31 – Der Patronus

 

Harry war mit seinem strammen Pensum im Oktober viel schneller vorwärtsgekommen als seinerzeit in den DA-Stunden, die er als Fünftklässler gegeben hatte. Kein Wunder: Er selbst besaß viel tiefere Kenntnisse als damals, vier seiner sechs Schüler waren Sechst- und Siebtklässler, deren bisheriger Unterricht in Verteidigung gegen die dunklen Künste außerdem durchweg von kompetenten Lehrern erteilt worden war – anders als bei ihm damals – und Alle waren hochbegabt. Selbst Albus konnte ordentlich mithalten, zumal er zwischen den DA-Stunden allein oder mit einem der Älteren zusätzlich übte.

Als Harry am ersten Montag im November apparierte, sah er daher die Zeit gekommen, seinen Schülern eine Freude zu machen:

„Heute fangen wir mit dem Patronus an!“

Die Unbestechlichen waren begeistert. Einen Patronus zu beschwören gehörte zur hohen Schule der Zauberei und war unter anderem das einzige bekannte Mittel zur Abwehr von Dementoren. Da Hermine Ende Oktober die Dementoren aus der Verbannung geholt und nach Askaban zurückbeordert hatte, war gerade das Erlernen des Patronuszaubers nun auch besonders dringlich geworden. Die Unbestechlichen hingen gebannt an seinen Lippen.

„Der Patronuszauber“, erläuterte Harry, „ist für viele Zauberer zu schwierig und wird deshalb in Hogwarts normalerweise nicht gelehrt. Er erfordert ein hohes Maß an magischer Energie, die man nicht lernen kann – man hat sie oder hat sie nicht. Es ist einfach eine Frage des Talents. Er erfordert aber noch mehr als das, nämlich höchste Konzentration und vor allem – und das ist das Entscheidende – eine bestimmte innere Haltung: In dem Moment, in dem man ihn beschwört, muss man glücklich sein. Ihr seht das Problem: Gerade, wenn man ihn am dringendsten braucht, das heißt in Lebensgefahr und wenn Dementoren versuchen, das Glück aus einem herauszusaugen, ist er am schwierigsten heraufzubeschwören.“

„Wie kann ich mich denn willkürlich glücklich machen?“, fragte Orpheus. „Mit einem Aufmunterungstrank?“

„Grundsätzlich keine schlechte Idee“, bestätigte Harry, „aber oft werdet ihr keine Zeit haben, noch schnell einen Aufmunterer zu schlucken. Nein, ihr müsst es im Kopf schaffen. Ihr könnt euch in eurer Phantasie etwas vorstellen, was euch glücklich macht, zum Beispiel den Quidditch-Pokal zu gewinnen“, sagte er lächelnd zu Julian, „aber am zuverlässigsten funktionieren glückliche Erinnerungen. Wenn Ihr den Patronus beschwören wollt, müsst ihr euch das glücklichste Ereignis vorstellen, das ihr in eurer Erinnerung findet, und zwar so plastisch wie möglich. Ich mache euch den Zauber jetzt einmal vor.“

Harry konzentrierte sich kurz, schwenkte seinen Stab und rief: „Expecto Patronum!“

Die Unbestechlichen mussten unwillkürlich blinzeln, da der nicht allzu große Raum schlagartig in gleißendes silberfarbenes Licht getaucht wurde. Als sie wieder hinsehen konnten, gewahrten sie einen gewaltigen, silbern glänzenden Hirsch, und brachen in bewundernde „Aaah!“, „Oooh!“, und „Cooool!“, aus. Harry ließ den Patronus mit einem erneuten Schlenker seines Zauberstabs wieder verschwinden.

„So muss es am Ende aussehen. Lasst euch aber nicht entmutigen, wenn es nicht auf Anhieb funktioniert. Man muss sehr viel üben, um es zu schaffen. Ich glaube nicht, dass ihr heute mehr als einen gestaltlosen Patronus hinbekommt, aber das ist der erste Schritt.“

Die Schüler machten sich mit größtem Eifer, aber unterschiedlichem Erfolg ans Üben.

Albus hatte ein Luxusproblem: Seit er denken konnte, war er nie wirklich unglücklich gewesen, und als er darüber nachdachte, welches seiner Erlebnisse das glücklichste gewesen war, kamen so viele in Frage, dass er die Qual der Wahl hatte. Allein in den letzten Wochen war er mindestens dreimal wirklich glücklich gewesen: als er feststellte, dass er in Scorpius einen echten Freund gefunden hatte, als Roy sagte, wie stolz er auf ihn war, und vor allem, als sein Vater ihm den Tarnumhang und die Rumtreiberkarte anvertraute. Letzteres war auch die Erinnerung, auf die er sich konzentrierte, als er nun das erste Mal Expecto Patronum rief.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Natürlich zeigte sich nicht auf Anhieb ein gestaltlicher Patronus, aber der silbrige Nebel, den sein Zauberstab ausstieß, war beachtlich und zeigte gleich so etwas wie Konturen, während die Zauberstäbe seiner viel älteren Freunde eher Dampfschwaden hervorbrachten, die sogleich wieder verflogen, und zum Teil nicht einmal das. Davon angespornt, übte Albus mit Feuereifer weiter, und ihm schien, dass sein Patronus beim zweiten, dritten und vierten Mal jeweils noch ein wenig größer und klarer wurde.

Dann allerdings war ein gewisser toter Punkt erreicht. Wie sehr Albus sich auch in der folgenden Stunde mühte: Sein gestaltloser Patronus war gut, er war besser als die der anderen, machte aber keine Anstalten, zu einer Gestalt heranzureifen. Die Erinnerung an die Übergabe der Karte und des Tarnumhangs schien sich irgendwie abzunutzen – vielleicht kam er deshalb nicht mehr so recht voran? Albus überlegte. Gab es denn nicht etwas, an das er schon immer gern und mit Glücksgefühlen zurückgedacht hatte? Wieder hatte er die Qual der Wahl, aber ein Erlebnis erschien ihm besonders passend. Ja, damit würde er es versuchen…

Die DA-Stunde neigte sich dem Ende zu. Harry hatte schnell erfasst, dass sein Sohn auf dem besten Wege war und nicht viel Unterstützung brauchte. Als Albus einmal aufsah und ihre Blicke sich trafen, zwinkerte Harry ihm bloß aufmunternd zu und hob den Daumen. Dann wandte er sich wieder Roy und Arabella zu, die an diesem Abend seine Sorgenkinder waren.

Während Orpheus‘, Julians und Ares‘ gestaltlose Patroni allmählich an Größe und Kontur zulegten, auch wenn sie noch nicht ganz so eindrucksvoll waren wie der von Albus, plagten Roy und Arabella sich immer noch mit Wölkchen ab, die jeder Spraydose imposanter gelungen wären.

Harry konnte es sich nicht erklären. Gerade Roy war einer der begabtesten Zauberschüler, die er je gesehen hatte – alle Zauber, die sie in den Wochen zuvor geübt hatten, waren ihm leichter von der Hand gegangen als allen Anderen, und Arabella stand ihm kaum nach. Der Patronus aber schien eine unüberwindliche Hürde zu sein.

„Nur Mut und nicht verkrampfen“, munterte er die beiden auf, die schon leicht resigniert die Köpfe schüttelten. „Beim Patronus müsst ihr locker bleiben, er gehört zu den wenigen Zaubern, deren Gelingen man nicht durch bloße Willensanstrengung erzwingen kann. Ich glaube, euer Fehler ist…“

Er kam nicht mehr dazu, den Fehler zu erläutern, denn genau in diesem Moment wurde der Raum jäh von strahlendem silbrigem Licht erfüllt. Arabella, die in die Richtung des Lichts sah, stieß einen spitzen Schrei aus. Harry fuhr herum und brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er sah: Auf dem Boden ringelte sich eine gewaltige, silbern leuchtende Schlange, die soeben majestätisch und stolz den Kopf mit dem Nackenschild emporreckte. Alle starrten voll Ehrfurcht auf das magische Tier. Keiner wagte zu sprechen.

„Wessen Patronus ist das?“, fragte Harry schließlich leise.

„M… meiner, Papa.“

Harry konnte es kaum fassen. Sein Sohn – sein Sohn! – hatte es als Erster geschafft! Er sprang hinüber zu Albus und schlang die Arme um ihn.

„Du bist besser als ich!“, jubelte er. „Ich brauchte damals viel länger, und dabei war ich schon dreizehn!“

Voll Euphorie, den Arm immer noch um Albus‘ Schulter gelegt, weidete er sich erneut an dem erhabenen Anblick des Patronus.

Auch die anderen fanden langsam ihre Fassung wieder. Ares kam zu Albus und klopfte ihm lachend auf die Schulter: „Meine Güte, eine Schlange als Patronus! Mehr Slytherin geht nicht!“

Nachdem Alle ihrem Jüngsten gratuliert hatte, sah Harry auf die Uhr und meinte: „Es ist jetzt halb neun, Zeit zum Aufhören. Einen besseren Schlusspunkt werden wir heute nicht mehr bekommen! – Und außerdem“, raunte er Albus zu, „kann ich es nicht erwarten, es deiner Mutter zu erzählen.“

 

Während die anderen schon vorausgegangen waren, verließen Roy und Albus als letzte den Geheimraum. Roy, so sehr er Albus seinen Triumph gönnte, war ein wenig bedrückt wegen seiner eigenen schwachen Leistungen.

„Darf ich dich etwas fragen?“

„Nur zu“, meinte Albus beschwingt.

„Woran hast du gedacht, als du diesen Patronus beschworen hast?“

„Na jaaa“, sagte Albus etwas gedehnt, „ach… es war eigentlich gar nichts Besonderes.“

Roy sah seinen Freund rot anlaufen und meinte schnell:

„Wenn du es für dich behalten möchtest, brauchst es mir natürlich nicht zu erzählen, das ist völlig okay.“

Albus sah zu ihm hoch. Es war ihm tatsächlich etwas peinlich, aber schließlich hatte Roy ihm auch schon Geheimnisse anvertraut.

„Ich habe…“ Er stockte, dann gab er sich einen Ruck. „Ich habe an Hermine gedacht.“

Roy blieb abrupt stehen und sah ihn mit großen Augen an.

„An Hermine?“, fragte er ungläubig.

„Natürlich nicht so, wie sie jetzt ist, sondern wie sie wirklich ist. Es war an Weihnachten vor sechs oder sieben Jahren. Rose und ich haben uns an sie gekuschelt, und sie hat uns stundenlang vorgelesen… Ich sage ja, es war überhaupt nichts Besonderes, aber in diesem Moment war ich eben glücklich!“, rief er mit leichtem Trotz, als befürchtete er, Roy werde ihn deswegen maßregeln.

Der aber sah ihn nur mit einem gewissen melancholischen Lächeln an, das Albus so noch nie an ihm wahrgenommen hatte, nickte und murmelte:

„Ich verstehe…“

 

In der nächsten DA-Stunde am Mittwoch schaffte Orpheus den Patronus – einen Fuchs –, am Freitag gelang Julian einer in Gestalt eines Pumas, und der von Ares erwies sich als Stier. Nur Roy und Arabella krebsten seit Montag auf der Stelle. Ihre nach wie vor gestaltlosen Patroni waren nicht mehr ganz so schwächlich wie zu Beginn, aber immer noch nicht so beeindruckend wie die Prachtwolke, die Albus gleich auf Anhieb gezaubert hatte.

Als Harry am Ende der Stunde disappariert war und Albus der Karte des Rumtreibers entnommen hatte, dass sie den Geheimraum ohne Furcht vor Entdeckung verlassen konnten, sagte Arabella:

„Geht schon mal vor, Roy und ich üben weiter.“

„Ach ja?“, fragte Roy verblüfft.

„Ja!“, antwortete sie energisch. „Wir gehen hier nicht ohne Patronus raus!“

„Kann ich euch vielleicht helfen?“, bot Albus an.

Bevor Roy irgendetwas sagen konnte, griff Julian ein:

„Lass mal, Al.“ Um seine Mundwinkel spielte ein gewisses Schmunzeln. „Ich glaube, das kriegen die beiden ganz gut alleine hin.“ Und er schob den verdutzten Albus Richtung Ausgang.

Arabella wartete, bis sie mit Roy allein war, und sah ihn dann halb fragend, halb prüfend an.

„Du weißt, warum wir keinen Patronus schaffen?“

Roy nickte. „Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, bei mir ist es die Sache mit den verdammten Erinnerungen!“ Er ächzte. „Ich kann mir das Hirn zermartern, soviel ich will, ich finde nichts! Natürlich gibt es viele erfreuliche Erinnerungen, aber Glück…“

„Bei mir ist es genauso“, unterbrach ihn Arabella, während sie langsam auf ihn zutrat.

„Glück…“ wiederholte Roy zögernd. „Ich habe ganz einfach keine wirklich rundum glückliche Erinnerung.“

Arabella trat nun so dicht an ihn heran, dass Ihre Gesichter kaum noch eine Handbreit voneinander entfernt waren und er ihren Busen an seiner Brust spüren konnte.

„Dann verschaff dir doch endlich eine, du Idiot…“ flüsterte sie zärtlich, „und mir auch!“

Roy, der kaum zu atmen wagte, zögerte noch einen Moment, dann nahm er ihr behutsam die Brille von der Nase und zog ihren Körper an sich…

 

Noch am selben Abend stellte sich heraus, dass Roys Patronus ein Bär war, der von Arabella eine Wölfin.

32 – Der Friedhof der Todesser

 

Der schneidende Wind fegte dunkelgraue Wolken vor sich her, und obwohl es an diesem Sonntag Mitte November erst ein Uhr mittags war, brannte hinter den Fenstern der meisten Muggelhäuser des Dörfchens Kinkirk schon oder noch Licht, als Julian und Roy unter dem Schutz eines Unsichtbarkeitszaubers in einem Wäldchen in der Nähe des Dorfes landeten, ihre Besen abstellten und sich wieder sichtbar machten. Sie hatten den Friedhof schon überflogen und gesehen, dass keine Besucher dort waren. Um diese Zeit saßen die Muggel beim Mittagessen.

Beide trugen Jeans und dicke Muggeljacken, um nicht mehr aufzufallen, als zwei Fremde in einem kleinen Dorf eben auffallen. Ihre Vorsicht erwies sich als überflüssig. Kein Mensch war bei diesem Wetter auf der Straße, und niemand schien aus dem Fenster zu sehen.

Bei Sonnenschein hätte der Dorffriedhof mit seinen vielen verfallenen, teils moosüberwucherten Grabsteinen neben der uralten Kirche etwas Romantisches gehabt, heute aber wirkte er nur trostlos. Die beiden fanden schnell die Gedenktafel für die Kriegsgefallenen des Dorfes, sahen sich kurz um, ob auch niemand sie beobachtete, und durchschritten die Gedenkplatte mit derselben Leichtigkeit wie sonst die Absperrungen am Bahnhof King’s Cross.

Vor ihnen lag ein Gräberfeld, das sich von dem der Muggel dadurch unterschied, dass keines der Gräber mit einem Kreuz geschmückt war und viele von ihnen nicht einmal einen Grabstein aufwiesen. Bei ihnen verrieten lediglich die Schildchen, die das Ministerium auf den Gräbern der Todesser hatte anbringen lassen, wer dort bestattet war.

Auf der Suche nach den Gräbern der Lestranges gingen sie gemessenen Schrittes die Gräberreihen entlang. Während Julian voranging, bekreuzigte sich Roy.

In der zweiten Reihe stießen sie auf das Doppelgrab von Rodolphus und Bellatrix. Roy blieb diskret zurück, als Julian an das Grab trat und minutenlang schweigend stehenblieb. Während Julian ganz in die stumme Zwiesprache mit seinen Großeltern versunken war, musterte Roy das Grab genauer: Die Schildchen des Ministeriums waren noch da, aber zusätzlich erhob sich über dem Grab ein großer Stein aus herrlichem rosa Marmor. Roy runzelte die Stirn: Während auf den Ministeriumsschildchen deutlich beide Namen zu lesen waren, stand auf dem Grabstein nur der von Bellatrix. Merkwürdig. Wer hatte diesen Grabstein überhaupt aufstellen lassen? Die Malfoys waren es nicht gewesen – Scorpius, Julians Vetter zweiten Grades, hatte auf Julians Bitte hin extra zu Hause nachgefragt, ob sie sich um das Grab gekümmert oder die Toten vielleicht umgebettet hatten. Und warum hätten die Malfoys – oder wer auch immer – Rodolphus‘ Namen unterschlagen sollen?

Nach einigen Minuten zog Julian zwei winzige Blumensträuße aus seiner Jackentasche, brachte sie mit einem Vergrößerungszauber wieder auf ihre Normalgröße, sodass man nun sehen konnte, dass es seine Spezialblumensträuße waren, und legte einen auf jedes Grab.

Plötzlich vernahmen beide ein diskretes Hüsteln hinter sich. Als sie sich umdrehten, standen sie einem hageren, eher klein gewachsenen, schwarzgekleideten Mann mit ernstem Gesicht gegenüber, der in den Fünfzigern sein mochte.

„John MacBride. Ich bin der Friedhofswärter.“

Er konnte nichts Anderes sein. Jahrzehnte täglich geübter Pietät hatten Spuren in seinen Zügen hinterlassen, zu deren vielen Falten keine Lachfalten zu gehören schienen.

„Roy MacAllister“ – „Julian Lestrange“, stellten die beiden jungen Männer sich ihrerseits vor.

Als Julian seinen Namen nannte, zog MacBride interessiert die Augenbrauen hoch.

„Mister Lestrange! Wie schön, dass Sie kommen konnten!“, rief er, als habe er einen lang erwarteten, gern gesehenen Gast vor sich. „Wenn Sie mir bitte in mein Büro folgen möchten, für Sie ist eine Nachricht hinterlegt worden.“

Noch bevor die beiden verdutzten Jungs irgendetwas sagen konnten, machte er kehrt und ging auf die Rückseite der Gedenktafel zu. Roy und Julian beeilten sich, ihm zu folgen.

Das Büro des Friedhofswärters war klein und etwas schäbig, aber ordentlich aufgeräumt. Alle Wände waren hinter Regalen voller Ordner verborgen, die bis zur Decke reichten. MacBride schloss eine der Schubladen seines Schreibtischs auf, blätterte in den darin liegenden Unterlagen und zog schließlich ein versiegeltes Briefkuvert heraus.

„Der Gentleman, der den Grabstein aufstellen ließ“, erläuterte er, „hat mir dies mit der Anweisung hinterlassen, es nur Julian Lestrange, also Ihnen, zu übergeben.“ Er nickte Julian zu und überreichte ihm das Kuvert.

„Eine Frage, Sir“, meldete sich Roy. „Warum hat dieser Herr auf den Grabstein nur einen der beiden Namen gravieren lassen?“

„Das habe ich ihn auch gefragt“, sagte MacBride, „aber er hat mich, äh, überredet, keine weiteren Fragen zu stellen und nur diese Nachricht aufzubewahren.“

Muss ja ein dickes Trinkgeld gegeben haben, dieser Gentleman, dachte Roy, während Julian das Siegel erbrach und den Umschlag öffnete. Er enthielt zwei Blätter, die in enger Handschrift beschrieben waren. Julian las die ersten Zeilen, dann die letzten – und starrte den Friedhofswärter mit offenem Mund an. „Wann war dieser Mann hier?“, fragte er.

„Das war 2007, vor ziemlich genau zehn Jahren“, antwortete MacBride.

Julian sah ihn noch einen Moment an, als erwartete er weitere Erläuterungen, dann faltete er die beiden Blätter zusammen, steckte sie in den Umschlag zurück und erhob sich.

„Ich danke Ihnen vielmals, Mister MacBride. Nun möchte ich Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.“ Er gab ihm die Hand, und nachdem auch der verwunderte Roy sich verabschiedet hatte, traten beide wieder ins Freie.

Als sie sich einige Schritte von dem kleinen Bürohäuschen entfernt hatten, raunte Julian Roy zu: „Er lebt.“

Rodolphus?“, fragte Roy, als könne irgendjemand anderes gemeint sein.

Julian nickte. „Der Brief ist von ihm.“

Da Julian beim Lesen unbeobachtet bleiben wollte, gingen sie zunächst zurück in das Wäldchen, in dem sie ihre Besen abgestellt hatten.

„Wir sollten einfach disapparieren“, schlug Roy vor. „Das mit den Besen wäre gar nicht nötig gewesen, dieser MacBride ist offenbar kein Ministeriumsspitzel, der uns wegen illegalen Apparierens anzeigt.“

Julian stimmte ihm zu, beide disapparierten und fanden sich mitsamt ihren Besen in ihrem Geheimraum in Hogwarts wieder. Als sie es sich auf den Sitzkissen bequem gemacht hatten, zog Julian erneut den Umschlag hervor und begann vorzulesen:

 

Kinkirk, 4. November 2007

 

Lieber Julian,

wenn Du diesen Brief liest, werden von heute an gerechnet sicherlich einige Jahre vergangen sein, aber Du kannst sicher sein, dass ich, Dein Großvater Rodolphus Lestrange, noch am Leben bin.

Während der Flucht aus Hogwarts nach der Schlacht von 1998 habe ich der Leiche meines gefallenen Bruders Rabastan mit einem Verwechslungszauber meine Gestalt verliehen, um mich der Verfolgung durch die Auroren zu entziehen. Mein Bruder liegt in dem Grab, das mit meinem Namen bezeichnet ist. In meinem Testament nenne ich meine wirkliche Identität und die des Toten. Ich habe auch etwas Geld zurückgelegt, damit mein Bruder würdig umgebettet werden und ich meine letzte Ruhe an Bellatrix‘ Seite finden kann. Ich habe des Weiteren verfügt, dass Du im Falle meines tatsächlichen Ablebens benachrichtigt wirst. Daran, dass Du eine solche Nachricht nicht bekommen hast, kannst du erkennen, dass ich noch lebe.

Vielleicht fragst Du Dich, warum ich nicht einfach Kontakt zu Dir aufnehme. Spätestens, wenn Du nach Hogwarts kommst und Dein Vater keine Briefe mehr abfangen kann, wird das ja möglich sein.

Nun, ich habe Deinen Vater vor einem Jahr, also 2006, in der Gestalt eines ihm bekannten Zauberers aufgesucht – Vielsaft macht’s möglich – und lange mit ihm gesprochen. Es war schwer, den Hass und die Verachtung zu ertragen, mit denen er von Bellatrix und mir, seinen Eltern, sprach. Er sagte mir, wenn sein Vater noch am Leben wäre, würde er ihn ohne Weiteres dem Ministerium ans Messer liefern. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch Dich zum einzigen Mal in meinem Leben gesehen, und ich darf sagen, dass ich sehr stolz auf Dich war und bin. Leider musste ich dem Gespräch mit Deinem Vater entnehmen, dass er auch Dich in demselben Geist des Hasses und der Verachtung gegen uns erziehen würde, der ihm selbst eingetrichtert worden war.

Ich will ihn nicht verurteilen, denn wir selbst haben seinem Leben die schwere Hypothek auferlegt, die er an Dich weitergab. Ich finde, wenn es Dir ungeachtet dieser Hypothek gelingt, ein glückliches Leben zu führen, dann habe ich nicht das Recht, mich in dieses Leben zu drängen. Du aber hast jedes Recht, mich zu finden, wenn Du das möchtest. Da Du genug Interesse an mir hast, um mein Grab aufzusuchen, kann ich davon ausgehen, dass Du auch interessiert daran bist, mich kennenzulernen. Das ist auch der Grund, warum mein Name nicht auf dem Grabstein steht. Ich wollte sichergehen, dass Du Dich genug wunderst, um den Friedhofswärter zu fragen, falls er Deine Ankunft nicht selbst bemerken sollte.

Ich gestehe auch, dass ich mich ein wenig vor Deinen Fragen über meine Zeit bei den Todessern fürchte, aber Du hast das Recht, sie mir zu stellen. Du solltest wissen, dass ich die vielen Verbrechen, die ich unter Voldemorts Einfluss begangen habe, zutiefst bereue. Ich möchte Dir aber gerne erklären, wie es dazu kommen konnte, dass er junge Leute wie uns so in seinen Bann zog, dass wir in seinem Dienst buchstäblich vor nichts zurückschreckten.

Ich bin in der Muggelwelt untergetaucht und lebe heute in Edinburgh – London wäre wegen der vielen Ministeriumsleute dort zu gefährlich. Du findest mich an der Adresse Leamington Terrace Nr. 5. Sollte ich bis zu Deinem Eintreffen umgezogen sein, werde ich dafür sorgen, dass man Dir meine neue Adresse nennt. Allerdings habe ich nicht vor umzuziehen. Ich führe hier – unter dem Namen Timothy Williams – eine unauffällige Existenz als Taxifahrer. Wenn Du mich besuchen kommen möchtest, dann am besten nach 6 Uhr abends, wenn ich meine Schicht beendet habe.

Ich bin sehr glücklich, dass es Dich gibt, und sehne mich danach, mit Dir zu sprechen.

Dein Großvater

Rodolphus

 

Roy sah, dass Julian mit seinen Tränen kämpfte, als er den Brief sinken ließ. Keiner von beiden sagte ein Wort.

Julian brach schließlich das Schweigen. „Dafür könnte ich meinen Vater umbringen!“

„Wenn dein Großvater ihn nicht verurteilt“, meinte Roy vorsichtig, „solltest du es vielleicht auch nicht tun.“

„Hör auf!“, schnauzte Julian ihn an. „Es ist ein menschliches Urgesetz, zu seiner Familie zu halten! Hätte er sich daran gehalten, dann hätte Rodolphus sich zu erkennen geben können, und ich hätte einen Großvater gehabt. Er hatte nicht das Recht, mir das vorzuenthalten!“ Seine Lippen bebten.

Roy sah ein, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion war, zumal Julian ja nicht unrecht hatte, sagte aber: „Wenn ich du wäre, würde ich jetzt nicht an meinen Vater, sondern an den Großvater denken. Wirst du ihn besuchen?“

„Selbstverständlich!“, rief Julian. „Und zwar noch heute!“

„Gut, dann wirst du McGonagall sagen, dass du noch einen ehemaligen Todesser ausfindig gemacht hast, und sie um die Erlaubnis bitten, noch heute nach Edinburgh zu disapparieren und gegebenenfalls erst spät zurückzukommen.“

Julian sah ihn verwundert an. „Kommst du nicht mit?“

„Ich möchte nicht stören, es ist doch eine familiäre Sache, etwas sehr Persönliches…“

„Ja eben! Du bist mein bester Freund, ich lege Wert darauf, dich dabeizuhaben!“

Roy hatte eigentlich vorgehabt, die Zeit mit Arabella zu verbringen, aber da sein bester Freund ihn brauchte, würde er ihn nicht alleinlassen. Arabella würde es verstehen. Er lächelte.

„Dann natürlich gerne!“

33 – Rodolphus Lestrange

Nach Edinburgh, wo sie nicht mit Ministerialzauberern zu rechnen brauchten, begaben Julian und Roy sich wieder durch Apparieren. Als sie abends um viertel nach sechs ankamen, war es bereits dunkel. Die dreistöckigen Altbauten, die die Leamington Terrace säumten, hätten einen neuen Anstrich vertragen, wirkten sonst aber durchaus gepflegt.

Vor der Nummer 5 war ein Taxi geparkt. Die Jungs gingen zur Haustür und fanden den Namen Williams, der offenbar zu einer Wohnung im ersten Stock gehörte. Julian zögerte, sah seinen Freund an.

„Ich bin ganz schön aufgeregt, weißt du? Noch heute Vormittag hatte ich keine Ahnung…“ Er brach ab.

„Na komm, jetzt klingele auch“, nickte Roy ihm ermutigend zu.

Julian atmete tief ein, hielt einen Moment die Luft an – und drückte den Klingelknopf.

Eine Gegensprechanlage schien es nicht zu geben. Unter leisem Summen entriegelte sich die Tür. Die beiden betraten den Hausflur und gingen eine Etage nach oben. Vor der Tür, die mit dem Namen „Williams“ gekennzeichnet war, blieben sie stehen. Einen Augenblick lang verdunkelte sich der Türspion, dann wurde die Tür von innen aufgeschlossen, während Roy einen Schritt hinter Julian zurücktrat.

In der Tür stand ein älterer, aber durchaus noch kraftvoll wirkender Mann, dessen ergrautes Haar sich von der Schädeldecke weitgehend zurückgezogen hatte, dessen Züge Julian aber von den Fahndungsfotos alter Ausgaben des Tagespropheten her wiederzuerkennen glaubte – den einzigen Bildern seines Großvaters, die er je zu Gesicht bekommen hatte.

Der alte und der junge Mann starrten einander an. Dann fragte Julian behutsam:

Rodolphus?“

Ohne ein weiteres Wort umarmten die beiden sich und hielten sich minutenlang fest, während sie wieder und wieder ihre Tränen verdrücken mussten. Als sie die Umarmung lösten, wies Julian auf Roy:

„Großvater, darf ich dir Roy MacAllister vorstellen? Er ist mein bester Freund, es war mir wichtig, ihn mitzubringen.“

„Von Ihnen habe ich schon im Tagespropheten gelesen, Roy“, sagte Rodolphus, während er Roys Hand schüttelte und zur Seite trat, um die beiden in die Wohnung zu lassen.

„Beziehst du den regelmäßig?“, fragte Julian.

„Nein“, erwiderte der Alte. „Ein Abonnement wäre womöglich verräterisch, aber ein Kollege von mir ist ein Squib, er überlässt mir oft die Ausgaben, die er schon gelesen hat. Er weiß nicht, wer ich bin, er hält mich auch für einen Squib. – Entschuldigt bitte, ich hatte euch nicht erwartet und daher nicht aufgeräumt.“

Er führte sie in das kleine Wohnzimmer. Es hätte der Entschuldigung nicht bedurft: Gemessen daran, dass sie das Zuhause eines alleinstehenden Mannes war, war Rodolphus‘ Wohnung ziemlich ordentlich und sauber – vermutlich bediente er sich eines Aufräumzaubers –, und eine gewisse Rest-Schlamperei sorgte nur für eine gemütliche Atmosphäre. Rodolphus zauberte drei volle Teetassen herbei.

„Leben eigentlich viele Squibs in der Muggelwelt?“, wollte Julian wissen.

„Mehr, als man meinen sollte. Ich glaube, jeder Muggel kennt irgendeinen, der zu ‚übersinnlichen Wahrnehmungen‘ fähig ist, wie die Muggel das nennen. Ich suche mir meine Bekannten vorzugsweise unter Squibs – auf reine Muggel würde ich wahrscheinlich leicht verschroben wirken.“

Es entstand eine Pause, in der Großvater und Enkel einander ansahen.

„Ich hätte dich gerne früher kennengelernt“, sagte Julian schließlich.

„Ich dich auch“, seufzte Rodolphus. „Hattest du einen bestimmten Anlass, nach mir zu suchen?“

„Wir haben dein Buch über den Eindringzauber des Dunklen Lords gelesen und dein Pseudonym entschlüsselt“, sagte Julian, während sein Großvater lächelte. „Eines wüsste ich gerne: Du hast das Buch mir gewidmet – aber wie konntest du wissen, dass ich es lesen würde? Die Chance war eins zu tausend, es stand in der Verbotenen Abteilung.“

„Dieses Buch ist eine Art Flaschenpost. Ich glaube heute, dass es so etwas wie Zufall nicht gibt. Wenn Gott will, dass eine Flaschenpost bei der Person ankommt, für die sie bestimmt ist, dann kommt sie auch an.“ Er nahm einen Schluck Tee. „Und so unwahrscheinlich war es nun auch wieder nicht, dass du nach Informationen über die Todesser suchen und ein Buch lesen würdest, das mit ‚Dunkler Lord‘ verschlagwortet ist. Ich hatte es Madam Pince anonym als Buchspende geschickt. Dass es in der Verbotenen Abteilung gelandet ist, wundert mich allerdings, schließlich stehen keine Anleitungen drin.“

„Und du bist sicher, dass Voldemort diese Art Eindringzauber benutzt hat, um seine Anhänger zu beherrschen?“

Der Alte nickte. „Was Bellatrix und mich, aber auch viele Andere angeht, ja. Es gab aber auch Einige, die er gar nicht zu verhexen brauchte.“

Walden Macnair zum Beispiel?“, fragte Julian.

Sein Großvater sah ihn erstaunt an, nickte aber. „Walden Macnair zum Beispiel. Woher weißt du das?“

„Wir – sein Sohn und ich – haben ihn neulich besucht.“

Walden war ein rauflustiger Abenteurer, dem Voldemort das aufregende Leben ermöglichte, das ihm lag.“

„Er scheint dich gut leiden zu können. Als wir ankamen, sagte er so etwas wie: Ein Lestrange ist ihm immer willkommen.“

Der Alte lächelte wieder. „Wir haben uns damals gut verstanden. Walden ist nicht das, was man einen guten Menschen nennen würde, aber er ist unkompliziert und hat einen gewissen trockenen Humor. Außerdem war er ein berserkerhafter, todesverachtender Kämpfer, genau der Typ, den man an seiner Seite haben möchte, wenn es brenzlig wird.“

Es entstand eine lange Pause. Dem Jungen brannte offenbar eine Frage auf der Zunge, und der Alte ließ ihm Zeit, sie zu formulieren. Schließlich begann Julian zögernd:

„Was…“ Er stockte. „Was war eigentlich mit den Longbottoms?“

Der Großvater antwortete nicht sofort. Er sah einen Moment zum Fenster hinaus, als gäbe es dort etwas Anderes zu sehen als pechschwarze Nacht.

„Das“, sagte er langsam, „ist eine der Fragen, vor denen ich mich gefürchtet habe, seit ich weiß, dass der Sohn der Longbottoms Lehrer in Hogwarts ist. Willst du es wirklich im Detail wissen?“

Julian zögerte kurz, sagte dann aber: „Ja.“

Rodolphus‘ Erzählung begann stockend, wurde dann aber immer flüssiger. Er schilderte, wie sie – er, Bellatrix, sein Bruder Rabastan und Barty Crouch jr. – nach dem ersten Sturz Voldemorts versuchten, dessen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Er beschrieb die Wirkung des Cruciatus-Fluchs, mit dem sie tagelang die beiden Auroren folterten, von denen sie glaubten, sie wüssten etwas darüber.

„Am Ende war von den beiden nicht mehr viel übrig“, schloss er seinen Bericht. „Man bekam nicht nur keine Informationen über Voldemort, sondern überhaupt kein vernünftiges Wort mehr aus ihnen heraus. Wir wollten sie schon töten, aber die Auroren kamen uns zuvor und befreiten sie. Einen Gefallen haben sie ihnen damit nicht getan, glaube ich. Ein Squib-Bekannter erzählte mir vor ein paar Jahren, dass er sie im St. Mungo gesehen habe. Ich weiß nicht, ob sie heute noch leben, aber sie werden die Klinik nie wieder verlassen. – Und wozu das alles? Nur um diesen Verbrecher zurückzuholen, dem wir verfallen waren!“

Er starrte düster ins Leere.

„Ihr macht euch keinen Begriff davon, wozu Menschen fähig sind, wenn sie glauben, es diene einem höheren Ziel. Und wenn dann noch jemand kommt, der ihr Gewissen völlig ausschaltet…“

„Wie kommt es eigentlich, dass du Voldemorts Manipulationstechnik so genau beschreiben kannst?“, wollte Julian wissen. „Ich meine… er wird euch doch nicht erzählt haben: Ich habe euch so und so manipuliert.“

„Doch“, sagte Rodolphus, „genau das hat er getan!“

Julian starrte seinen Großvater mit offenem Mund an. „Er hat es euch gesagt?“

„Kaum zu glauben, was?“

Ein bitteres Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

„Da sagt dir einer, ich habe dein Gewissen besetzt, ich habe die totale Kontrolle über dich, du bist nicht mehr als eine Marionette, und deine Seele wird daran zugrunde gehen – und du sitzt da, sagst zu allem Ja und Amen und glaubst, es müsse so sein!“ Rodolphus starrte auf den Boden. Plötzlich sah er nicht mehr wie ein rüstiger Sechziger aus, sondern wie ein gebrochener Greis.

„Weißt du, Julian“, sagte er leise, „dass ich zuließ, dass er das mit mir macht, war schlimm genug. Dass ich aber Bellatrix nicht geschützt habe, verzeihe ich mir nie! Von allen Taten und Unterlassungen, die ich bereue – und das sind einige –, war das die schlimmste. Ja, ich weiß, wie man heute über sie spricht, ich verstehe es sogar, nach all ihren – unseren – Verbrechen. Aber glaub mir, sie war nicht immer so! Als wir uns kennenlernten, war sie mehr als nur eine umwerfend schöne junge Frau, sie war klug, witzig, lebenslustig, ein bisschen frech, ein bisschen kokett, aber nicht zu sehr – zwischen uns funkte es sofort. Bellatrix war die große, die einzige Liebe meines Lebens. Sie war Alles für mich. Sogar das abscheuliche Zerrbild ihrer selbst, das am Ende von ihr übrig war, habe ich noch geliebt. Ich habe sie geliebt – und doch habe ich zugelassen, dass Voldemort ihre Seele zerstörte. Ich habe sie nicht geschützt!“

Er stützte die Ellbogen auf seine Knie und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Was er jahrelang in sich hineingefressen hatte, drängte mit Macht heraus.

„Ich habe sie nicht geschützt!“

Der Körper des alten Mannes bebte minutenlang unter stummen Schluchzern, während er, das Gesicht immer noch in den Händen verborgen, um Fassung rang. Schließlich atmete er ein paar Mal tief durch und richtete sich wieder auf.

„Entschuldigt bitte.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, sagte Julian, der seinerseits sichtlich Mühe hatte, mit seiner Erschütterung fertig zu werden. „Ich bin dein Enkel, mit wem willst du darüber reden, wenn nicht mit mir? Und ich finde, du bist zu gnadenlos mit dir selbst. Du standst selbst unter einem Fluch…“

„Ja, du bist mein Enkel, aber in der Natur ist nicht vorgesehen, dass Enkel ihre Großväter trösten. Es sollte umgekehrt sein! Außerdem hätte ich Voldemort gar nicht erst die Chance geben dürfen, in meine Seele einzudringen. Ihr wisst ja: Diese Art von Fluch funktioniert nur bei denen, die die Bereitschaft mitbringen, sich manipulieren zu lassen. Ja, ich war ein Opfer dieses Fluchs, aber kein unschuldiges Opfer, denn es ist der einzige Fluch, bei dem es so etwas wie unschuldige Opfer nicht gibt.“

Er sah nun Roy an, dessen Gegenwart er bis jetzt kaum wahrgenommen hatte. „Entschuldigen Sie dieses Schauspiel, Roy, Sie müssen ja einen schlimmen Eindruck haben.“

Roy, dessen Augen ebenfalls schimmerten, schüttelte den Kopf. „Ich hätte einen schlimmen Eindruck, wenn es Sie nicht mitnehmen würde.“

Alle nippten an ihrem Tee und schwiegen.

„Wir müssten über diesen Fluch noch einiges mehr erfahren“, nahm Julian schließlich das Gespräch wieder auf. „Wir glauben, dass irgendein Schwarzmagier, dessen Identität uns unbekannt ist, die Zaubereiministerin manipuliert.“ Er schilderte seinem Großvater ihre Beobachtungen der letzten Wochen. „Harry Potter, der sie sehr gut kennt…“

„Potter?“, unterbrach ihn Rodolphus. „Was habt ihr denn mit dem zu tun?“

„Sein Sohn Albus ist ein Slytherin und unser Freund. Dadurch ist der Kontakt zustande gekommen. Harry sagt, dass er immer häufiger Verhaltensweisen an ihr beobachtet, die für sie ungewöhnlich sind, einen Fanatismus und eine Intoleranz, die es so vorher wohl nicht gab. Bei ihrem letzten Zusammentreffen waren wir dabei. Das war, als sie ihn gefeuert hat. Sie schien plötzlich eine andere Person geworden zu sein.“

„Ja, ich habe davon gehört, dass Potter seines Postens enthoben worden ist, allerdings habe ich dem bisher keine Bedeutung beigemessen.“ Rodolphus dachte nach. „Nun, wenn es tatsächlich so ist, dann würde es genau zu dem passen, was der Dunkle Lord uns erzählt hat. Er übernahm zunächst nur sporadisch die Kontrolle, wenn es nötig war, dann immer häufiger und systematischer, bis er schließlich die Seele des Betroffenen ganz verdrängte.“

„Wir haben den Verdacht“, fuhr Julian fort, „dass der Sicherheitschef Cesar Anderson derjenige ist, der sie manipuliert, weil er über die nötigen Kenntnisse, ein Motiv und als ihr ständiger Begleiter über die Gelegenheit verfügt. Einen Beweis dafür haben wir allerdings nicht. Außerdem meint Harry, dass es nicht zwingend eine lebende Person sein müsste, sondern dass die Manipulation auch von einem magischen Gegenstand ausgehen könnte, einem Horkrux zum Beispiel.“

„Beides wäre denkbar, wenn der große Unbekannte sein Handwerk beim Dunklen Lord gelernt oder sich Informationen über seine Methoden verschafft hätte.“

Er schilderte Voldemorts Eindringmethoden, die sich enttäuschenderweise genau mit denen deckten, die auch Harry beschrieben hatte.

„Schade“, meinte Roy. „Wir hatten gehofft, Sie könnten uns irgendetwas sagen, was uns einen Hinweis gibt, wie man diesen Fluch brechen kann.“

„Tja, mein Bester“, sagte Rodolphus und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ich fürchte, wenn der Unbekannte die Methoden des Lords beherrscht, ist dagegen kein Kraut gewachsen. Ihr könntet die Ministerin natürlich töten, dann hätte der Betreffende seine Macht verloren, aber sie selbst wäre dann eben auch tot. Für ihre Seele wäre das vielleicht besser, als langsam abzusterben, aber dazu müsstest ihr kaltblütige Killer sein, und das seid ihr nicht. Und als einer, der das schon einmal war, kann ich euch nur dazu beglückwünschen.“

„Aber angenommen… also nur einmal angenommen, wir würden die Ministerin in unsere Gewalt bringen…“ begann Julian, während sein Großvater erstaunt die Augenbrauen hob, „gäbe es dann vielleicht einen Weg, den Schwarzen Magier auszuschalten?“

Julian wollte seinem Großvater nicht sagen, dass der Entführungsplan längst gefasst war, aber dieser begriff auch so, dass die Frage nicht bloß theoretisch gemeint war. Rodolphus stieß einen leisen Pfiff aus und nickte anerkennend mit dem Kopf.

„Donnerwetter, habt ihr Schneid!“, meinte er und sann nach. „Also nur mal angenommen, ihr hättet auch bei diesem Plan Harry Potter auf eurer Seite, dann habt ihr eine gewisse Erfolgschance, sonst nicht. Potter hat schon den Lord selbst besiegt, er wird wohl auch mit irgendeinem Epigonen fertigwerden. Ob und wie es geht, wird er allerdings selbst herausfinden müssen, ich kann euch keine Anleitung mitgeben, nicht einmal Fingerzeige. Dieser Fluch ist teuflisch genial, Voldemort selbst war fest überzeugt davon, dass es keinen Gegenfluch und auch sonst kein Gegenmittel gibt.“

„Denk nach, Großvater, hat Voldemort nicht wenigstens eine Andeutung hinterlassen, wonach man zu suchen hätte?“

„Hmmm“, brummte der Alte und fixierte einen imaginären Punkt in der Ferne. „Zwei Seelen in einer Person… und ihr wollt nur die eingedrungene böse Seele ausschalten und die andere schonen…“

Er kniff die Augen zusammen und sah konzentriert zur Decke.

„Es gäbe vielleicht etwas… Voldemort hat es einmal erwähnt…“

Er blickte wieder zu den beiden Jungs, die ihn erwartungsvoll ansahen.

„Mehr als ein vager Hinweis ist es allerdings nicht. Voldemort war besessen von allem, was mit Salazar Slytherin zu tun hatte – er hielt sich ja für dessen Erben –, und er sammelte nicht nur schriftliche Aufzeichnungen, von denen es leider nicht viele gibt, sondern auch Sagen und mündliche Überlieferungen. In seiner Zeit als Gehilfe bei Borgin & Burkes hat er umfangreiche Erkundigungen eingezogen. Er sagte uns, der Legende nach habe Slytherin zwei magische Waffen hinterlassen, eine dunkle Waffe der Zerstörung und eine helle der Heilung, also eine, die jeden Fluch bricht, jede Seele heilt und nur gegen das Böse wirkt, gegen dieses aber unwiderstehlich. Das würde zu dem passen, was wir bruchstückhaft über Slytherins magische Philosophie wissen. Slytherin dachte dualistisch, er war durchdrungen von der Idee, dass die helle und die dunkle Seite der Magie sich in einem gewissen Gleichgewicht befinden müssten.“

„Und was waren das für Waffen?“, fragte Roy gespannt.

„Die dunkle Waffe war der Basilisk, den er in Hogwarts einmauerte“, sagte Rodolphus, „die helle – tja, das wusste nicht einmal Voldemort. Ich glaube, es interessierte ihn auch nicht wirklich. Fürs Heilen fühlte er sich nicht zuständig.“

„Was könnte es denn gewesen sein?“ Julian hatte sich weit vorgebeugt. „Vielleicht so etwas wie das Gryffindor-Schwert?“

Rodolphus zuckte die Achseln. „Es könnte alles Mögliche sein – eine Waffe wie das Gryffindor-Schwert, ein Tier wie der Basilisk, aber ebenso gut eine Pflanze, ein Trank oder ein magischer Gegenstand. Zwei Dinge allerdings gelten wohl als sicher: So, wie das Gryffindor-Schwert nur von einem Gryffindor geführt werden kann, dienen auch Slytherins Waffen nur Slytherins. Und die Waffe muss sich in Hogwarts befinden.“

Nachdenkliche Stille breitete sich aus.

„Wir müssten wohl wieder in der Verbotenen Abteilung einen Hinweis suchen“, meinte Roy.

„Tut das“, erwiderte Rodolphus, „aber versprecht euch nicht zu viel davon. Wenn Voldemort, der die Bestände der Verbotenen Abteilung besser kannte als irgendwer sonst, es nicht gefunden hat, werdet ihr wahrscheinlich auch nichts finden, denn neue Bücher zu diesem Thema dürften in den letzten siebzig Jahren kaum erschienen sein.“

„Wir fragen Harry“, sagte Julian. „Vielleicht weiß er etwas, was er bisher nicht einordnen konnte, was aber unter diesen neuen Gesichtspunkten einen Sinn ergibt. Zugegeben eine vage Hoffnung.“

Nun endlich ging das Gespräch zu den privaten Themen über, die beiden Lestranges in diesem Moment weitaus mehr am Herzen lagen als Voldemort und die Zaubereiministerin. Es dauerte mehrere Stunden.

 

Nachdem sie kurz nach Mitternacht Rodolphus‘ Haus verlassen hatten, disapparierten Julian und Roy nicht sofort, sondern begannen in stillschweigendem Einverständnis, ungeachtet des immer noch schneidenden Windes durch die menschenleeren Straßen des nächtlichen Edinburgh zu streunen.

Keiner von beiden sagte ein Wort, bis sie an einer Tankstelle vorbeikamen, deren Pächter gerade damit beschäftigt war, den letzten Rest der billigen Blumensträuße, mit denen er sein Sonntagsgeschäft ein wenig angekurbelt hatte, in einen Müllsack zu stopfen.

„Verzeihung“, rief Roy, „könnte ich einen von denen haben?“

Der Tankstellenbesitzer sah ihn ungefähr so an wie ein Irrenarzt seinen Patienten.

„Was wollen Sie denn mit denen noch?“

In der Tat waren die Sträuße, die sicherlich von Anfang an ein wenig schäbig gewirkt hatten, nun endgültig von Sturm und Kälte ruiniert.

„Ach, da fällt mir schon etwas ein“, grinste Roy. „Also darf ich?“

„Wenn’s Sie glücklich macht – oder vielleicht Ihre Kaninchen – nehmen Sie sich, soviel Sie wollen!“

Roy nahm sich ein halbes Dutzend Sträuße. In einiger Entfernung von der Tankstelle holte er seinen Zauberstab hervor und verwandelte sie mit Hilfe des Blumenzaubers, den er von Julian gelernt hatte, in einen Traum aus Farben und Formen.

„Den zaubere ich Arabella ans Bett, damit er das erste ist, was sie morgen beim Aufwachen sieht.“

Julian lächelte. „Arabella tut dir sehr gut. Seit du mit ihr zusammen bist, bist du viel fröhlicher und gelöster. Man sieht dir an, wie glücklich du bist.“

Roy wurde ernst. „Das verdanke ich dir. Ohne deinen Tritt in den Hintern wäre ich weiter vor meinen Gefühlen davongerannt.“

„Wozu hat man Freunde?“, wehrte Julian ab.

Roy blieb stehen und sah ihn an. „Ich will dir mal was sagen: Freunde hat praktisch Jeder. Aber ich glaube, einen Freund wie dich haben nur wenige.“

„Danke“, sagte Julian geschmeichelt, „aber einen wie dich hat auch nicht Jeder. Ich bin dir jedenfalls sehr dankbar, dass du heute mitgekommen bist. Mir ist schon klar, dass du den Abend lieber mit ihr verbracht hättest.“

„Ich glaube“, sagte Roy nachdenklich, „die Lehre, die ich aus diesem Abend gezogen habe, war es wert.“

„Welche meinst du?“

„Du hast mir neulich gesagt, du wolltest mich davor bewahren, zu den traurigen Gestalten zu gehören, die im Alter darüber nachgrübeln, was sie in ihrer Jugend hätten tun sollen. – Dein Großvater konnte über alles sprechen, sogar über Morde und Folterungen. Er bereut sie bestimmt zutiefst, aber sie quälen ihn nicht. Was ihn quält, ist das, was er – nur durch Unterlassung – Bellatrix angetan hat! Für mich war es ein Aha-Erlebnis: Sogar ein Mörder kommt über seine Taten leichter hinweg als einer, der eine große Liebe verraten hat. Als ich Deinen Großvater zusammenbrechen sah, wusste ich, wovor du mich bewahrt hast. Danke.“

34 – Vielsaft und Gedächtniszauber

„Ich freue mich für dich, herzlichen Glückwunsch!“, lachte Harry, als er am nächsten Abend hörte, dass Julian seinen Großvater gefunden hatte.

„Danke, mir ist gestern wirklich eine Last von der Seele genommen worden.“

Julian erzählte, auf welche Weise sie ihn gefunden hatten, und berichtete ausführlich über das Gespräch. Harry sollte nicht schlecht von dem heutigen Rodolphus denken, das war ihm wichtig. Dann kam er auf den Hinweis zu sprechen, der für Harrys Mission von Bedeutung sein konnte:

„Weißt du irgendetwas über diese weißmagische Waffe, die Slytherin hinterlassen haben soll, das Gegenstück zum Basilisken?“, fragte Julian.

Harry schüttelte erstaunt den Kopf. „Davon habe ich noch nie gehört. Eine Waffe, die jeden Fluch aufhebt, jede Seele heilt und nur gegen das Böse wirkt? Die Beschreibung würde am ehesten auf einen Phönix zutreffen, auf Fawkes zum Beispiel, der seit Dumbledores Tod verschwunden ist. Er hat unter anderem das Gift des Basilisken neutralisiert und mir dadurch das Leben gerettet. Aber ich habe noch nie gehört, dass zwischen Fawkes und Salazar Slytherin eine Verbindung bestehen soll. Fawkes muss viel älter sein und schon lange vor Slytherins Geburt gelebt haben. Außerdem hat er Dumbledore gedient, und wir sprechen doch von einer Waffe, die nur Slytherins zur Verfügung steht.“

„Und sonst? Irgendeine Waffe, die in Hogwarts sein muss und nur von Slytherins gehandhabt werden kann?“, bohrte Roy nach.

„Äh, Roy“, schmunzelte Harry, „darf ich dich daran erinnern, dass ich ein Gryffindor bin? Mit den Geheimnissen Slytherins bin ich beim besten Willen nicht vertraut.“

„Vielleicht solltest du versuchen, Fawkes aufzutreiben“, schlug Arabella vor. „Wenn du Hermine von ihrem Fluch befreien willst, wirst du jede Hilfe brauchen.“

Harry seufzte. „O ja. Aber einen Phönix kann man nicht wie einen Hund herbeipfeifen. Niemand weiß, wo er ist oder wie man ihn finden kann. Sollte er mir zu Hilfe kommen, so wird er es von sich aus tun, ich habe darauf keinen Einfluss.“

Da niemand mehr etwas sagte, räusperte sich Harry: „Kommen wir nun auf das heutige Thema: Gedächtniszauber. Jeder von euch kann in die Lage kommen, das Gedächtnis eines Anderen so manipulieren zu müssen, dass er sich an bestimmte Ereignisse nicht mehr erinnern kann. Darum wird es in den nächsten DA-Stunden gehen. Aber bevor wir damit anfangen, müssen wir uns einem Problem zuwenden, das damit zusammenhängt: Sollte unser Vorhaben scheitern und ich verhaftet werden, so müssen wir damit rechnen, dass auch ihr festgenommen und verhört werdet. Und wir müssen davon ausgehen, dass die Auroren euch nicht nur befragen, sondern mit Hilfe von Legilimentik in euren Geist eindringen oder euch Veritaserum verabreichen, damit ihr alles sagt, was ihr über das Unternehmen Odysseus wisst. Tut ihr das, so seid ihr als Mitwisser oder sogar Komplizen dran.“

Die Unbestechlichen schluckten. Daran hatten sie noch nicht gedacht.

„Verschweigen könnt ihr nur, was ihr nicht wisst“, fuhr Harry fort. „Ihr müsst also in der Lage sein, willentlich diejenigen Teile eurer Erinnerungen zu löschen oder zu schützen, die euch kompromittieren könnten. Ein solches Maß an Okklumentik beziehungsweise Gedächtniskontrolle erreicht man normalerweise nur durch eine mehrjährige Ausbildung, und auch dann meist nur unvollkommen. Dazu fehlt uns die Zeit.“

Er machte eine Kunstpause, sah seine Schüler an und merkte, dass sie die Tragweite des Problems verstanden hatten.

„Glücklicherweise gibt es die Möglichkeit der konditionierten Gedächtnislöschung, das heißt, dass Erinnerungen nur dann gelöscht werden, wenn ein bestimmtes auslösendes Ereignis eintritt, und auch dann nicht alle Erinnerungen – das hieße ja völlige Amnesie –, sondern nur die, die bestimmte Kriterien erfüllen, oder die man zuvor mit einer magischen Markierung versehen hat. Könnt ihr mir folgen?“

„Danke, du erklärst das sehr gut“, meinte Orpheus und sprach damit für Alle.

„Gut“, meinte Harry, „ich will jetzt auch nicht in die Details gehen, es ist ein sehr weites Feld. Der langen Rede kurzer Sinn: Ihr werdet alle eure Erinnerungen, aus denen hervorgeht, dass ihr über Odysseus informiert seid, zur Löschung markieren. Dazu versenkt ihr sie in eurem jeweiligen Gedächtnisbehälter.“

Harry zog sieben Fläschchen aus seinem Umhang, die mit einer wolkigen Flüssigkeit gefüllt und jede mit der Bezeichnung eines ihrer sieben Patroni gekennzeichnet waren, sein eigener also mit „Hirsch“, der von Albus mit „Schlange“, außerdem „Fuchs“, „Puma“, „Stier“, „Bär“ und „Wolf“.

„Sobald wir unsere Erinnerungen darin versenkt haben, werde ich einen Zauber über sie alle ausüben“, erläuterte Harry. „Dann holt ihr sie aus der Flasche wieder heraus und legt sie in euren Kopf zurück. Der Zauber bewirkt, dass sie automatisch gelöscht werden, sobald eines der folgenden fünf Ereignisse eintritt: Entweder versucht jemand durch Legilimentik in euren Geist einzudringen, oder er belegt euch mit einem Imperiusfluch oder foltert euch, oder er verabreicht euch Veritaserum, oder ihr selbst sprecht in magischer Absicht die Formel ‚Condamnesia‘. Da es sich um einen Zauber handelt, der auf euch selbst wirkt, braucht ihr dazu keinen Zauberstab.“

„Also wir vergessen dann alles, was wir über Odysseus wissen?“, fragte Roy.

„So ist es. Dasselbe gilt für damit zusammenhängende Erinnerungen, zum Beispiel an unser gemeinsames Gespräch mit McGonagall. Was unsere DA-Stunden angeht, so werden wir auf dieselbe Weise eure Erinnerungen so manipulieren, dass ich darin nicht vorkomme“, ergänzte Harry. „Das heißt, auch wenn ich erwischt werden sollte, kann man euch nicht mit meinen Taten in Verbindung bringen.“

„Wenn du erwischt wirst, Harry“, sagte Roy, „hauen wir dich raus…“

„Nein!“, rief Harry.

„Doch“, antwortete Roy bestimmt.

„Was glaubst du eigentlich, wozu dieser Gedächtniszauber dient?“, fuhr Harry ihn an. „Eurem Schutz! Ich werde nicht dulden, dass ihr euch um meinetwillen in Gefahr bringt!“

„Um deinetwillen nicht“, versetzte Roy gelassen, „aber um Albus‘ willen.“

Harry lächelte gerührt.

„Ich verstehe. Deine Fürsorge für Albus ist wirklich…“

„Nein, du verstehst gar nichts!“, rief Julian dazwischen. „Es geht nicht um Roys Fürsorge für Albus, sondern darum, dass dein Sohn ein Slytherin ist! Wir werden nicht dulden, dass einer von uns seinen Vater an die Dementoren verliert. Nicht, wenn dessen Verbrechen nur darin besteht, gegen den Untergang der magischen Welt zu kämpfen.“

Als Harry das entschlossene Nicken der Anderen sah, verstand er mit einem Mal, dass jedes Gegenargument wirkungslos abprallen musste: dass es für die Slytherins um eine Frage der Ehre ging, der gegenüber jeder andere Gesichtspunkt zweitrangig war. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Roy nutzte seine Sprachlosigkeit, um seinen Gedanken fortzuspinnen:

„Wenn wir aber alles vergessen haben, dann fehlen uns die entscheidenden Hintergrundinformationen, um dir zu helfen. Womöglich glauben wir dann sogar dem Tagespropheten, wenn er schreibt, du hättest silberne Löffel aus dem Ministerium stehlen wollen. Du hast schon recht: Wir müssen die kompromittierenden Erinnerungen löschen können. Wir müssen aber auch in der Lage sein, sie wiederherzustellen, sobald die Auroren uns wieder laufenlassen.“

„Tja…“ meinte Harry nachdenklich. „Natürlich könnte man eine zweite Kopie dieser Erinnerungen irgendwo verstecken, damit ihr sie euch zurückholen könnt. Nur müsstet ihr dann wissen, dass es diese Kopien überhaupt gibt und wo ihr sie findet. Wenn ihr das aber wisst, dann können es auch die Auroren aus euch herausholen.“

„Und wenn man sie jemandem anvertrauen würde, der für uns vertrauenswürdig und für das Ministerium unverdächtig ist, und uns darauf ansprechen kann, wenn wir wieder frei sind?“, fragte Albus. „Vielleicht McGonagall?“

Sein Vater schüttelte den Kopf. „Erstens steht McGonagall auf Hermines Abschussliste, sie ist also aus der Sicht des Ministeriums nicht unverdächtig. Zweitens bin ich mir nicht sicher, ob sie das Unternehmen Odysseus billigen würde. Ich glaube, sie ist ganz froh, nicht genau zu wissen, was wir vorhaben, so bleiben ihr Gewissenskonflikte erspart. Wenn ich aber verhaftet würde, könnte sie sich ausrechnen, dass die Auslagerung eurer Erinnerungen eure Mitwisserschaft verschleiern soll. Drittens möchte ich sie nicht hineinziehen, sie ist als Schulleiterin zu wichtig.“

„Nun ja, dann hätte ich noch einen Vorschlag, der vielleicht ein bisschen verrückt klingt“, meinte Albus entschuldigend.

„Verrückte Ideen haben den Vorteil, dass die Gegenseite nicht damit rechnet“, erwiderte sein Vater, „also schieß los.“

„Bernie Wildfellow.“

Alle sahen ihn verblüfft an.

„Ich meine“, sagte Albus und wurde etwas rot dabei, „Bernie ist ein Freund, er wird uns nicht verraten. Außerdem ist er ein Muggel, noch dazu der Sohn des Premierministers, mit dem Hermine so eng zusammenarbeiten will. Sie wird ihn bestimmt nicht verhaften lassen, das kann sie nicht wagen.“

Diesmal antwortete Roy: „Verraten würde er uns wohl nicht. Aber sie kann, gerade weil er dein Freund ist, durchaus einen netten Auror zu ihm schicken, der bei einer freundlichen Befragung in seine Gedanken eindringt, ohne dass er es merkt.“

Harry nickte. „Ich fürchte, es gibt ganz einfach keinen Menschen, der bereit und in der Lage wäre, uns zu unterstützen, und den das Ministerium trotzdem nicht im Visier hat.“

„Keinen Menschen…“ murmelte Orpheus. „Ein Tier vielleicht?“

„Jetzt wird‘s aber wirklich exotisch“, brummte Ares.

„Dann müsste es schon ein vernunftbegabtes, also magisches Tier sein“, sagte Harry. „Natürlich könnte sich einer von euch in einen Animagus verwandeln und in Tiergestalt untertauchen, aber ihr wisst, dass darauf hohe Strafen stehen. Außerdem müsste der Betreffende irgendwann auch wieder auftauchen, wenn er nicht den Rest seines Lebens in Tiergestalt verbringen will, und dann ist er erst recht verdächtig.“

Nun machte sich wirkliche Ratlosigkeit breit.

Ein magisches Tier, dachte Albus, da könnte es eines geben… Nachdem er aber nun schon zwei nicht so gute Ideen vorgebracht hatte, wollte er erst einmal sichergehen, dass seine Idee auch funktionierte.

„Also schön“, sagte Harry. „Ich verstehe, dass ihr den Gedächtniszauber nur akzeptiert, wenn ihr eure Erinnerungen danach auch zurückbekommt. Darüber muss ich mir erst einmal den Kopf zerbrechen. Es ist jetzt acht Uhr, zu spät, um noch eine neue Unterrichtseinheit zu beginnen. Ich schlage vor, dass wir uns auf Mittwoch vertagen.“

„Ich möchte heute als Erster gehen“, sagte Albus zum Erstaunen der Anderen. Sie verließen den Raum meist nicht alle zusammen, und normalerweise ging Albus als Letzter, weil er die Karte des Rumtreibers hütete.

„Ist gut“, sagte Roy. „Gib mir die Karte, ich muss heute sowieso zurückbleiben, weil ich mit deinem Vater noch die Sache mit dem Vielsaft besprechen muss.“

 

Fünf Minuten später waren Roy und Harry allein im Geheimraum.

„Was wolltest du mir sagen?“, fragte Harry.

Statt zu antworten, entfernte Roy mit einem Schlenker seines Zauberstabes die Rückwand des Geheimraums, hinter dem sich nun ein zweiter Raum auftat, in dem heilloses Durcheinander zu herrschen schien: Kessel, Fläschchen, Brenner, Kolben, Gläschen mit und ohne Inhalt standen scheinbar regellos herum. Außerdem lagen die Einzelteile eines Flugbesens in der Ecke.

„Mein Labor“, sagte Roy stolz. „Außer mir kennt es bis jetzt nur Orpheus. Ich brauchte jemanden, der mir bei den Vielsaft-Experimenten hilft.“

„Wie weit bist du?“, wollte Harry wissen.

„Nun, im Prinzip bin ich fertig“, erwiderte Roy, der Harrys zweifelnden Blick auf das vermeintliche Chaos nicht ohne Belustigung wahrnahm. „Das Problem bestand ja darin, die Wirkung des Vielsafts zu verlängern, ohne dass du andauernd nachtanken musst. Ich musste also erstens eine Darreichungsform finden, die den Saft nach und nach freigibt, und zweitens sein Volumen so weit reduzieren, dass du mit einem einzigen Schluck eine Ration einnehmen kannst, die mindestens für einen ganzen Tag reicht. Zuerst dachte ich an ein Konzentrat, aber alle bedeutenden Zaubertrankmeister warnen davor, dass ein Konzentrat andere und womöglich gefährlichere Eigenschaften hat als der Ausgangstrank.“

„Du hast das Problem aber gelöst, sagst du?“

„Yep“, sagte Roy grinsend. „Ich habe den Zusammenhang zwischen der Menge des eingenommenen Vielsafts und der Dauer seiner Wirkung untersucht. Und dieser Zusammenhang ist nicht linear, sondern degressiv.“

„Heißt im Klartext für Nichtwissenschaftler?“

Roy grinste wieder. „Zwanzig Milliliter reichen für eine Stunde. Verdoppelst du die Menge, verdoppelt sich aber nicht die Wirkungsdauer, sie verlängert sich nur um wenige Minuten.“

„Klingt nicht gut“, warf Harry enttäuscht ein.

„Halbierst du sie aber, dann verringert sich die Dauer ebenfalls nicht um die Hälfte, sondern wieder nur um wenige Minuten, halbierst du sie nochmals, gehen wieder nur wenige Minuten verloren. Der langen Rede kurzer Sinn: Null Komma ein Milliliter Vielsaft reichen für ungefähr zwölf Minuten Wirkung. Wenn du also Dosen von je 0,1 Milliliter sicherheitshalber so einnimmst, dass sich ihre Wirkungen zeitlich überlappen, also zum Beispiel alle zehn Minuten, dann reichen 0,6 Milliliter für eine ganze Stunde oder 14,4 Milliliter für einen ganzen Tag.“

„Ich verstehe immer noch nicht ganz die Pointe“, wandte Harry ein. „Damit brauche ich zwar weniger Vielsaft, muss ihn aber viel häufiger einnehmen. Das ist doch genau das, was ich vermeiden wollte.“

„Die Lösung“, dozierte Roy, „fand sich in der guten alten Hogwarts-Bibliothek, und zwar in einem Handbuch für magische Pharmazie. Es gibt nämlich tatsächlich Kapseln, die ihren Inhalt nach und nach in kleinen Dosen freigeben, und die man mit beliebigem Inhalt füllen kann. Ich habe bei Mannington & Burgess in der Winkelgasse, einem Laden für Apothekerbedarf, ein paar kleine Probeexemplare gekauft.“

Roy hob eine winzige Kapsel hoch, die aus noch winzigeren Einzelkügelchen bestand. Sie sah ein bisschen aus wie eine kleine Himbeere, nur farblos.

„Du vergrößerst die Kapsel, dadurch öffnen sich die Einzelkugeln, du versenkst die vergrößerte Kapsel in deinem Zaubertrank, dann füllen sie sich, dann verkleinerst du die Kapsel wieder auf 0,1 Milliliter pro Einzelkugel. Da die Kügelchen noch geöffnet sind, wird der überschüssige Trank beim Verkleinern herausgedrückt, dann musst du ungefähr fünfzehn Minuten warten, bis sich alle Öffnungen wieder geschlossen haben – fertig ist deine Kapsel. Nach der Einnahme platzt alle zehn Minuten eine Einzelkugel und gibt den Wirkstoff frei. Die Kapsel bleibt übrigens im Magen, wandert also nicht in den Darm weiter und wird deshalb auch nicht vorzeitig ausgeschieden. Ich habe nachgefragt, es gibt auch Kapseln mit bis zu 150 Einzelkügelchen, die reichen also für etwas mehr als einen Tag.“

Nun grinste auch Harry. „Genial“.

„Allerdings sind die großen nicht billig, sie kosten 10 Galleonen pro Stück. Wenn du also für zwei Monate ausgestattet sein willst, bist du 600 Galleonen los.“

„Kein Problem“, winkte Harry ab.

„Und es ist ein bisschen auffällig, wenn ein Einzelner, noch dazu Harry Potter, den praktisch Jeder kennt, so viel davon kauft. Vielleicht solltest du lieber in der Gestalt eines Anderen…“

„Roy, ich bin kein Anfänger, überlass solche Dinge getrost mir“, fiel Harry ihm ins Wort. „Es gibt ein anderes Problem: Ich brauche irgendetwas von Hermines Körper, normalerweise ein Haar, um den Vielsafttrank einsatzbereit zu machen.“

„War das nicht schon geklärt?“, fragte Roy stirnrunzelnd. „Du gehst unter dem Tarnumhang in Hermines Büro, schockst sie, nimmst ein Haar von ihr, lässt sie unter dem Tarnumhang verschwinden, versenkst das Haar im Trank, wartest einen Moment, trinkst einen Schluck Vielsaft auf normale Weise und hast dann eine Stunde Zeit, deine Kapseln vorzubereiten…“

„Wofür ich einen kleinen Kessel Vielsaft ins Ministerium mitnehmen muss – wohin damit, während ich nach oben gehe und vielleicht mit anderen Leuten im Aufzug stehe, die es nicht Plätschern hören dürfen?“, unterbrach ihn Harry. „Wenn ich dann in Hermines Büro bin, brauche ich zwei bis drei Minuten, um den Trank mit ihrem Haar fertigzumachen, weitere zwei Minuten, um Hermines Gestalt anzunehmen, und jeden Moment kann jemand hereinkommen oder sich wundern, warum auf sein Klopfen eine andere als Hermines Stimme antwortet. Danach vergeht mindestens eine Viertelstunde, in der die Kapseln präpariert werden und ein Kessel Vielsafttrank im Ministerbüro vor sich hin blubbert. Wenn Cesar das zufällig sieht, setzt er mich schneller außer Gefecht, als ich ‚Protego‘ sagen kann.“

„Ein gewisses Risiko lässt sich nicht vermeiden“, gab Roy zu, „aber du könntest…“

„Es gibt bei der Planung solcher Unternehmen eine einfache Regel“, fiel Harry ihm wieder ins Wort, „und die lautet: Alles, was schiefgehen kann, geht auch schief! In dieser Form enthält der Plan so viele Unsicherheitsfaktoren, dass mir geradezu zwangsläufig irgendeiner von ihnen zum Verhängnis werden muss. Nein, ich muss Hermines Gestalt schon angenommen und meine Kapseln vorbereitet haben, bevor ich mich auf den Weg ins Ministerium mache!“

„Ja, aber wo willst du Hermines Haare herbekommen?“, fragte Roy vorsichtig. „Du kommst doch gar nicht nahe genug an sie heran, und selbst wenn, würden deine Aurorenkollegen bestimmt nicht zusehen, wie du ihr eine Locke abschneidest. Oder willst du dich als ihr Friseur tarnen?“

Harry lachte. „Wenn ich Hermine frisiere, kann sie sich wochenlang nirgendwo mehr blicken lassen, das kann ich ihr nicht zumuten.“

„Nun ja“, flachste Roy, „wäre ja auch eine Art, sie aus dem Verkehr zu ziehen.“

Beide lachten.

„Nein, im Ernst“, sagte Harry, „einmal werde ich in diesem Jahr auf jeden Fall nahe genug an sie herankommen, und zwar ohne Auroren, nämlich an Weihnachten. Die Einladung unserer gemeinsamen Schwiegermutter abzulehnen wird sie nicht wagen, und wenn sie zehnmal unter einem Fluch steht!“

„Deswegen warst du dir neulich auch so sicher, dass es bei Januar bleibt?“, fragte Roy.

Harry nickte. „Deswegen und… nun ja, ich muss mich auch seelisch darauf vorbereiten. Ich glaube, im Moment könnte ich es gar nicht.“

„Wieso nicht?“, fragte Roy verwundert.

„Weißt du“, meinte Harry, „es sagt sich so leicht: Man schockt sie, entführt sie, dringt in ihre Gedanken ein und so weiter. Das alles wirklich zu tun, ist etwas völlig Anderes!“

„Ja, aber du bist doch Auror, du kannst es doch, du bist doch dafür ausgebildet.“

„Als Auror habe ich es mit Menschen zu tun, die mir nichts bedeuten“, antwortete Harry. „Da habe ich die nötige professionelle Distanz – ich kann gewissermaßen davon absehen, dass sie überhaupt Menschen sind, so brutal das jetzt klingt. Ich muss auch davon absehen, gerade wenn ich in Gedanken und Gefühle eindringe und dem Betroffenen dadurch seine Würde nehme. Das darf ich an mich nicht heranlassen, sonst kann ich es nicht tun, und deshalb darf ich im Grunde nicht den Menschen in ihm sehen, sondern nur den aufzuklärenden Sachverhalt. Diese Distanz habe ich bei Hermine aber nicht. Sie ist meine älteste und beste Freundin, aber was ich mit ihr machen muss, ist so, als würde ich sie…“ Er schluckte. „Dazu muss man sich erst einmal kriegen, verstehst du?“

„Und du meinst, du schaffst das bis Januar?“

„Ich muss und ich werde es schaffen. Ich werde mich an dem Gedanken festhalten, dass ich sie nicht anders retten kann.“

Beide schwiegen.

„Eine Frage noch“, hob Roy schließlich an. „Solltest du verhaftet werden, müssen wir weitermachen können, allein schon, um dich rauszuholen, aber auch, um weiter gegen das Ministerium zu arbeiten. Dann bräuchten auch wir möglicherweise Dauer-Vielsafttrank. Kannst du auch uns vorsorglich solche Kapseln besorgen? Ich weiß, es ist furchtbar teuer und eigentlich eine Zumutung, aber…“

„Ihr bekommt sie“, unterbrach ihn Harry.

Plötzlich sprang die Tür auf. Harry und Roy zückten sofort ihre Zauberstäbe, aber es war nur Albus, der hereinstürmte, die anderen Unbestechlichen im Schlepptau.

„Papa, wir haben die Lösung!“, rief er stolz.

„Was für eine Lösung?“, fragte Harry verdutzt.

„Wo wir die Erinnerungen aufbewahren!“

„Ach, und wo?“

„In der Schlange!“

„Du sprichst in Rätseln, mein Sohn“, antwortete Harry und sah nicht besonders klug dabei aus.

„Die verzauberte Schlange, die den Slytherin-Gemeinschaftsraum schützt“, sprudelte es aus Albus heraus. „Sie ist bereit, unsere Erinnerungen aufzubewahren!“

„Moment mal“, unterbrach Roy. „Die Schlange ist bereit…? Kannst du Parsel?“

„Ja!“, bestätigte Albus.

„Wie soll das genau gehen?“, fragte Harry interessiert.

„Die Schlange erkennt Jeden, der die Hand auf sie legt. Sie sagt, wenn man ihr gleichzeitig Erinnerungen anbietet, saugt sie sie ein und weiß, wem sie gehören. Sooft einer von uns die Hand auf sie legt, gibt sie ihm seine Erinnerungen zurück, und zwar immer wieder!“

„Ich verstehe…“ Harry blickte gedankenverloren zur Decke. „Solange man die Erinnerungen noch hat, schadet es nicht, wenn man sie trotzdem zurückbekommt. Sind sie aber gelöscht worden, bekommt ihr sie automatisch zurück, ohne nach ihnen zu suchen, weil ihr gar nicht vermeiden könnt, den Slytherin-Raum zu betreten.“

Albus nickte aufgeregt. Harry lächelte. „Ich glaube, ich bin hier nur von Genies umgeben! Auf so etwas wäre ich im Leben nicht gekommen!“

„Du meinst auch, es geht?“, fragte Ares hoffnungsvoll.

„Klar geht das, wenn die Schlange mitspielt“, sagt Harry.

„Wieso ist der Geheimraum eigentlich plötzlich so groß?“ Albus lugte neugierig auf Roys Labor. „Und was ist das für ein Gerümpel da hinten?“

„Ich muss doch sehr bitten, Mister Potter!“, rief Roy scherzhaft, indem er McGonagalls Stimme imitierte. „Dieses Labor ist Schauplatz bahnbrechender Entdeckungen und Erfindungen!“

„Flugbesen gibt es aber schon“, sagte Albus und deutete auf die herumliegenden Besenteile.

Roy schüttelte den Kopf. „Der, den ich hier baue, den gibt es noch nicht!“

„Was für einer ist das?“

„Erfährst du noch früh genug.“

Albus wollte nachhaken, aber nun ergriff Harry das Wort: „Da wir jetzt wissen, wie wir die Erinnerungen schützen, macht jeder Einzelne von uns unabhängig von den anderen eine Liste aller Erinnerungen, aller Gespräche und Ereignisse, die zur Löschung markiert werden und der Schlange übergeben werden sollen. Übermorgen Abend sammeln wir die Erinnerungen und markieren sie. Ich werde dann bis nachts in Hogwarts bleiben. Wenn Alle schlafen, geben wir der Schlange die Sicherungskopien.“

35 – Bernies Geburtstag

 

Obwohl es erst halb acht Uhr morgens und damit für einen Samstag noch früh war, herrschte bei den Erstklässlern an der Frühstückstafel der Slytherins schon Bombenstimmung. Es war Bernies Geburtstag, und schon um sieben hatten sie ihn, wie üblich, wenn einer von ihnen Geburtstag hatte, mit einem Ständchen geweckt und ihm seine Geschenke überreicht.

Sie hatten zusammengelegt, um ihm ein großes Zaubertrankset mit Dutzenden magischer Zutaten und nützlicher Utensilien zu kaufen. Da die Erstklässler ihre Zutaten nämlich noch nicht selbst verzaubern mussten, es daher nur auf die korrekte Zubereitung ankam und Bernie unglaublich akribisch und konzentriert arbeiten konnte, war er in Zaubertränken fast so gut wie in Muggelkunde. Es war sogar sein Lieblingsfach, und er hatte angefangen, selbstständig Zaubertränke zu brauen, sie waren sein neues Hobby. Kein Wunder, dass seine Augen leuchteten, als er die Liste der magischen Substanzen durchging, von denen einige nicht einmal in Hogwarts vorrätig waren.

Den Vogel schoss allerdings Scorpius ab, der Bernie ein winziges Fläschchen überreichte, das mit einer türkisfarbenen Flüssigkeit gefüllt war.

„Was ist das?“, fragte Bernie.

„Zauberkraftverstärker“, antwortete Scorpius in beiläufigem Ton, während von den Anderen ein bewunderndes Raunen zu hören war. „Wird von Squibs benutzt. Es ist ein Zaubertrank, mit dem schwache magische Energie so verstärkt wird, dass der Betreffende zaubern kann.“

„Super!“ Bernie sprang auf und begann, Scorpius vor Begeisterung zu schütteln. „Dann kann ich es endlich auch! Warum habt ihr mir nicht früher gesagt, dass es so etwas gibt?“

Die Anderen tauschten vielsagende Blicke.

„Tja, es gibt leider einen Wermutstropfen“, sagte Scorpius. „Zauberkraftverstärker wird aus Zutaten hergestellt, die zum Teil dreihundert Jahre lang unter fachmännischer Aufsicht reifen müssen, und ist deshalb wirklich sauteuer. Die Squibs, die ihn benutzen, sind allesamt schwerreich, und selbst die können es sich nur ab und zu leisten…“

„Um Himmels willen, Scorpius, du glaubst doch nicht, dass ich das annehme?“, rief Bernie und wollte ihm das Fläschchen zurückgeben.

„Von mir kannst du es ruhig annehmen“, sagte Scorpius, „ich musste es nicht bezahlen, weil die Zaubertrankbrauerei, aus der es stammt, meiner Familie gehört. Ich musste meinen Vater trotzdem ganz schön beknien, bis er wenigstens diese kleine Menge herausrückte. Damit kannst du ungefähr ein bis zwei Stunden lang zaubern, je nachdem, wie intensiv der Zauber ist. Für ein paar kleinere Zauber und eine Viertelstunde reichen allerdings wenige Tropfen, und du solltest es auf jeden Fall ausprobieren, den Rest aber für den Notfall aufheben, also zum Beispiel für wichtige Prüfungen oder… nun ja, falls du in Gefahr gerätst und unbedingt zaubern musst. Wir wissen ja nicht, ob hier vielleicht immer noch jemand rumgeistert, der es auf Muggelstämmige abgesehen hat.“

Bernie schluckte. Angriffe auf Muggelstämmige hatte es zwar in den letzten Wochen nicht mehr gegeben, aber so richtig sicher fühlte er sich nur in Begleitung von Albus, der jedoch auch nicht immer Zeit hatte.

„Die Flasche ist unzerbrechlich“, fuhr Scorpius fort, „trag sie immer bei dir, nur für den Fall…“

„Du bist echt ein feiner Kerl, Scorpius“, sagte Bernie gerührt.

Als sie schließlich beim Frühstück saßen – die Hauselfen hatten eine riesige Geburtstagstorte hochgeschickt –, nahm Bernie ein paar Tropfen und fing unter dem ausgelassenen Gelächter seiner Freunde immer übermütiger an zu zaubern. Er ließ Albus ein wenig schweben, verwandelte Jennifers Kürbissaft – natürlich genau in dem Moment, wo sie ihren Becher zum Mund führte – in Spinatsaft und warf Scorpius zur allseitigen Gaudi mit einem Verscheuchezauber ein Stück Torte ins Gesicht, um es dann mit Reparo wiederherzustellen und mit Tergeo Scorpius‘ Gesicht zu reinigen. Die Wirkung des Zauberkraftverstärkers ließ nach einer Weile merklich nach und hörte schließlich auf, aber der Stimmung tat dies keinen Abbruch.

Kurz nach acht tauchte Roy auf, der seltsamerweise einen Besen bei sich trug.

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Bernie, hier, das ist für dich“, sagte er und drückte dem verdutzten Bernard den Besen in die Hand.

„Danke, aber was soll ich damit?“, fragte Bernie mit großen Augen.

„Fliegen, was denn sonst?“

„Ja, aber ich kann doch gar nicht Besenfliegen, dazu muss man doch zaubern können, oder nicht?“, fragte Bernie zweifelnd.

„Normalerweise ja“, grinste Roy etwas selbstgefällig, „aber nicht mit dem hier. Wenn du genau hinsiehst, wirst du bemerken, dass er ein wenig anders aussieht als herkömmliche Besen.“

Bernie, umdrängt von seinen Mitschülern, sah sich den Besen jetzt genauer an. In der Tat war am oberen Drittel des Schafts ein etwa zehn Zoll langes Stahlrohr über den Besenstiel gezogen worden, das an beiden Enden von starken Druckfedern gehalten wurde. Ganz oben, fast am Ende des Schafts, befand sich außerdem ein stählerner Ring.

„Normalerweise“, dozierte Roy, „müssen beim Besenfliegen zwei Komponenten zusammenkommen: die Magie, die im Besen selbst steckt, und durch die er überhaupt fliegen kann, und die Magie des Zauberers, die das Potential des Besens aktiviert und ihn steuert. Ich habe mir Gedanken gemacht: Da der Besen ja im Prinzip bereits von sich aus fliegen kann und nur die Steuerbefehle magisch sind, müsste es möglich sein, ihn so umzubauen, dass er auch auf mechanische statt magische Befehle reagiert. Wenn du das Rohr nach vorn schiebst, beschleunigst du, ziehst du es zurück, bremst du ab. Durch den Druck auf die Federn, die mit den magischen Meridianen des Besens verbunden sind, wird der magische Energiefluss so gelenkt, dass… ach, ist ja auch egal!“, unterbrach er sich, als er die ratlosen Mienen der Zuhörer sah. „Dreh mal den Ring da oben bis zum Anschlag nach rechts!“

Bernie tat es, und mit einem Mal schwebte der Besen, leicht vibrierend, in Höhe seiner Hüften.

„Lenken musst du, wie alle Anderen auch, indem du den Schaft in die entsprechende Richtung drückst. So, dann steig mal auf.“

Bernie setzte sich so auf den Besen, wie er es in den Flugstunden Dutzende Male gesehen hatte. Wahrhaftig, der Besen trug ihn!

„Soll ich jetzt wirklich Gas geben?“, fragte er mit unsicherem Blick auf Roy.

„Ja, aber ganz vorsichtig, nicht, dass du uns gleich gegen eine Wand knallst!“

Zögernd und sachte drückte Bernie das Rohr nach vorne, und der Besen setzte sich langsam in Bewegung. Da der Schaft bereits nach oben zeigte, stieg Bernie ein paar Meter, drückte dann den Besen in die Waagerechte und flog immer noch langsam eine weite Kurve über die Köpfe der verdutzten anderen Hogwarts-Schüler hinweg – die Halle war inzwischen gut gefüllt.

Bernie jauchzte lauthals, wurde mutiger, beschleunigte beherzt, flog enge Kurven, raste im Zickzack durch die Halle, zog den Besen steil nach oben, bis er fast die magische Decke erreichte, traute sich dann sogar einen Sturzflug, zog knapp über dem Boden den Besen wieder in die Horizontale und raste im Tiefflug über einen der Haustische, wobei er Speisen, Getränke und Geschirr zur Seite fegte und die dort Sitzenden über und über bespritzt und bekleckert wurden. Dass es sich um den Tisch der Hufflepuffs handelte, war selbstverständlich reiner Zufall…

„Wildfellow, hören Sie sofort mit diesem Unfug auf und kommen Sie herunter!“, hörte man nun die Stimme McGonagalls, die die Kindereien am Slytherin-Tisch bis dahin eher belustigt verfolgt hatte, durch den Saal donnern. Bernie bremste abrupt, senkte den Schaft und landete weich neben dem Slytherin-Tisch. Sein Gesicht glühte vor Glück und Begeisterung.

McGonagall schwang energisch ihren Zauberstab, und der Tisch der Hufflepuffs wurde ebenso wie ihre bekleckerte Kleidung und ihre Gesichter wieder in den vorherigen Zustand zurückversetzt.

„Mit Rücksicht darauf, dass Sie heute Geburtstag haben, verzichte ich darauf, Ihnen Punkte abzuziehen, aber wenn Sie fliegen wollen, Mister Wildfellow, gehen Sie bitte nach draußen.“

„Wir holen jetzt Alle unsere Besen“, schlug Albus, an Bernie gewandt, vor, „und dann lernst du erst einmal Quidditch!“

Vorbei an Roy, dem sichtbar das Herz im Leibe lachte, drängten die Erstklässler sich zum Ausgang der Halle. Arabella hakte sich bei ihm unter.

„Sagtest du nicht, du würdest nichts unterstützen, was es Hermine erlaubt zu behaupten, ihr Experiment mit Bernie sei erfolgreich gewesen?“, fragte sie lächelnd und schmiegte sich an ihn.

„Sagtest du nicht“, fragte er zurück, „dass auch Gefühle Argumente sein können? Weißt du, ich konnte vom Klassenzimmer aus beobachten, wie Bernie bei den Flugstunden der Erstklässler immer unten bleiben und den Anderen zuschauen musste. Ich konnte es einfach nicht mehr mitansehen!“

Arabella schlang ihre Arme um seinen Hals. „Für diese Art Inkonsequenz liebe ich dich fast noch mehr als für alles andere!“ Beide sahen den aufgekratzt kichernden Jüngeren nach, die eben aus der Halle verschwanden.

„Ich glaube, an einem Tag wie heute könnte sogar Bernie einen Patronus erzeugen“, sagte sie und strahlte ihn an. „Weißt du eigentlich, dass du ein Talent hast, Menschen glücklich zu machen?“

„Ach was“, wehrte Roy geschmeichelt ab. „Ich habe nur ein bisschen Talent für Magie.“

„Das ist Magie, du Dummkopf“, erwiderte sie und küsste ihn.