Caloratezauber einzusetzen, was eine unbemerkte Verfolgung schwierig machen dürfte. Eine Observierung außerhalb dieses Raums sollte dagegen machbar sein, sie können ja nicht ununterbrochen den Caloratezauber verwenden.

Ich betone nochmals, dass ich bereit bin, für die Sicherheit des Magischen Staates und insbesondere für Ihre persönliche Sicherheit Alles zu tun, jedes Opfer und jede Gefahr auf mich zu nehmen und jedem Befehl zu gehorchen, und bitte Sie dringend um Instruktionen.

Ich verbleibe in tiefster Loyalität Ihr sehr ergebener

Rupert Wilkinson

 

Er las den Brief noch einmal durch, war sehr zufrieden mit sich, adressierte ihn an die Ministerin „PERSÖNLICH“ und ging zur Eulerei.

50 – Harte Realitäten

 

Als Roy in den Gemeinschaftsraum zurückkehrte, eilten Albus und Scorpius, die anscheinend auf ihn gewartet hatten, ihm sogleich entgegen.

„Da bist du ja! Gibst du mir bitte die Karte des Rumtreibers wieder?“, fragte Albus.

„Gerne, aber wieso?“

„Bernie ist verschwunden! Er hat beim Frühstück eine Eule bekommen, ist dann wortlos aufgestanden und weggerannt und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Allmählich machen wir uns Sorgen.“

„Eine Eule? O je, dann wird es wohl eine schlechte Nachricht gewesen sein.“

„Kann man wohl sagen“, hörte man nun Bernies verdrossene Stimme vom Eingang des Gemeinschaftsraums her.

„Bernie, wo hast du gesteckt?“, fragte Albus.

„Egal.“ Bernie machte eine wegwerfende Geste und warf sich in den nächstbesten Sessel. „Am liebsten in einem Mauseloch. Ich wollte nur allein sein.“

„Ist jemand gestorben?“

Bernie schnaubte. „Mein Vater ist für mich gestorben!“

Albus, Scorpius und Roy sahen einander verblüfft an. Bernie hatte nie damit angegeben, dass sein Vater Premierminister war, aber immer voller Stolz von ihm als Vater gesprochen. Auf ihre fragenden Blicke hin erläuterte er:

„Ich muss es dir ja doch sagen, Al. Du erinnerst dich, dass ich meinen Vater angeschrieben habe, damit er deinem hilft?“ Als Albus nickte, fuhr Bernie fort:

„Das hier ist die Antwort!“ Er faltete das zerknüllte Pergament auseinander, das er in der Faust getragen hatte. „Hört euch das an:

 

Lieber Bernard,

es tut mir sehr leid für Deinen Freund, dass sein Vater sich in diese missliche Lage gebracht hat, und es ehrt Dich, dass Du Dich für ihn einsetzt. Ich habe die Zaubereiministerin auf die Angelegenheit angesprochen und finde ihr Vorgehen durchaus nachvollziehbar. In jedem Fall handelt es sich um eine innere Angelegenheit des Magischen Staates, und zwar um eine, die es nicht wert ist, ihretwegen das gute Einvernehmen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Magischen Staat zu trüben und die immer enger werdende Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten in Frage zu stellen.

Ha!“, rief Bernie. „Das sagt derselbe Mann, dem sofort das Wort ‚Menschenrechte‘ einfällt, wenn dasselbe in Russland oder China passiert! Weiter:

Bedenke bitte, dass es sich immerhin um einen versuchten Staatsstreich handelt. Als Sohn eines Politikers solltest Du verstehen, dass ein solcher Akt mit aller Härte geahndet werden muss – im Magischen Staat wie in unserem eigenen.

Komisch!“, redete Bernie sich in Rage. „Von dieser Härte merken Terroristen, die unschuldige Menschen in die Luft jagen, herzlich wenig! Aber die versuchte Entführung einer Politikerin – die schreit nach Härte!

Dass Mrs. Granger-Weasley rückwirkend die Todesstrafe wiedereingeführt hat, ist zweifellos unschön.

UNSCHÖN? Mord ist das!“, schrie Bernie, ohne zu bemerken oder sich darum zu kümmern, dass die Gespräche im Gemeinschaftsraum verstummt waren und Alle ihm zuhörten.

Trotzdem finde ich, dass Du stark übertreibst: Nur weil auch die Nazis Gesetze hatten, die rückwirkend die Todesstrafe vorsahen, ist nicht jedes derartige Gesetz automatisch ein Nazi-Gesetz. Immerhin hat die Ministerin veranlasst, dass Mister Potter einen – zweifellos fairen – Prozess bekommen wird.“

Einen fairen Prozess auf der Basis unfairer Gesetze!“, brüllte Bernie das Pergament an. „WILLST DU MICH VERARSCHEN?“

Er schnaufte durch.

„Es kommt aber noch besser, hört zu:

Dies ist keineswegs selbstverständlich. Wie ich höre, ist Mister Potter nicht nur ein Gegner ihrer Öffnungspolitik – eines für die Zukunft beider Staaten und ihrer Völker entscheidenden Projekts –, sondern unglücklicherweise auch durchaus populär und damit potenziell ein besonders gefährlicher Gegner, den man nicht einfach als Alibi-Oppositionellen missbrauchen kann. Dennoch hat sie darauf verzichtet, ihn durch ihren Geheimdienst beseitigen und sein Ableben wie Unfall, Selbstmord oder den Anschlag eines Wahnsinnigen aussehen zu lassen – ein Vorgehen, das viele Regierungen in vergleichbarer Lage zweifellos vorgezogen hätten. Dass die Ministerin einen gesetzlichen Weg einschlägt, solltest Du ihr hoch anrechnen.“

Bernie tobte: „ER FINDET ES NORMAL, DASS EINE REGIERUNG IHRE GEGNER BEI NACHT UND NEBEL KALTMACHT! UND DASS ES SCHON EIN VERDIENST IST, WENN SIE ES AUSNAHMSWEISE NICHT TUT!

Dein Argument, die Öffnungspolitik erfolge hinter dem Rücken des Volkes und sei deswegen illegitim, ist – entschuldige bitte – naiv. In wichtigen Angelegenheiten, in denen es um die Zukunft ganzer Völker geht, kann man unmöglich das Volk fragen.

WAS SOLL DAS DENN HEISSEN? Das kann man als Politiker doch immer sagen, dass etwas zu wichtig ist, weil es um ganze Völker geht, in der Politik geht es doch immer um die Zukunft ganzer Völker, darin besteht die Politik ja gerade!

Das Volk wird immer das behalten wollen, was es schon hat und kennt. Es hat kein Verständnis für große Perspektiven und bedarf daher der Führung durch Eliten, die das Richtige erkennen und durchsetzen. Demokratie besteht nicht darin, dass das Volk entscheidet, was richtig ist, sondern nur, ob ein und dieselbe Politik von einem Labour- oder einem Tory-Premier durchgesetzt wird.“

Bernies Stimme bebte: „Seit ich denken kann, erzählt der Alte mir etwas von Demokratie! Und wenn es dann darauf ankommt, ist alles LÜGE, LÜGE, LÜGE!“ Er schlug dreimal mit der Faust auf den Tisch. Tränen der Wut flossen seine Wangen hinab, als er weiterlas:

„Im Magischen Staat besteht dieser Konsens innerhalb der Eliten noch nicht, soweit ich erkennen kann, insofern ist die Position der Zaubereiministerin um Einiges prekärer als meine eigene. Wenn ich abgelöst werde, wird dieselbe Politik von jemand anderem weitergeführt, selbst wenn er von der anderen Partei sein sollte. Wenn aber die Zaubereiministerin stürzt, wird der Fortschritt des gesamten Magischen Staates auf unabsehbare Zeit zum Stillstand kommen. Insofern versteht es sich von selbst, dass sie besonders hart und unnachsichtig mit Staatsfeinden abrechnen muss.

„DAS IST DOCH DER HAMMER!“, brüllte Bernie. „Dass sie eine riesige Mehrheit gegen sich hat, ist also kein Grund zurückzutreten, sondern die Rechtfertigung, Allen das Maul zu stopfen!“ Kopfschüttelnd und zornbebend las er weiter vor:

Ich hätte Dich gerne etwas schonender mit diesen harten Realitäten der Politik konfrontiert, aber irgendwann hättest Du sie sowieso lernen müssen, um in meine Fußstapfen treten zu können.

DA KANNST DU LANGE DRAUF WARTEN, DASS ICH IN SOLCHE FUSSSTAPFEN TRETE! ICH SPUCKE AUF DEINE FUSSSTAPFEN! ICH SPUCKE AUF DIE GANZE MUGGELWELT!“

Bernie schnaufte tief.

„Nur noch der Vollständigkeit halber den Rest“, sagte er schließlich ruhiger:

„Steh Deinem Freund bei, aber erwarte nicht von mir, dass ich der Zaubereiministerin in ihrer schwierigen Lage in den Rücken falle. Dein Dich liebender Vater.“

 

Bernie warf das Pergament auf den Tisch und starrte es düster an:

„Mit diesem Kerl habe ich nichts mehr zu tun!“

Roy unterbrach das nun folgende betretene Schweigen:

„Du solltest nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Sei froh, dass du einen Vater hast. Hat nicht Jeder.“

„Genau“, stimmte Albus ihm zu, „ich weiß zum Beispiel nicht, ob ich meinen jemals wiedersehe.“

„Wenn meiner sich anders verhielte“, erwiderte Bernie finster, „wüsstest du es. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich für ihn schäme.“

„Was aber voraussetzt“, gab Roy zu bedenken, „dass du sehr wohl etwas mit ihm zu tun hast. Du kannst dich nicht von ihm lossagen.“

„Er hat mich jahrelang belogen!“, fuhr Bernie auf.

„Aber Bernie“, wandte Roy ein, „er hat dich doch bestimmt auch jahrelang an den Weihnachtsmann glauben lassen, ohne dass du es ihm übelgenommen hättest.“

„Das ist doch etwas ganz Anderes!“

Roy wog den Kopf. „Eigentlich nicht. Das, was Politiker verkünden, was in der Zeitung steht und woran wir alle glauben sollen, ist so etwas wie der Weihnachtsmann für Erwachsene. Dein Vater hat dir jetzt reinen Wein eingeschenkt, und viel früher hätte er es nicht tun können. Er hat dich ent-täuscht, ja, das heißt, er hat dich von Täuschungen befreit. Du hast mit elf Jahren Illusionen verloren, in denen Andere ihr ganzes Leben lang befangen sind. Also worüber beschwerst du dich?“

Bernie starrte ihn fassungslos an:

„Du verteidigst ihn?“

„Ich verteidige nicht, was er tut“, stellte Roy klar, „und ja, ich hatte auf eine andere Reaktion gehofft, aber im Nachhinein muss ich zugeben, dass es Wunschdenken war – ich hätte es besser wissen müssen! Ich möchte nur, dass du fair mit ihm umgehst: Als Vater kann er so schlecht nicht sein. Und da er dir wichtige Wahrheiten über Politik gesagt hat, hast du jetzt ein paar Jahre Zeit, darüber nachzudenken, wie du später mit diesem Wissen umgehen willst: ob du um Politik generell einen Bogen machen willst oder nicht – und wenn nicht, ob du Alles anders machen möchtest als dein Vater…“

„Mit Sicherheit!“, rief Bernie entschlossen.

„… und riskieren möchtest, als einer jener Staatsfeinde zu enden, die man bei Nacht und Nebel… nun ja. Oder ob du doch in seine Fußstapfen trittst.“

„Egal, was ich sonst tue“, erwiderte Bernie, „das tue ich auf keinen Fall!“

Roy grinste.

„Ich weiß.“