Am Mittwoch disapparierte Harry nicht gleich nach der DA-Stunde, sondern blieb mit seinem Sohn im Geheimraum zurück.
„So“, sagte er, nachdem Julian als letzter die Tür hinter sich geschlossen hatte, „nun zeige ich dir das Versteck für Hermine.“
„Warum ist Mama nicht mitgekommen?“, fragte Albus, der sich auf seine Mutter gefreut hatte. „Ich soll das Versteck doch mit ihr zusammen einrichten!“
„Beim nächsten Mal wird sie dabei sein“, tröstete ihn sein Vater. „Aber ich musste ihr versprechen, das Versteck so zu verändern, dass sie es nicht wiedererkennt.“
„Sie war schon einmal dort?“ Albus war überrascht.
„O ja“, meinte sein Vater, „und sie erinnert sich nicht gern daran. Wir werden Hermine in der Kammer des Schreckens unterbringen.“
Albus erschauerte. In der Kammer des Schreckens wären seine Eltern schon als Kinder beinahe von Voldemort und Salazar Slytherins Basilisken ermordet worden. Er hatte sich die Geschichte oft erzählen lassen, man bekam so eine schöne Gänsehaut dabei. Aber es war eine Sache, sich im heimischen Wohnzimmer wohlig zu gruseln, eine völlig andere, die Kammer selbst zu betreten. Ein bisschen weich wurden seine Knie jetzt schon, aber das hätte er seinem Vater gegenüber nicht zugegeben.
„Klaro!“, antwortete Albus und versuchte, seine Stimme so tief, mannhaft und entschlossen wie nur möglich klingen zu lassen.
Sie vergewisserten sich anhand der Karte des Rumtreibers, dass niemand in der Nähe war, schlüpften mitsamt ihren Besen unter den Tarnumhang und verließen den Geheimraum.
„Wir müssen in die kaputte Mädchentoilette im zweiten Stock.“ Harry sprach im Flüsterton, obwohl es angesichts der menschenleeren Gänge nicht erforderlich war. „Hoffentlich ist die Maulende Myrte nicht da, die kann ich jetzt gar nicht brauchen.“
„Nein, unter dem Tarnumhang können nicht einmal Geister wie Myrte uns sehen. Aber ich muss dir zeigen, wie man hinein- und herauskommt. Dazu müssen wir sprechen, und hören kann sie uns.“
„Wäre das denn schlimm? Ich meine, würde sie uns verpfeifen?“
Harry grinste. „Nicht, wenn du ein bisschen nett zu ihr bist. Das Problem ist nur: Wenn sie sich erst einmal in dich verknallt hat, und das geht bei ihr schnell, hast du sie ewig auf dem Hals. Wenn sie mich sehen würde, würde sie mir bestimmt eine lautstarke Szene machen, weil ich sie über zwanzig Jahre lang nicht besucht habe. Und sie wird ziemlich beleidigt sein, wenn sie meinen Ehering sieht. Andererseits bin ich ihr inzwischen bestimmt schon zu alt. Du wärst schon viel eher ihre Kragenweite…“
„Ich glaube auch, dass es besser ist, wenn sie uns nicht bemerkt“, meinte Albus, wenig erbaut von der Aussicht, die nächsten sieben Jahre lang von einem verliebten Geistermädchen verfolgt zu werden.
Da es auf neun Uhr zuging, waren die meisten Schüler schon in ihren Gemeinschaftsräumen. Die der Slytherins und Hufflepuffs lagen in den Untergeschossen, die Gryffindors und Ravenclaws hatten ihre Türme. Harry und Albus waren daher die einzigen, die sich im zweiten Stock herumtrieben. Auch Myrte geisterte gottlob irgendwo anders umher.
Die alte Mädchentoilette, die seit über siebzig Jahren, nämlich seit Myrte dort spukte, nicht mehr instandgesetzt worden war, sah in der Dunkelheit noch trostloser aus, als Harry sie in Erinnerung hatte. Sie nahmen den Tarnumhang ab und ließen die Zauberstäbe aufflammen. Der Wasserhahn mit der eingearbeiteten Schlangenkopfskulptur sah tückisch und bedrohlich aus.
„Öffne den Eingang“, sagte Harry in Parsel. Das Waschbecken glitt zur Seite und gab den Schacht frei, der, wie auch Albus wusste, hinab zur Kammer des Schreckens führte.
„Ich habe dieses Versteck ausgesucht, weil es normalerweise nur von einem Parselsprecher geöffnet werden kann“, sagte Harry, „im Moment also nur von dir oder mir. Zuerst probieren wir es aus. Befiehl der Schlange, den Eingang zu schließen.“
„Schließe den Eingang“, befahl Albus der Schlange. Die Öffnung glitt lautlos wieder zu.
„Wir haben jetzt das Problem, dass zumindest Ron weiß, wie man hineinkommt. Er kann zwar kein Parsel, aber er kann Parsel imitieren, und er hat es schon einmal geschafft, hier hereinzukommen. Wenn alles gut geht, wird er gar nicht auf die Idee kommen, aber ich möchte jedes Risiko ausschließen.“
Er wandte sich dem Schlangenkopf zu. „Kannst du mir antworten?“
„Ja“, zischte die Schlange.
„Wenn ich dir befehlen würde, den Zugang in Zukunft nur noch auf ein Kennwort hin zu öffnen, würdest du es tun?“
„Damit würdest du den Zauber verändern, der auf mir ruht“, antwortete die Schlange. „Hast du das Recht dazu?“
„Der Sprechende Hut“, sagte die Schlange, und selbst durch die Monotonie ihres Parselzischens hindurch klang sie ungehalten, „würde niemals einen Parselmund nach Gryffindor schicken!“
„Er wollte es auch nicht, ich hatte ihn darum gebeten.“
Einen Moment lang blieb die Schlange stumm. Dann sagte sie: „Ich erwarte Eure Befehle, Meister!“
Vater und Sohn sahen einander überrascht an.
„Was soll ich jetzt machen?“ Albus wirkte verunsichert.
„Gib ihr ein Kennwort.“
Albus überlegte, dann fragte er die Schlange: „Wie heißt du?“
„Pollux.“
„Kennt außer uns noch jemand diesen Namen?“
„Kein Mensch.“
„Dann öffnest und schließt du den Eingang in Zukunft nur noch dann, wenn der, der es dir befiehlt, dich zugleich beim Namen nennt.“
„So wird es geschehen, Meister.“
„Eine Frage noch“, schaltete Harry sich wieder ein. „Wenn wir dich bitten, den Eingang hinter uns zu schließen, und dann wieder hochkommen und dir von innen befehlen, ihn wieder zu öffnen, kannst du uns dann hören?“
„Ja, und ich werde eurem Befehl auch dann Folge leisten.“
„Sehr gut“, sagte Harry nun zu Albus, „ich hatte mich nicht getraut, die Kammer zu schließen, als ich drin war. Für unsere jetzigen Zwecke wäre ein offener Eingang aber verräterisch. Jetzt öffne die Kammer – Meister!“ Beide grinsten.
„Pollux“, sagte Albus, „öffne den Eingang, und wenn wir beide drin sind, schließt du ihn wieder.“ Das Waschbecken glitt wieder zur Seite. Albus starrte in den endlosen schwarzen Schlund des Schachts. „Und du bist sicher, dass man dort hinunterspringen kann, Papa?“
„Wir könnten auch mit unseren Besen hinunterfliegen, aber springen macht mehr Spaß“, antwortete Harry vergnügt. „Ich springe voraus, dann kommst du nach. Halte deinen Besen gut fest, wir brauchen ihn noch, um wieder herauszukommen.“ Sprach’s und sprang in den Schacht. Albus nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprang hinterher. Er hörte nicht mehr, wie der Eingang sich über ihm schloss. In rasendem Tempo schoss er durch das schier endlose Rohr, immer tiefer hinein in die Eingeweide des Schlosses.
Er brauchte einen Moment, sich wieder aufzurappeln, nachdem er am Ende des Rohres über feuchten Steinboden geglitten war.
„Na?“, fragte sein Vater, der mit erleuchtetem Zauberstab auf ihn gewartet hatte.
„Könnt‘ mich dran gewöhnen“, meinte Albus, obwohl ihm gar nicht so cool zumute war, wie er sich gab.
Harry führte seinen Sohn in einen langgestreckten Saal, der von unheimlichen mannshohen Schlangenkopfskulpturen gesäumt war. Als wäre dies noch nicht gruselig genug, stach Albus der schaurige Anblick des Skeletts jenes Basilisken ins Auge, den Harry vor einem Vierteljahrhundert dort getötet hatte. Mit ihren über zwanzig Metern Länge wirkten sogar die sterblichen Überreste des Basilisken noch beeindruckend.
„Den hast du erlegt?“, flüsterte er ehrfürchtig.
„Ja“, antwortete Harry, „mit dem Schwert Gryffindors, der einzigen Waffe, die diesem Monstrum gewachsen war. Du hast es in McGonagalls Arbeitszimmer gesehen.“
„Ich erinnere mich. Ich könnte es aber nicht benutzen, stimmt’s?“
„Nein, es dient nur Gryffindors, und auch denen nur in höchster Gefahr. Sei froh, wenn du nie in eine so verzweifelte Lage kommst, dass du es brauchen könntest.“
„Ja, aber wenn doch? Du sagst doch selber, dass das, was wir tun, gefährlich ist. Gibt es eine Waffe dieser Art auch für Slytherins?“
„Nicht dass ich wüsste“, erwiderte Harry. „Das einzige, was ihr gleichkam, war dieser Basilisk.“
Schaudernd sah Albus sich um. Der Raum schien immer gruseliger zu werden, je länger man ihn betrachtete.
„Hier willst du Hermine unterbringen?“, fragte er seinen Vater ungläubig. „Sagtest du nicht, sie soll es schön haben?“
„Sie wird es schön haben. Zuerst räumen wir das hier aus dem Weg.“ Harry richtete seinen Zauberstab auf das Skelett des Basilisken. „Reductio!“, rief er.
Das Skelett löste sich vor ihren Augen in nichts auf. Etliche messerlange Giftzähne allerdings blieben übrig.
„Daran hatte ich nicht gedacht“, murmelte Harry. „Diese Giftzähne, musst du wissen, sind mächtige magische Waffen, die sogar Horkruxe zerstören können. Ron und Hermine haben während der großen Schlacht einige davon geholt, aber nicht alle. Ich hätte wissen müssen, dass man sie nicht einfach wegzaubern kann. Wir werden sie wegschaffen müssen, damit Hermine sich nicht damit bewaffnet. Wir werden uns ein Versteck für sie überlegen müssen, aber dazu bleibt noch Zeit.“
Harry zeichnete mit seinem Zauberstab einen quadratischen Umriss in die Luft, und aus dem Nichts erschien eine große Tasche aus solidem Leder. Dann sammelte er die Giftzähne mit einem Schlenker seines Zauberstabs ein und ließ sie in der Tasche verschwinden.
Albus sah nun, wie sein Vater mit einer Reihe komplizierter Bewegungen des Stabes und gemurmelter Sprüche den ganzen Saal verwandelte: Zuerst verschwanden die Schlangenkopfskulpturen, dann wurden die feuchten grauen Wände weiß und trocken. In etwa vier Metern Höhe zog Harry eine weiße Decke ein, dann spendierte er dem Raum einen Parkettfußboden. Nach den Maßstäben der Zaubererwelt war all dies noch nicht besonders spektakulär. Was aber selbst Albus verblüffte, der mit Zauberei großgeworden war, waren die Fenster, die sein Vater aus dem Nichts beschwor, und durch die der Raum mit freundlichem hellem Sonnenlicht durchflutet wurde. Sogar wärmer wurde es.
„Wow!“, rief Albus und trat an eines der Fenster, das den Blick auf einen herrlichen Park freigab. „Kann man die öffnen?“
Harry lachte. „Du wärst ziemlich enttäuscht, wir sind immer noch in der Kammer des Schreckens. Nein, man kann sie nicht öffnen, und die schöne Aussicht ist nicht mehr als eine Illusion. Ich weiß, dass Hermine eine Vorliebe für französische Schlösser hat, deswegen habe ich den Raum nach diesem Vorbild gestaltet. Die Inneneinrichtung übernimmt deine Mutter gemeinsam mit dir. Jetzt, wo nichts mehr an die alte Kammer erinnert, kann sie kommen.“
„Machst du es Hermine eigentlich nur aus Freundschaft so schön“, wollte Albus wissen, „oder versprichst du dir davon auch, dass es dir hilft, sie von ihrem Fluch zu befreien?“
„Genau das. Du hast Sulphangels Text gehört. Ihre Seele ist in ihrem eigenen Kopf wie eingemauert und verliert täglich an Lebenskraft. Solange ich den Eindringling nicht entfernt habe, müssen wir wenigstens alles tun, um ihre Seele zu stärken. Sie soll spüren, dass sie geliebt wird.“
Im Zaubertrankunterricht hatten Roy und Patricia gerade gemeinsam versucht, den starken Betäubungstrank der Lebenden Toten zu brauen, waren aber – ungewöhnlich für ihre Verhältnisse – grandios daran gescheitert, und zwar deshalb, weil sie mehr Augen füreinander hatten als für ihren Trank.
Als sie Whiteman, der ihren Flirt mit grimmiger Miene verfolgt hatte, die dunkelbraune Brühe zeigten, die sie zustande gebracht hatten, kitzelten sie damit seinen Sarkasmus wach:
„Miss Higrave, Mister MacAllister! Ich weiß nicht, was Sie hier zusammengebraut haben, aber falls sich herausstellen sollte, dass es zufällig ein Trank ist, der gewisse Hormone neutralisiert, kann ich Ihnen beiden nur dringend empfehlen, ihn zu trinken.“
Die Klasse, bestehend aus Schülern aller Häuser, lachte schallend, und selbst die beiden Angesprochenen schmunzelten, wenn auch etwas verlegen. Das Knistern zwischen Roy und Patricia war längst Schulhof-Tratschthema, und die Wetten, die dabei abgeschlossen wurden, drehten sich nicht mehr um die Frage, ob, sondern wann sie ein Paar werden würden.
Als der Unterricht zu Ende war, wollte Roy auf Patricia warten, die noch etwas mit Whiteman zu besprechen hatte, aber Julian drängte ihn mit sanfter Gewalt aus dem Klassenzimmer.
„Sag mal“, fragte Julian, als sie in Richtung der Großen Halle zum Mittagessen schlenderten, „findest du nicht, dass du deinen Flirt mit Patricia gewaltig übertreibst?“
Roy blieb stehen, sah seinen Freund mit offenem Mund an und brauchte einen Moment, um zu antworten: „Findest du nicht, dass gerade du genau der falsche Mann bist, mir mit Moralpredigten zu kommen?“
„Dafür wäre ich der Falsche“, bestätigte Julian gleichmütig, „aber ich bin der einzige, der sich traut, dir in den Hintern zu treten, um dich vor deiner eigenen Dummheit zu schützen.“
„Dummheit?“, fragte Roy empört.
„Intellektuell bist du der klügste Mensch, den ich kenne“, meinte Julian sanft, „aber in Gefühlsdingen vermutlich der größte Hornochse des Planeten.“
„Wie bitte?“ Roy wirkte beleidigt – aber Julian gehörte zu den wenigen Menschen, die so mit ihm reden durften.
„Nun ja, wie soll ich einen denn nennen, der die Taube in der Hand sausen lässt, um sich nach dem Spatz auf dem Dach zu strecken?“
„Patty ist kein Spatz, und sie sitzt nicht auf dem Dach“, erwiderte Roy indigniert.
„Für das, was du willst und brauchst, ist sie genau das. – Ich verstehe ja, dass es prickelnd, schmeichelhaft und reizvoll ist, wenn das schönste Mädchen der Schule einem schöne Augen macht…“
„Sie ist nicht nur schön, sie hat auch Charakter!“, rief Roy zornig dazwischen. „Oder hast du schon vergessen, wie sie sich für uns alle aus dem Fenster gelehnt hat, als…“
„Ich habe es nicht vergessen“, unterbrach ihn Julian, „und ja, sie hat mehr Charakter gezeigt, als wir alle ihr zugetraut hätten. Nur hatte es ja seinen Grund, warum wir es ihr nicht zutrauten. Patty ist eine, der es wichtig ist, nicht anzuecken, die Erwartungen der Familie zu erfüllen, gesellschaftlich anerkannt zu sein und so weiter. Dass sie jetzt einmal über ihren Schatten gesprungen ist, heißt nicht, dass sie ihr Leben damit verbringen will und wird, ständig über ihren Schatten zu springen. Der Mann, bei dem sie irgendwann kleben bleiben wird, wirst nicht du sein.“
„Warum denn nicht?“
„Allein schon deshalb, weil die Familie Higrave kaum einen muggelstämmigen Schwiegersohn akzeptieren wird. Um überhaupt eine kleine Chance zu haben, müsstest du schon aus dem Muggeladel stammen – oder aber wenigstens ein Karrieretyp sein, wie es die Higraves selber sind: strebsam, glatt, pflegeleicht. Du bist aber ein unangepasster Querkopf. So einen wollen die nicht. Glaub mir, diese Familien aus dem Reinblüter-Establishment haben einen phantastischen Instinkt dafür, wer zu ihnen passt und wer nicht.“
„Schwiegersohn…“ murmelte Roy stirnrunzelnd. „Findest du nicht, dass du ein bisschen arg weit vorgreifst? Hallo? Ich bin sechzehn, ich muss doch nicht jetzt schon die Frau fürs Leben finden!“
„Doch, musst du. Ich muss es nicht, aber du schon.“
„Warum das denn?“ Roy klang verärgert.
„Weil du bist, wie du bist“, erwiderte Julian. „Du nimmst das Leben, und gerade deine Beziehungen zu anderen Menschen, ungeheuer ernst. Wer außer dir hätte zum Beispiel Ginny Potter versprochen, ihren Sohn mit dem eigenen Leben zu schützen? Und ich weiß, du meinst das so und stehst zu deinem Versprechen! Das ist überhaupt kein Fehler, ganz im Gegenteil! Es heißt aber, dass du nicht, wie ich, der Typ bist, der alle zwei Monate die Freundin wechseln kann. Eigentlich kannst du sie gar nicht wechseln. Du tust dich ungeheuer schwer, Vertrauen zu fassen und dich an jemanden zu binden, aber wenn du dich bindest, lässt du garantiert nicht mehr los. Deshalb darfst du dir keine Freundin suchen, die dich eines Tages fallen lässt. Du würdest daran zerbrechen.“
Sie waren an einem Fenster stehengeblieben, von dem aus man das Quidditch-Stadion im Blick hatte. Roy starrte hinaus. „Und du meinst, Patricia würde mich fallenlassen?“
„Sie ist kein schlechter Mensch, versteh das bitte nicht falsch. Aber sie würde mit dir nicht glücklich werden und du mit ihr auch nicht. Ihr seid so verschieden, wie zwei Menschen nur sein können. Sicher“, gab Julian zu, „kurzfristig ist das reizvoll. Es ist schon etwas dran an dem Sprichwort, dass Gegensätze sich anziehen. Es wundert mich nicht, dass gerade ein so angepasstes Mädchen wie sie von einem so rebellischen Typ wie dir fasziniert ist. Aber diese Art Anziehung ist oberflächlich und verbraucht sich schnell. Über kurz oder lang wird Patricia gehen, und deine Seele, mein Freund, ist viel zu zerbrechlich, um eine solche Enttäuschung unbeschadet zu überstehen.“
„Meine Seele ist zerbrechlich?“, fragte Roy verblüfft und leicht pikiert.
„O je“, stöhnte Julian, „du kennst dich selber wirklich überhaupt nicht! Du bist viel verletzlicher, als du zugibst und selber wahrhaben willst. Was du brauchst, ist ein Mädchen, das dir ähnlich ist und genau dieselben tiefen Sehnsüchte und auch Ängste hat wie du, und das dich vor allem über alles liebt. Und dieses Mädchen läuft direkt vor deiner Nase herum!“
Julian rückte nun nah an Roy heran und sprach leise und eindringlich: „Solltest du einmal nach Askaban kommen – und du hast beste Aussichten, dort zu landen –, dann wird Patricia dich dort nicht einmal besuchen. Arabella dagegen würde dich nicht nur besuchen, sie würde sich selbst dort einlochen lassen, wenn sie es dir dadurch ersparen könnte! Und du trampelst wie ein tollwütiges Nashorn auf ihren Gefühlen herum…“
„Ich trampele nicht auf ihren Gefühlen herum. In Arabellas Gegenwart flirte ich nicht mit Patty! Aber Zaubertränke hat sie ja abgewählt.“
„Ach, und du glaubst, es macht ihr nichts aus, dass die ganze Schule über dich und Patty redet? Natürlich trampelst du auf ihren Gefühlen herum, und das, obwohl du für sie mindestens genauso viel empfindest wie sie für dich. Und ganz bestimmt mehr als für Patricia!“
„Woher willst du das wissen?“, zischte Roy ihn an.
„Die geradezu magnetische Anziehung zwischen dir und Arabella könnte ohnehin nur ein Blinder übersehen. Aber den endgültigen Beweis habe ich seit letzter Woche. Ich habe dich genau beobachtet, als Whiteman uns den Amortentia-Trank gezeigt hat. Dieser Trank riecht für jeden Menschen anders – immer nach dem, wonach er sich am meisten sehnt. Und genau diese Stunde war die einzige Zaubertrankstunde, in der du nicht mit Patricia geflirtet hast!“
Roy starrte wieder zum Fenster hinaus. Julian ließ nicht locker:
„Der Trank roch nicht nach Patricia, stimmt’s?“
„Stimmt“, knurrte Roy.
„Sondern nach?“
„Lass uns weitergehen.“
Sie setzten ihren Weg schweigend fort. Kurz vor der Großen Halle blieb Roy noch einmal stehen. Er blickte zu Boden, als er sagte: „Das ist alles nicht so einfach mit Arabella. Ich weiß auch nicht…“
Julian ächzte. „Du bist nicht nur der klügste, sondern leider auch mit weitem Abstand der komplizierteste Mensch, den ich kenne. Von Arabella würdest du alles bekommen, wonach du dich sehnst, genau die tiefe Bindung, die deinem Wesen entspricht, aber du hast Angst davor, es wirklich zu bekommen, und genau deshalb läufst du vor ihr davon! Dieser Flirt mit Patricia ist eine Flucht! Stimmt doch, oder?“
Ohne Julians Frage zu beantworten, fragte Roy zurück: „Warum sagst du mir das eigentlich alles?“
„Ich möchte nicht, dass du irgendwann eine jener traurigen Gestalten wirst, die mit fünfzig darüber nachgrübeln, was sie mit fünfzehn oder sechzehn hätten tun sollen. Sei froh, dass du einen Freund hast, der es dir jetzt sagt.“
Roy starrte vor sich hin. Dann sagte er unvermittelt:
„Bin ich. Lass uns Mittag essen gehen.“
In der Großen Halle hatte Whitemans Bonmot offenbar in Windeseile die Runde gemacht, und Roy wurde von zahllosen grinsenden Gesichtern empfangen, die er aber kaum wahrnahm. Er setzte sich und lud sich gedankenverloren zwei Hähnchenkeulen und eine Riesenportion Reis auf den Teller. Als er den Kopf hob, sah er in die unendlich traurigen Augen Arabellas, die ein paar Plätze versetzt gegenüber saß und ihn unverwandt ansah.
Am ersten Dienstag im Oktober ging Meredith Richardson beschwingt in ihre letzte Doppelstunde Muggelkunde vor der Mittagspause. Sie hatte ihre Lieblingsklasse, die Erstklässler der Ravenclaws und Slytherins. Die Kinder in dieser Klasse – aufgeweckt, interessiert und wohlerzogen – waren der Traum jeder Lehrerin, und zu ihrer eigenen Überraschung stellte Richardson, eine Gryffindor, fest, dass sie gerade die Slytherins unter den Erstklässlern besonders gern hatte. Nicht nur Bernard Wildfellow, der einzige echte Muggel in Hogwarts, auch seine Freunde hatten es ihr angetan.
Bernard glänzte in jedem Fach, in dem er ohne Zauberei auskam, natürlich auch und gerade in Muggelkunde, und sie tat so, als bemerke sie nicht, dass er manchmal seinen Mitschülern Antworten einflüsterte oder sie abschreiben ließ, denn sie wusste von ihren Kollegen Flitwick und Macmillan, dass Potter und Malfoy – auch sie zwei ganz reizende Jungs, fand sie – sich in Zauberkunst und Verwandlung revanchierten, indem sie seinen Zauberversuchen mit ihren Zauberstäben unter der Bank ein wenig nachhalfen, was Flitwick und Macmillan ihrerseits geflissentlich ignorierten.
Richardson hätte in den neunziger Jahren gerne in Oxford studiert, um sich mit der Muggelwelt, für die sie sich seit jeher leidenschaftlich interessierte, wirklich gründlich vertraut zu machen. Leider hatte das Ministerium ihren Antrag damals abgelehnt. So war sie darauf angewiesen, sich aus der Muggelpresse, aus Büchern und bei gelegentlichen Kurzbesuchen auf dem Laufenden zu halten. Gewiss wusste sie über die Muggelwelt mehr als die meisten Hexen und Zauberer, aber Bernards Wissen war viel aktueller, und es war nicht angelesen wie ihres, sondern stammte aus dem richtigen Leben. Andere Lehrer hätten vielleicht um ihre Autorität gefürchtet und ihm verübelt, dass er seine Lehrerin bisweilen höflich korrigierte. Richardson war souverän genug, ihn gewähren zu lassen und ermutigte ihn sogar, von seinem Leben in der Muggelwelt zu erzählen.
Heute waren Telefone dran. Meredith hatte sich eigens von ihrem Ministeriumskollegen Arthur Weasley, der ihre Begeisterung für die Muggeltechnik teilte, dessen Sammlung von fünf historischen Telefonen ausgeliehen. Das älteste stammte noch aus dem neunzehnten Jahrhundert, eines aus dem frühen zwanzigsten, eines aus den dreißiger Jahren, eines aus den Achtzigern. Ihr ganzer Stolz war ein Handy, das sie gerade als neueste Errungenschaft präsentierte, als sie Wildfellow ein Grinsen unterdrücken sah.
„Bernard?“, fragte sie aufmunternd, „stimmt irgendetwas nicht?“
„Äh, ich fürchte“, meinte Bernard, „so richtig aktuell ist das Ding nicht mehr. Dem Design nach würde ich schätzen, dass es mindestens zwanzig Jahre alt ist. Heute macht man mit Handys noch ganz andere Sachen als nur zu telefonieren.“
„Ja? Erzähl doch, was machst du damit?“
Und Bernie erzählte. Das Gespräch ging von Smartphones zu Computern und schließlich zum Internet über.
„Man kann alles Mögliche machen“, sprudelte es aus Bernie heraus, „auch ganz abgefahrene Sachen. Ich zum Beispiel habe mir im Sommer lauter Tonaufzeichnungen rückwärts angehört.“
„Wozu das denn?“, fragte seine Lehrerin verblüfft.
„Nun ja, manche behaupten, man könne auf diese Weise Botschaften verstehen, die dem Sprecher unbewusst sind, also direkt aus seinem Unterbewusstsein stammen.“
Meredith staunte. Bernard war wirklich ein ungewöhnlich wissbegieriger Junge. Welcher andere Elfjährige würde auf eine solche Idee kommen?
„Und?“, fragte sie neugierig. „Hast du solche Botschaften gehört?“
„Na ja“, meinte Bernie, „das meiste ist natürlich Kauderwelsch. Aber einmal hatte ich einen richtigen Volltreffer: ein Video, in dem eine Frau ganz begeistert irgendeinen Lippenstift anpries. Als ich es mir rückwärts anhörte, hörte man ganz deutlich: ‚Kauft – bloß – nicht – diesen – Scheiß!‘“
Alle lachten.
Solche Stunden liebte Meredith, und es störte sie nicht im Mindesten, dass sie oft weit vom Thema abschweiften. Es kam ihr ja nicht unbedingt darauf an, ihren Schülern technische Einzelheiten über Telefone beizubringen – wie man telefonierte oder im Internet surfte, würden sie noch früh genug lernen –, sondern ihnen die Angst vor der fremden Muggelwelt zu nehmen, und Bernie war sozusagen deren Botschafter und lebender Repräsentant. Dass er bei den Slytherins gelandet war, bei denen die Vorbehalte am größten waren, erschien ihr als unglaublicher Glücksfall; dass ausgerechnet MacAllister dafür gesorgt hatte, als Wunder.
Waren nämlich die Slytherin-Erstklässler ihre heimlichen Lieblingsschüler, so waren die Sechstklässler desselben Hauses ihr Alptraum, und MacAllister war der Schlimmste von allen. Seit Anfang des Schuljahres behandelten sie im Unterricht das politische System Muggel-Großbritanniens. Richardsons Bemühungen, ihren Sechstklässlern die Vorzüge der britischen Demokratie nahezubringen, zerschellten regelmäßig an MacAllisters bissigem Sarkasmus.
Als sie die Funktionsweise demokratischer Parteien erläuterte, zitierte MacAllister das „eherne Gesetz der Oligarchie“ eines deutschen Soziologen, von dem Meredith noch nie gehört hatte:
„Kurz gesagt,“ erläuterte MacAllister, „wer es nach oben schafft, bestimmen die, die es schon geschafft haben.“
Pressefreiheit definierte er als „die Freiheit von zwei Dutzend Leuten, zu bestimmen, was der Rest der Gesellschaft glauben soll.“
Jeder kann frei seine Meinung sagen? „Es sei denn, er hat eine. Vor allem eine andere als die zwei Dutzend Leute.“
Aber im Internet kann er es doch? „Wenn Facebook es zulässt.“
Menschenrechte… „kommen immer in Mode, wenn die Regierung einen Krieg gegen einen Diktator anzetteln will, während befreundete Diktatoren selbstredend nie die Menschenrechte verletzen.“
Marktwirtschaft? „Versuchen Sie sich mal im freien Wettbewerb mit Google.“
„Sagen Sie mal, Sie Schlaumeier“, fragte Richardson gereizt, „welches System würden Sie denn so viel besser finden?“
„Das ist nicht mein Problem“, erwiderte MacAllister ungerührt, „sondern das der Muggel. Ich will nur verhindern, dass Ihr Ministerium es zu meinem Problem macht.“
Es war hoffnungslos. Selbstverständlich hielt sie tapfer dagegen, hatte damit aber nur den Erfolg, dass MacAllister jede seiner Thesen mit einem ganzen Katarakt von Argumenten begründete. Auf diese Weise lernten die Schüler zwar allerhand über die Muggelwelt, aber gerade nicht das, was sie lernen sollten.
Am Schlimmsten war aber, dass MacAllister sein umfangreiches Wissen über die Muggelwelt nicht, wie Bernie, höflich und bescheiden zum Besten gab, sondern durchblicken ließ, dass er seine Lehrerin nicht ernstnahm, und damit bewirkte, dass seine Mitschüler es ebenfalls nicht taten. Nicht nur die Slytherins, sondern durchaus auch die Ravenclaws hatten ihren Spaß daran, wie MacAllister sie immer wieder in die Enge trieb und manchmal geradezu lächerlich machte.
Im Oktober würden sie die multikulturelle Gesellschaft durchnehmen, und Meredith litt schon seit Tagen unter Alpträumen, in denen MacAllister die Hauptrolle spielte…
Die schöne Doppelstunde mit den Erstklässlern verging wie im Fluge. Nachdem sie ihre Schüler freundlich in die Mittagspause verabschiedet hatte, packte Meredith ihre Umhängetasche und machte sich auf den Weg zum Schlossportal. Sie hatte nämlich noch einen Termin. Einen seltsamen Termin.
Heute Morgen war eine Ministeriumseule vor ihr auf dem Lehrertisch gelandet. Sie überbrachte ein Schreiben mit dem offiziellen Briefkopf des Ministeriums:
Sehr geehrte Mrs. Richardson,
bitte apparieren Sie heute Mittag um 12.15 Uhr in der Eingangshalle des Ministeriums. Ich werde Sie abholen und zu einer äußerst wichtigen und streng vertraulichen Besprechung führen.
Erwähnen Sie niemandem gegenüber, dass Sie Hogwarts verlassen und sich nach London ins Ministerium begeben. Um zu disapparieren, müssen Sie das Schlossgelände verlassen. Vergewissern Sie sich, dass niemand Ihnen folgt und niemand Sie beim Disapparieren beobachtet.
Sie werden rechtzeitig zum Nachmittagsunterricht zurück sein.
Dieses Schreiben wird sich in wenigen Sekunden selbsttätig vernichten.
Mit freundlichen Grüßen
Cesar Anderson
Amt für Magische Sicherheit
Kaum hatte sie den Brief gelesen, da schrumpfte er auch schon zusammen und verschwand. Nur eine winzige Staubwolke blieb zurück, die sich rasch auflöste.
Ein wenig Herzklopfen spürte sie schon, als sie zehn Minuten nach zwölf das Schlossgelände verließ. Der Brief kam schließlich nicht aus ihrer angestammten Abteilung, sondern von Anderson, den sie als Chef des Personenschutzes kannte – von einem Amt für Magische Sicherheit hatte sie noch nie gehört –, der sie selbst abholen wollte! Das konnte nur heißen, dass er sie zur Ministerin persönlich bringen wollte. Einerseits war das schmeichelhaft, doch andererseits zerbrach sie sich vergeblich den Kopf darüber, wozu die Geheimniskrämerei gut sein sollte.
Als sie in der Eingangshalle apparierte, sah sie Andersons markante Erscheinung schon neben einem der Empfangsschalter. Anderson begrüßte sie mit einem knappen Kopfnicken und ging ihr dann voraus zum Ministeraufzug, den normalerweise nur die Ministerin selbst benutzen durfte. Als sie schweigend im Aufzug standen, wagte Meredith nicht zu fragen, was es mit der Unterredung auf sich hatte, aber sie war sehr, sehr aufgeregt – nicht nur wegen der konspirativen Umstände, sondern auch, weil sie Hermine glühend verehrte und hoffte, nichts getan zu haben, was das Missfallen der Ministerin erregt haben könnte.
Cesar führte sie geradewegs bis zur Tür des Ministerbüros und blieb zurück, während sie eintrat. Meredith hörte, wie er die Tür hinter ihr von außen schloss, und sah, dass sie mit Hermine allein war.
Die Ministerin forderte sie nun mit einem Wink ihres Zauberstabs auf, Platz zu nehmen. Merediths Herz schlug bis zum Halse. Wie zufällig war Hermines Zauberstab immer noch auf sie gerichtet. Die Ministerin sah sie lange und durchdringend an. Dann sagte sie:
Am letzten Mittwoch im Oktober saßen Roy und Julian kurz nach neun im Gemeinschaftsraum bei einer Partie Zauberschach zusammen.
„Ich sehe dich gar nicht mehr mit Patricia flirten“, meinte Julian, während er einen Springer auf Roys schwarzfeldrigen Läufer losließ. „Läuft da nichts mehr, oder seid ihr nur diskreter geworden?“
Roys Bauer zerrte den Reiter vom Pferd.
„Ich habe es beendet“, sagte Roy, während Julians wackerer Ritter mit der Mistgabel des Bauern im Hintern vom Brett floh.
„Wie hat sie es aufgenommen?“
„Schlechter, als ich dachte. Ich meine, außer ein bisschen Flirten war ja zwischen uns so gut wie nichts vorgefallen, und ich fand mich eigentlich recht taktvoll.“
Julian zog zweifelnd die Brauen hoch. „Was hast du denn gesagt?“
„Dass ich über uns nachgedacht habe, dass mir klargeworden ist, dass das mit uns über kurz oder lang scheitern muss, weil von vornherein feststeht, dass ich sie nie heiraten kann, und dass sie mir für ein bloßes Abenteuer zu kostbar und zu schade ist.“
„Donnerwetter, hätte ich dir ehrlich gesagt gar nicht zugetraut“, grinste Julian, der ein ausgewiesener Experte in der delikaten Kunst des stilvollen Beendens von Beziehungen war. „Eigentlich hast du ihr jeden Grund gegeben, sich geschmeichelt zu fühlen.“
„Dachte ich auch, aber sie war ziemlich gekränkt“, meinte Roy etwas bekümmert.
„Wahrscheinlich fühlt sie sich blamiert. Immerhin redete die ganze Schule darüber, dass ihr beiden…“
Julian konnte nicht weitersprechen, da plötzlich die Tür zum Gemeinschaftsraum aufging und Whiteman eintrat. Die Schüler blickten auf: Das Erscheinen des Hauslehrers im Gemeinschaftsraum bedeutete selten etwas Gutes.
Whiteman winkte sofort Roy und Patricia, die mit einigen Freundinnen beisammengesessen hatte, energisch zu sich heran.
„Holen Sie sofort alle Schülerinnen und Schüler aus dem Bett. Sie sollen sich im Gemeinschaftsraum einfinden, und zwar mit ihren Zauberstäben!“
„Darf man fragen, warum?“, wollte Roy wissen. „Ich meine, gerade die Jüngeren brauchen Ihren Schlaf und…“
„Gehen Sie davon aus, dass ich solche Anweisungen nicht ohne Grund erteile, Mister MacAllister!“, herrschte Whiteman ihn an. „Tun Sie, was ich Ihnen sage!“
Da Widerspruch zwecklos war, holten die beiden Vertrauensschüler ihre Schützlinge aus den Betten. Einige Minuten später standen die Slytherins vollzählig im Gemeinschaftsraum.
„Jeder von Ihnen wird jetzt seinen Zauberstab mit einem Namensschild kennzeichnen und mir dann aushändigen!“, befahl Whiteman. Als sich protestierendes Gemurmel erhob, fügte er hinzu: „Den Grund erfahren Sie gleich.“
Gehorsam zauberten die Schüler sich Namensschilder und befestigten sie an den Stäben. Whiteman sammelte die Stäbe ein. Dann sagte er:
„David Bancroft aus dem Haus Hufflepuff ist soeben ohnmächtig aufgefunden worden. Man hat ihn mit einem Schockzauber belegt. Es handelt sich um den vierten Angriff auf einen muggelstämmigen Schüler innerhalb von zehn Tagen, wenn man die drei Petrificus-Angriffe der letzten Tage mitzählt. Letztere konnte man noch als üble Schülerstreiche abtun, aber der Schockzauber ist eine Grenzüberschreitung, die die Schulleitung zu energischen Maßnahmen zwingt! Die Schulleiterin hat Professor Gracchus Barclay, der, wie Sie wissen, ein erfahrener Auror ist, mit den Ermittlungen betraut. Er hat angeordnet, alle Zauberstäbe sämtlicher Hogwarts-Schüler sofort einzuziehen. Die Lehrer werden sie überprüfen. Wer nichts damit zu tun hat, bekommt morgen seinen Zauberstab zurück. Der Täter aber kann mit dem Schulverweis rechnen. Gute Nacht!“
Während die Schüler ebenso verwirrt wie lautstark miteinander zu diskutieren begannen, zogen die Unbestechlichen sich in eine Ecke zurück. Auch Albus hatte sich zu ihnen gesellt.
„Was wollen sie denn überprüfen?“, fragte er verunsichert, als er die finsteren Mienen seiner Freunde sah.
„Priori incantatem“, sagte Roy knapp. „Schon einmal gehört?“
„Nö.“
„Das heißt“, erläuterte Roy, „sie werden die letzten Zauber des jeweiligen Stabes sichtbar machen. Sie suchen nach Zauberstäben, mit denen zuletzt Schockzauber ausgeführt wurden. Na, klingelt was?“
Albus‘ Eingeweide schienen sich jäh zu verknoten. In der heutigen DA-Stunde hatten sie noch einmal alles rekapituliert und geübt, was sie in den vergangenen Wochen gelernt hatten, und die letzte Viertelstunde hatten sie just damit zugebracht, sich gegenseitig zu schocken.
„Ja, aber können sie dann nicht auch sehen, gegen wen der Zauber sich richtete?“, fragte er, noch ein wenig hoffnungsvoll.
„Das geht nur beim Todesfluch, sonst nicht“, knurrte Roy.
„Ja, aber wir können doch bezeugen, dass wir uns nur gegenseitig geschockt haben und nicht irgendeinen Hufflepuff. Mein Vater sagt, Barclay sei ein sehr anständiger und fairer Ermittler, und gerade deshalb habe Hermine ihn nach Hogwarts abgeschoben.“
„Immerhin ein Hoffnungsschimmer“, sagte Roy. „Trotzdem: Wenn der Täter schlau genug war, einen Zweitstab zu benutzen, oder wenn er ein Lehrer ist oder ein Unbekannter, der von außen in die Schule eingedrungen ist…“
„…sind unsere Stäbe wahrscheinlich die einzigen, mit denen zuletzt jemand geschockt wurde“, ergänzte Orpheus. „Barclay mag gutwillig sein, aber er ist ein Gryffindor, das Opfer ist muggelstämmig, und wir sind Slytherins, noch dazu die, die das Ministerium ohnehin schon im Visier hat. Er wird uns verdächtigen, uns gegenseitig falsche Alibis zu geben. Zumindest wird er uns intensiv verhören, das ist sogar seine Pflicht. Er wird wissen wollen, warum wir einander schocken…“
„Dann sagen wir, wir haben eine inoffizielle Arbeitsgemeinschaft zur Übung der Verteidigung gegen die dunklen Künste gegründet. Stimmt ja auch irgendwo“, warf Ares ein.
„Könnte gehen“, gab Orpheus zu, „aber er wird auch wissen wollen, wo wir es gemacht haben, und allein schon wegen der Bücher, die wir dort lagern, würde ich würde ungern unseren Geheimraum preisgeben. Stellt euch mal vor, wie das aussieht: Eine Gruppe Slytherins, die für Teile der Öffentlichkeit als Todesser gelten, sind die einzigen Verdächtigen bei einem muggelfeindlichen Überfall und lagern dann auch noch haufenweise Literatur über Schwarze Magie.“
„Wir brauchen den Geheimraum nicht zu verraten“, meldete sich nun Julian zu Wort. „Wir sagen, wir hätten es im Raum der Wünsche getan.“
„Barclay wird ziemlich schnell dahinterkommen, dass keiner von uns dessen genaue Lage kennt und weiß, wie man hineinkommt“, wandte Roy ein.
„Oh doch“, grinste Julian verschmitzt, „ich weiß es. Wisst ihr“ – er grinste noch ein bisschen breiter – „wenn man mit einer Freundin ungestört sein möchte…“
„Hätten wir uns ja denken können“, unterbrach ihn Arabella. „Verschone uns bitte mit deinen Liebesabenteuern, wir haben vermutlich nicht mehr viel Zeit, weil sie die Slytherin-Stäbe zuerst untersuchen werden! Wo ist er genau und wie kommt man hinein? Bitte mit möglichst vielen Einzelheiten, Barclay wird uns danach fragen!“
Julian beschrieb es ihnen.
„Gut“, sagte Roy. „Ansonsten bleiben wir so nahe wie möglich an der Wahrheit, damit wir uns nicht in Widersprüche verstricken. Wir werden wahrheitsgemäß alle Zauber beschreiben, die wir geübt haben. Im Übrigen werden wir keinerlei politische Gründe für unser Training angeben, es geht nur um Selbstverteidigung! Ach ja, eins noch: McGonagall ziehen wir nicht hinein, und Harrys Beteiligung muss um jeden Preis verschwiegen werden, klar?“
Alle nickten.
Sie hatten ihre Absprachen gerade noch rechtzeitig getroffen, denn schon wieder stand Whiteman in der Tür, diesmal mit zornfunkelndem Blick:
Unter den entsetzten Blicken ihrer Mitschüler folgten die Unbestechlichen, die selbst keine Miene verzogen – sogar Albus hatte sich bereits ihren stoischen Stil angewöhnt, wenn es um ernste Dinge ging – ihrem Hauslehrer auf den Gang vor dem Gemeinschaftsraum.
Während Whiteman sie schnellen Schrittes ins Erdgeschoss führte, berührte Roy Albus an der Schulter, und raunte ihm, als er zu ihm aufblickte, zu: „Keine Sorge!“
„Ruhe!“, rief Whiteman. „Sie werden bis auf Weiteres nicht miteinander sprechen!“
Albus, dem in Wirklichkeit die Knie zitterten, versuchte Roy einen möglichst zuversichtlichen Blick zuzuwerfen, den dieser mit einem zufriedenen Schmunzeln quittierte.
In der Eingangshalle angekommen, konnten sie einen kurzen Blick in die Große Halle erhaschen, in der offenbar alle Lehrer damit beschäftigt waren, im Akkordtempo Zauberstäbe zu prüfen. Whiteman allerdings führte sie zu dem Nebenraum, in dem McGonagall erst vor ein paar Wochen – die, so schien es Albus, Ewigkeiten zurücklagen – die neu eingetroffenen Erstklässler empfangen hatte. Hinter der offenen Tür sah man Gracchus Barclay sitzen, der hier offenbar sein provisorisches Büro eingerichtet hatte.
„Gracchus, ich habe alle sechs dabei“, rief Whiteman seinem Kollegen zu.
„Vielen Dank, Charles, ich werde sie einzeln vernehmen. Schicken Sie mir zuerst Potter herein, und achten Sie darauf, dass die anderen sich inzwischen nicht absprechen können.“
Albus trat ein, schloss die Tür hinter sich, sah Barclay freimütig ins Gesicht und sagte:
„Guten Abend, Sir!“
Selbstverständlich hatte er Angst, aber er hatte sich von Scorpius ein wenig von dessen aristokratischem Habitus abgeguckt und gelernt, wie wichtig es war, in jeder Lage Haltung zu bewahren, auch und gerade, wenn man Ärger mit Lehrern hatte. Außerdem wusste er von seinem Vater, worauf Auroren bei Verhören achteten. Je deutlicher er zeigte, dass er sich nichts vorzuwerfen hatte, desto besser.
„Guten Abend, Potter!“, erwiderte Barclay seinen Gruß. „Setzen Sie sich.“
Barclay hatte mit zwei Schulbänken eine Art Schreibtisch improvisiert, an dessen einer Seite er selbst saß, während Albus auf der anderen Platz nahm.
Gracchus Barclay war ein in Ehren ergrauter, väterlich wirkender, allerdings auch – das wusste Albus – fähiger und scharfsinniger Ermittlungsbeamter, der auf Hermines ausdrücklichen Wunsch hin nach Hogwarts abkommandiert – Harry sagte: abgeschoben – worden war. Sein Vater hatte sich im Sommer sehr darüber geärgert, weil Barclay in der Aurorenabteilung schwer ersetzbar war.
Er schien es nicht eilig zu haben, das Verhör zu beginnen, sondern sah Albus lange und durchdringend an, während dieser seinem Blick so gelassen standhielt, wie er unter den gegebenen Umständen nur konnte.
Schließlich seufzte er: „Albus, Albus, wer hätte das für möglich gehalten? Ein Potter in dieser Gesellschaft! Was wird Ihr Vater dazu sagen?“
Falls es seine Absicht gewesen war, Albus einzuschüchtern und in die Defensive zu drängen, so war ihm dies misslungen. Albus hob stolz das Kinn.
„Mit Verlaub, Sir“, begann er höflich, aber bestimmt, „es gibt nichts, was ich meinem Vater verheimlichen müsste. Ich bin stolz auf meine Freunde, und keiner von uns hat sich etwas vorzuwerfen!“
Mit einer so forschen Antwort aus dem Mund eines Elfjährigen, den er für das schwächste Glied in der Kette gehalten und deshalb als erstes zum Verhör zitiert hatte, hatte Barclay offenbar nicht gerechnet. Er zog überrascht, aber nicht übelwollend, die Augenbrauen hoch.
„Sie haben also keine Ahnung, warum Sie hier sind?“
„Doch, Sir. Professor Whiteman hat uns gesagt, dass ein Mitschüler von einem Schockzauber getroffen wurde, und dass deshalb alle Zauberstäbe überprüft werden. Wir alle sechs haben heute Abend Schockzauber geübt und uns gegenseitig geschockt. Das mit den Schockzaubern haben Sie bei der Überprüfung der Zauberstäbe sicher herausgefunden, und deshalb vernehmen Sie uns. Das ist Ihre Pflicht.“
„Sie sagen es, Potter“, antwortete Barclay. „Wo waren Sie heute Abend zwischen sieben und acht Uhr?“
„Im Raum der Wünsche im siebten Stock, Sir.“
„Wer war außer Ihnen noch dort?“
„Die fünf Mitschüler, die draußen vor der Tür warten.“
„Sonst niemand?“
„Sonst niemand, Sir.“
„Was haben Sie dort getan?“
„Wir haben in unserer Arbeitsgemeinschaft verschiedene Zauber rekapituliert: Unsichtbarkeitszauber, Schildzauber, Verkleinerungs- und Vergrößerungszauber, Petrificus und zum Schluss eben Schockzauber. Wir haben uns ausschließlich gegenseitig geschockt.“
Barclay sah ihn mitleidig an.
„Potter“, sagte er, „wer soll Ihnen das glauben?“
„Sie, Sir!“, erwiderte Albus, ohne mit der Wimper zu zucken.
Barclay schaute wieder besonders väterlich drein. „Potter“, sagte er, „es ehrt Sie, dass Sie Ihre Freunde schützen möchten, aber wir beide wissen doch, dass es ganz anders war.“
„Es war so, wie ich sage, Sir.“
Barclay ging nicht darauf ein. Er stand auf, trat nahe an Albus heran, beugte sich zu ihm herunter und sagte leise: „Ihre Freunde haben Sie angestiftet, muggelstämmige Mitschüler zu terrorisieren, und weil Sie sich als guter Slytherin erweisen wollten, haben Sie mitgemacht. So war es doch, oder?“
„Nein.“
„Seien Sie doch nicht dumm, Potter! Sie sind erst elf Jahre alt und wurden von älteren Mitschülern zu Dummheiten angestiftet. Man wird Sie bestimmt nicht der Schule verweisen, aber nur, wenn Sie jetzt die Wahrheit sagen.“
„Ich sage die Wahrheit, Sir. Und, entschuldigen Sie bitte, aber ich finde Ihre Theorie ein bisschen, äh, verrückt. Roy MacAllister ist nicht nur selbst muggelstämmig, sondern hat sich auch für Bernie Wildfellow eingesetzt, den einzigen Muggel an der Schule. Und ich selbst habe es auch getan! Es ist doch absurd, uns zu unterstellen, wir würden muggelstämmige Schüler terrorisieren!“
Das Argument war stichhaltig. Barclay, an den Tisch gelehnt, sah nachdenklich zu Albus hinunter.
„Was ist das für eine Arbeitsgemeinschaft?“
„Eine AG zur Verteidigung gegen die dunklen Künste.“
„Aaach?“, fragte Barclay gedehnt. „Und warum weiß ich als Ihr Lehrer in Verteidigung nichts davon?“
„Wir hielten es nicht für erforderlich, Sie zu informieren, Sir. Es ist ja schließlich nichts Verbotenes.“
„Nein, verboten ist es nicht, und als ihr Lehrer müsste ich mich über Ihren Eifer sogar freuen. Ich bin nur zu lange Auror gewesen, um mich nicht zu wundern, wenn jemand Heimlichkeiten hat. Oder wusste außer Ihnen sechs noch jemand von Ihren Übungen?“
„Niemand.“
„Und warum nicht?“
Albus stutzte kurz, dann sagte er: „Wir wollten unter uns bleiben. Wir, äh, wir sind gar nicht auf die Idee gekommen, irgendjemandem davon zu erzählen.“
„So, sooo.“ Barclay fixierte ihn. „Sie waren also im siebten Stock. Sind Sie zusammen dorthin gegangen?“
Jetzt wurde es brenzlig. Das hatten sie nicht besprochen. Er durfte jetzt nichts sagen, was die anderen nicht bestätigen würden. So nahe wie möglich an der Wahrheit bleiben, hatte Roy gesagt. Er selbst war heute, wie immer, allein zum Geheimraum gegangen, und genau so musste er auch zum Raum der Wünsche gelangt sein…
„Ich bin allein hochgegangen, Sir.“
„Auf welchem Weg?“
Albus versuchte sich seinen Schreck über die Frage nicht anmerken zu lassen. Er war noch keine zwei Monate in Hogwarts und noch nie im siebten Stock gewesen, er kannte den Weg schlicht nicht…
Ein Pochen an der Tür rettete ihn für den Moment über seine Verlegenheit hinweg.
„Herein!“, rief Barclay.
Herein kam Professor McGonagall. „Wir haben alle Zauberstäbe überprüft. Es wurden keine weiteren verdächtigen Stäbe gefunden.“
„Danke, Minerva, dann sind die sechs also nach wie vor unsere Hauptverdächtigen“, sagte Barclay. „Unser Mister Potter hier behauptet, sie hätten eine Arbeitsgemeinschaft zur Verteidigung gegen die dunklen Künste gegründet.“
„Ja, ich weiß von dieser Arbeitsgemeinschaft“, sagte McGonagall gleichmütig.
Albus erschrak. Sie hatten doch vereinbart, McGonagall herauszuhalten! Alle Unbestechlichen würden steif und fest behaupten, sie hätten niemandem etwas davon gesagt. Barclay würde sich wundern, warum sie leugneten, McGonagall informiert zu haben…
„Richtig“, rief er dazwischen, „das hatte ich vergessen, Sir! Ich hatte mit Professor McGonagall darüber gesprochen.“ Er versuchte, das „Ich“ so deutlich wie möglich zu betonen, um der Schulleiterin einen Wink zu geben, nicht etwa zu behaupten, einer der anderen oder gar die ganze Gruppe hätte sie informiert. Während Barclay sich wieder Albus zuwandte, sah dieser, wie McGonagall ganz kurz ihren Falkenblick bekam, bevor ihre Züge sich wieder entspannten.
„Das fällt Ihnen jetzt ein, Potter?“, fragte er misstrauisch.
„Tut mir leid, Sir, es war ein beiläufiges Gespräch, daher hatte ich nicht mehr daran gedacht.“
Barclay sah zweifelnd zur Schulleiterin, die Albus‘ Angaben mit einem knappen Nicken bestätigte.
„Gut“, wandte er sich wieder Albus zu. „Wir waren bei Ihrem Weg in den siebten Stock stehengeblieben. Wie sind Sie genau zum Raum der Wünsche gekommen?“
„Das weiß ich leider nicht mehr, weil ich mich unterwegs verlaufen habe. Ich hatte vergessen, mir den Weg beschreiben zu lassen. Glücklicherweise war ich früh losgegangen. Ich bin so lange nach oben gegangen, bis ich im siebten Stock war, und dort irrte ich so lange herum, bis ich bei Barnabas dem Bekloppten ankam. Den Weg könnte ich beim besten Willen nicht mehr rekonstruieren.“
„Sie hätten aber doch jemanden fragen können.“
„Ja, sicher, aber es wäre mir peinlich gewesen, ich… äh, ich wollte nicht der dumme Erstklässler sein, der keine Ahnung hat.“
„Wie oft trifft sich Ihre AG?“, wollte Barclay wissen.
„Dreimal wöchentlich, montags, mittwochs und freitags.“
„Immer im Raum der Wünsche?“
„Ja, Sir.“
„Seit wann?“
„Seit Ende September.“
„Sie waren also schon ein Dutzend Mal dort und wollen den Weg immer noch nicht kennen?“
„Ich bin sonst immer mit einem der anderen gegangen, da musste ich mir den Weg nicht merken.“
„Mit wem?“, fragte Barclay, und Albus merkte, wie ihm heiß wurde.
„Mit Roy MacAllister, Sir“, sagte er nach kurzem Zögern. „Manchmal waren auch andere dabei, aber ich weiß nicht mehr genau, wer und wann.“
„Nein?“
„Ich habe darüber nicht Buch geführt“, sagte Albus etwas frech, aber mit Unschuldsmiene. So waren die Angaben unbestimmt genug, dass sich die Unbestechlichen nicht in Widersprüche verwickeln würden.
„Ich kann dann wohl hier nichts mehr tun, Gracchus“, sagte die Schulleiterin. „Bis später dann!“
„Ja, danke, bis dann!“ Und während McGonagall den Raum verließ, wandte sich Barclay wieder Albus zu. Der Rest des Verhörs war kurz. Barclay fragte ihn, wo er zu den Zeitpunkten gewesen war, zu denen andere Muggelstämmige mit dem Petrificus belegt worden waren. Glücklicherweise hatte Albus für diese Zeitpunkte Alibis, weil er mit Scorpius, Jennifer oder Bernie zusammengewesen war.
„Gut“, sagte Barclay schließlich. „Sie können dann gehen, Potter. Schicken Sie mir MacAllister herein.“
Albus ging hinaus: „Roy“, sagte er, „du bist dran!“
Als Roy hineinging, wandte McGonagall, die bis dahin mit Whiteman geplaudert hatte, sich Albus zu:
„Potter, Sie gehen jetzt schlafen, es ist schon nach elf, viel zu spät für Sie!“
„Bitte, Professor McGonagall“, erwiderte er. „Ich bin viel zu aufgeregt, um jetzt zu schlafen, und wenn Sie erlauben, möchte ich gern bei meinen Freunden bleiben.“
Zu seiner eigenen Überraschung gab die sonst so gestrenge Schulleiterin nach. „Also schön, ausnahmsweise. Aber ich warne Sie, Potter! Wenn Sie morgen im Unterricht einschlafen…“
„Ich verpasse ihm morgen früh einen Aufmunterungszauber“, hakte Ares ein. „Dann wird es schon gehen.“
„Trotzdem müssen Sie sich abseits von denen halten, die noch nicht befragt wurden“, sagte Whiteman dienstbeflissen.
Die übrigen Verhöre erfolgten nun Schlag auf Schlag, während die beiden Lehrer sich weiter unterhielten und nach und nach all ihre Kollegen hinzutraten; nur Richardson fehlte.
Kurz vor zwölf trat Barclay mit Ares, den er als letzten befragt hatte, vor die Tür und erstattete McGonagall Bericht:
„Sie waren es nicht. Ihre Alibis für heute und die anderen Tatzeitpunkte sind glaubwürdig beziehungsweise überprüfbar, Bancroft ist nur von einem, allerhöchstens zwei Schockzaubern getroffen worden, nicht von sechs, und sie hatten kein Motiv…“
„…aber mein volles Vertrauen“, lächelte McGonagall. „Ich hatte mit nichts anderem gerechnet, wollte aber Ihre Ermittlungen nicht beeinflussen.“
„Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los“, sagte Barclay misstrauisch, während er den Unbestechlichen nacheinander ihre Zauberstäbe zurückgab, „dass Sie mir irgendetwas verschweigen. Ich glaube nur nicht, dass es der Angriff auf Bancroft ist.“
Er wandte sich wieder seinen Kollegen und der Schulleiterin zu. „Im Übrigen sind wir jetzt genauso schlau wie vorher. Vielleicht hat jemand einen zweiten Zauberstab, aber den kann er in diesem riesigen Gebäude überall versteckt haben, Zeit genug hatte er ja. Außerdem habe ich einen Fehler gemacht, beim nächsten Mal werden wir zunächst die Stäbe der Lehrer überprüfen.“
„Sie glauben doch nicht im Ernst…“ wollte Whiteman sich empören.
„Ich glaube gar nichts“, versetzte Barclay trocken, „nur hätte man es bei systematischem Vorgehen zuerst tun sollen, während wir es jetzt nicht mehr prüfen können, weil die vielen Priori incantetem alle vorherigen Zauber verdrängt haben. Wo ist eigentlich Meredith?“
In diesem Moment öffnete sich das Portal, und als hätte sie auf ihr Stichwort gewartet, betrat Meredith Richardson mit leicht gerötetem Gesicht die Eingangshalle.
„Meredith, wo sind Sie gewesen?“, rief Barclay ihr entgegen.
„Ich war nur ein wenig spazieren“, antwortete die Angesprochene beschwingt.
„Keine gute Idee um diese Zeit und unter diesen Umständen“, sagte Barclay mit leichtem Tadel. „Für einen, der muggelstämmige Schüler angreift, könnte auch die Muggelkundelehrerin ein attraktives Ziel sein.“
„Ich hoffe doch, dass ich immer ein attraktives Ziel bin“, erwiderte Richardson schelmisch und mit einem gewissen glücklichen Lächeln, das Barclay in letzter Zeit öfter an ihr bemerkt hatte. Wird wohl verliebt sein…
„So, die Schüler gehen aber jetzt schlafen!“, befahl Whiteman. Die Unbestechlichen trotteten davon.
„Blöde Sache“, brummte Roy, als sie außer Hörweite waren.
„Schon, aber Barclay weiß jetzt, dass es diese Gruppe gibt, wann und wo sie sich trifft, und dass du fest dazugehörst – das ist ungewöhnlich, weil du so viel jünger bist als wir. Und er hat einen unbestimmten Verdacht gegen uns. Hoffentlich schreibt er keinen Bericht ans Ministerium. In jedem Fall werden wir höllisch aufpassen müssen!“
„Wer Bancroft wohl geschockt hat? Vielleicht wieder einer von den Gryffindors?“, brummte Julian.
„Na, jedenfalls nicht James Potter“, gluckste Roy. „Der Heuler, den er von seiner Mutter bekommen hat, dürfte ihm die Lust an solchen Abenteuern ausgetrieben haben.“
Alle kicherten. Der Heuler, den Ginny – in bester Weasley-Tradition – ihrem Ältesten geschickt hatte, war wahrhaftig nicht von Pappe gewesen und hatte James noch mehr zum Gespött der Schule gemacht, als er es nach seinen Schmierereien ohnehin gewesen war.
„Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendein anderer Gryffindor die Blamage wiederholen möchte“, fügte Orpheus hinzu.
„Aber wer kann es sonst gewesen sein?“, fragte Albus.
„Vielleicht sollte man nicht fragen, wer es war, sondern wer dahintersteckt“, grübelte Orpheus. „Angriffe auf Muggelstämmige passen derart gut ins Konzept des Ministeriums, dass ich den Urheber dort vermuten würde.“
„False Flag…“ murmelte Roy.
„Wie?“
„Ein Angriff unter Falscher Flagge, bei dem jemand anderes als der wirkliche Urheber verdächtigt wird, gehört zu den üblichen Schweinereien von Geheimdiensten. Und seit Neuestem haben wir ja einen Geheimdienst…“
„Jedenfalls kennt der bestimmt Mittel und Wege, die Schutzzauber zu umgehen und in Hogwarts einzudringen, mit oder ohne Hermines Wissen. Sollte der Tagesprophet das Thema morgen hochziehen, können wir fast sicher sein, dass das Ministerium verwickelt ist.“
Roy blieb stehen. Sie waren nur noch wenige Meter vom Gemeinschaftsraum entfernt.
„Zuerst die Schmierereien“, sagte er düster. „Dann dreimal Petrificus. Dann ein Schockzauber…“
„Eine Klimax“, warf Orpheus ein. „Sie steigern sich. Jemand möchte eine Serie konstruieren, und beim nächsten Mal…“ Er hielt inne.
„…könnte es bereits ein Unverzeihlicher sein“, schloss Roy den Gedanken ab.
Der Tagesprophet reagierte schneller, als man hätte für möglich halten können. Als die Hogwarts-Schüler am nächsten Morgen beim Frühstück in der Großen Halle saßen und die Posteulen hereinrauschten, sahen sich die Abonnenten der Zeitung wieder einmal von neugierigen Mitschülern umringt:
Vier Angriffe auf Schüler mit nichtmagischem Hintergrund innerhalb weniger Tage. Ein Opfer nach Schockzauber in Behandlung.
Wie erst jetzt bekannt geworden ist, ist es in Hogwarts in den letzten Tagen zu einer Serie von Anschlägen gekommen, die bis jetzt vor der Öffentlichkeit geheimgehalten wurden. Alle Opfer sind Schüler aus nichtmagischen Familien. Zuletzt wurde am gestrigen Abend ein Schüler von einem Schockzauber aus dem Hinterhalt getroffen und verletzt.
Als Hauptverdächtige gelten mehrere Slytherin-Schüler, denen die Ausübung eines Schockzaubers nachgewiesen werden konnte. Unter den Verdächtigen sind unter anderem die als Neo-Todesser geltenden Roy MacAllister, Julian Lestrange und Ares Macnair sowie Albus Potter, der Sohn des vor Kurzem seines Postens enthobenen Aurorenchefs Harry Potter. Weitere Informationen lagen bei Drucklegung dieser Ausgabe noch nicht vor.“
Roy sah sich um und stellte beruhigt fest, dass die Schüler der anderen Häuser, sogar die Gryffindors, ungläubig bis belustigt die Köpfe schüttelten. Hatte der Tagesprophet mit seiner Berichterstattung vor einem Monat noch einen Hassorkan entfesselt, so hatte sich diesmal sofort herumgesprochen, dass Barclay, ein Auror und Gryffindor, die Unbestechlichen für unschuldig hielt. Außerdem hatte niemand die Geschichte mit Bernie vergessen.
Roy sah, dass Albus immer noch fassungslos auf den Artikel starrte, ging zu ihm hinüber und meinte: „Denk dir nichts. Wer in diesem Blatt nicht verleumdet wird, lebt ohnehin verkehrt!“
Albus hob den Blick. „Danke. Was mich aber am meisten beunruhigt, ist, dass sie meinen Vater hineinziehen.“
„Ja“, sinnierte Roy, „das ist allerdings interessant…“
Er kam nicht dazu, den Gedanken fortzuspinnen, denn jemand tippte ihm von hinten auf die Schulter. Es war sein Gryffindor-Kollege Ethelbert.
„Na, du Neo-Todesser?“, flachste er. Beide lachten. Roy sah, dass auch Victoire hinzugetreten war und die Vertrauensschüler der übrigen Häuser sich näherten.
„Ich wollte nur sagen“, sagte Victoire hastig, „dass James es nicht war, ich auch nicht, und ich glaube auch nicht, dass es ein anderer aus unserem Haus war.“
Roy verbiss sich ein Grinsen. Dass die Gryffindors inzwischen im Zweifel verdächtiger waren als die Slytherins, war eine Absurdität, die James seinem Haus eingebrockt hatte.
„Hat auch niemand unterstellt, Weasley“, sagte er leicht gönnerhaft, „wir haben aber, da die Täter nicht gefasst wurden, ein anderes Problem, nämlich…“
„…die Muggelstämmigen zu schützen“, ergänzte Victoire prompt.
Die übrigen Vertrauensschüler, die nun vollzählig waren, nickten.
„Wir können nicht viel mehr tun“, sagte Roy, „als dafür zu sorgen, dass jeder muggelstämmige Schüler jederzeit von zwei oder drei Mitschülern begleitet wird, die ruhig auch einmal hinter sich sehen sollten. Ich nehme an, dass die Schulleitung es ohnehin im Lauf des Tages anordnen wird. Ansonsten“, er zuckte die Achseln, „können wir nur die Augen offenhalten und abwarten, ob Barclay irgendetwas herausfindet.“
Die Traube der Vertrauensschüler löste sich auf. „Albus?“, fragte Roy.
„Ich habe mitgehört, wir lassen Bernie nicht mehr allein, versprochen!“
Roy beugte sich zu ihm herunter und sagte leise, sodass kein Anderer es hören konnte: „Vor allem du musst auf ihn aufpassen. Von allen Erstklässlern bist du jetzt dank DA der bestausgebildete.“
Als Roy zu seinem Platz zurückkehrte, wartete schon Patricia auf ihn, die Arabellas argwöhnische Blicke ignorierte.
„Gibt‘s noch was?“, fragte Roy geschäftsmäßig.
„Und wer passt auf dich auf?“, fragte Patricia. „Du bist auch muggelstämmig.“
„Mir werden die Täter nichts tun, der Tagesprophet braucht mich noch als Neo-Todesser und Oberteufel.“
„Lass die blöden Witze“, sagte Patricia leise und traurig, „ich mache mir Sorgen um dich.“
Roy wurde etwas verlegen. Seit ihrem letzten Gespräch waren sie einander möglichst aus dem Weg gegangen und hatten nur über schulische Dinge gesprochen, und auch das nur, wenn sie es nicht vermeiden konnten. So klug er sonst war, in Gefühlsdingen war er wirklich der Hornochse, den Julian in ihm sah. Daher brauchte er einen Moment, um zu begreifen, dass Patricia ihm eben zu verstehen gegeben hatte, dass sie immer noch und trotz allem Freunde waren. Als der Groschen endlich gefallen war, lächelte er ihr zu und meinte:
„Du hast recht, danke. Ich werde dafür sorgen.“ Sie nickten einander zu, und Roy setzte sich. „Also, ihr habt es vielleicht gehört…“
„So leise, wie ihr geredet habt? Ich belausche doch kein Tête-à-Tête“, warf Arabella sarkastisch ein, während sie Patricia grimmig nachsah.
Roy wartete, bis sie sich ihm wieder zugewandt hatte, und sah ihr einen Moment länger als nötig in die Augen. „Ich bin muggelstämmig und brauche daher einen Babysitter. Übernimmst du das, Arrie?“
Arabella lief rosa an, legte dann aber den Kopf leicht zurück und meinte betont kühl und von oben herab: „Ich weiß ja nicht, ob du es verdient hast, aber bitte, wenn du darauf bestehst…“
Die gespielte Coolness bewahrte sie nicht davor, noch tiefer zu erröten, als Roy ihr – und dies zum ersten Mal – die Sorte Blick zuwarf, die er bisher nur für Patricia übriggehabt hatte.
Albus wollte gerade zusammen mit Scorpius und Bernie an ihnen vorbeigehen, als Roy ihn am Umhang zupfte: „Heute Abend um sieben wieder in unserem Raum“, sagte er so leise, dass Bernie und Scorpius es nicht hören konnten. „Schick deinem Vater bitte eine Eule, dass er kommen möchte, wenn möglich. Ansonsten Procedere wie immer, und ganz besonders sorgfältig darauf achten, dass die Luft rein ist.“
„Meinen Eltern schicke ich sowieso eine“, raunte Albus zurück, „sonst denken sie womöglich noch, ich sei verhaftet worden.“ Er ging mit den beiden anderen weiter.
„Gehörst du jetzt eigentlich auch zu den Unbestechlichen?“, fragte Scorpius.
Albus seufzte. „Eigentlich soll es nicht an die große Glocke gehängt werden, aber dank des Tagespropheten hängt es jetzt ohnehin schon dort, also ja.“
„Unter anderem. Wir üben praktisch alles, was irgendwie mit Selbstverteidigung zu tun hat. Aber bitte sprecht mit niemandem darüber.“
„Natürlich nicht“, sagten Scorpius und Bernard wie aus einem Mund.
„Aber mitmachen würde ich gerne“, fügte Scorpius hinzu.
Albus zögerte. Roy hatte schon einmal erwähnt, dass die Gruppe Nachwuchs brauchte, denn außer Orpheus waren sie alle in ihrem vorletzten Hogwarts-Jahr, Ares sogar im letzten. An sich war Scorpius ein erstklassiger Kandidat: Er war klug, verschwiegen, ein verlässlicher Freund und konnte – bei Hermines Politik musste man ja leider an so etwas denken – über seine Familie ausgezeichnete Beziehungen zu wichtigen Leuten knüpfen. Aber in Roys und Harrys Staatsstreichpläne konnte und wollte er ihn nicht hineinziehen, abgesehen davon, dass die Anderen es auch nicht zugelassen hätten.
„Ich hätte dich gern dabei“, sagte er wahrheitsgemäß, „und die Anderen bestimmt auch, aber dieses Jahr wird es noch nichts, ich selber bin mehr zufällig drin. Nächstes Jahr sieht es anders aus.“ Wenn alles gutgeht, dachte er.
An diesem Abend apparierte Harry mit Ginny, die ihren Besen mitgebracht hatte, zusammen im Geheimraum, da Ginny gemeinsam mit Albus das Versteck für Hermine weiter einrichten wollte. Die beiden umarmten kurz ihren Sohn, dann ließen sie sich in allen Einzelheiten die Ereignisse des Vorabends schildern.
„Die Reaktion des Tagespropheten ist reichlich seltsam“, meinte Ginny schließlich. „Es fängt schon damit an, dass er in seiner Morgenausgabe Informationen über den Verdacht gegen euch brachte, obwohl es diesen Verdacht vor zehn Uhr abends noch gar nicht gab. Um noch ins Blatt zu kommen, musste die Nachricht spätestens um Mitternacht, eigentlich aber früher, in der Redaktion ankommen. Sie kann unmöglich mit einer Eule übermittelt worden sein.“
„Es müsste also“, nahm Harry den Gedanken auf, „jemand direkt dort appariert sein oder einen Patronus oder einen Zauberspiegel verwendet haben. Einen Patronus schaffen nur wenige, Zauberspiegel sind sehr selten, bliebe also direktes Apparieren… Wer wusste von dem Verdacht gegen euch?“
„Alle Slytherins und alle Lehrer, sonst niemand“, antwortete Arabella für die Anderen.
„Es ist ja schon einmal beruhigend“, meinte Ginny süßsauer, „dass diesmal kein Gryffindor die Hand im Spiel hat. Die Slytherins können es auch nicht gewesen sein. Bliebe also einer der Lehrer…“
„Wer immer es war“, sagte Roy, „er muss ein Interesse daran haben, Hermines Kampagne gegen Hogwarts, McGonagall und uns zu unterstützen, also einer ihrer glühenden Anhänger oder jemand, den sie entsandt hat. Mir fallen unter den Lehrern drei ein: Barclay und Richardson, weil sie vom Ministerium nach Hogwarts geschickt wurden, und Longbottom, weil er Hermine unterstützt. Longbottom würde ich ausschließen, weil er die ganze Zeit anwesend war, also nicht disappariert sein kann, und ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass er einen Patronus zustande bringt…“
„Unterschätz Neville nicht“, warf Harry ein, „er kann weitaus mehr, als man ihm zutraut. Trotzdem war er es nicht. Er würde die Presse nicht mit Hogwarts-Interna füttern, schon gar nicht, um Schüler in die Pfanne zu hauen.“
Alle nickten. Longbottoms Fairness und Anständigkeit, auch den Slytherins gegenüber, waren in der Tat über jeden Zweifel erhaben.
„Und Barclay?“, fuhr Harry zweifelnd fort. „Wenn er euch als Schuldige hätte präsentieren wollen, dann hätte er es tun können. Eure Alibis sind weiche Alibis, die ihr euch gegenseitig gegeben habt. Er hat euch geglaubt, weil es plausibel war und er den Instinkt eines erfahrenen Ermittlers hat. Aber die reine Indizienlage hätte für eine Festnahme allemal ausgereicht. Wenn er euch hätte schaden wollen, wärt ihr jetzt schon in Askaban.“
„Bliebe also Richardson“, sagte Roy. „Und da ist interessant, dass sie irgendwann im Lauf des Abends verschwunden ist. Ich habe nicht darauf geachtet, aber es muss gewesen sein, nachdem alle Zauberstäbe geprüft waren, also gegen elf. Zurückgekommen ist sie erst gegen Mitternacht. Angeblich war sie spazieren. Sie hatte also die Möglichkeit, und sie hatte gleich mehrere Motive: Sie ist eine Abgesandte des Ministeriums, verehrt Hermine und kann uns nicht leiden…“
„Richtig“, sagte Roy. „Und deshalb ist es so seltsam, dass sie den Zeitungsschmierern auch deinen Namen genannt haben muss. Sie hätte ihn auch verschweigen können.“
„Aber mal ehrlich, Roy…“ Albus schüttelte den Kopf. „Diese nette, weichherzige Frau soll heimlich eine so schmutzige Intrigantin sein?“
„Vor allem“, gab Orpheus zu bedenken, „wo es doch immerhin naheliegt, dass die Person, die die Presse informiert hat, dieselbe ist, die auch den Schockzauber ausgeführt hat. Und das traue ich Richardson beim besten Willen nicht zu. Die ist überhaupt nicht gewalttätig und außerdem so muggelfreundlich, wie ich noch niemanden erlebt habe.“
„Der Informant und der Attentäter können, müssen aber nicht identisch sein“, wandte Roy ein. „Als Informantin ist Richardson die Hauptverdächtige, und wenn ich darüber nachdenke, ist es gar nicht so merkwürdig, dass sie Albus‘ Namen preisgegeben hat. Damit schadet sie ja nicht dir, Albus, sondern Harry, und das dürfte durchaus im Sinne der Ministerin sein, sonst hätte der Tagesprophet die Information unter den Tisch fallen lassen.“
„Der Witz ist“, bemerkte nun Harry, „dass Hermine mit ihrer Paranoia sogar richtigliegt. Sie kann unmöglich wissen, dass ich etwas gegen sie im Schilde führe, aber sie geht trotzdem davon aus und benutzt die erste Gelegenheit, mir zu schaden. Der Tagesprophet hätte sich nicht getraut, meinen Namen ins Spiel zu bringen, wenn Northwood nicht wüsste, dass er dafür ihre Rückendeckung hat. Außerdem hat es in den letzten Tagen mehrere Versuche gegeben, die Schutzzauber zu durchbrechen, die wir auf unser Haus gelegt haben, und diese Versuche waren ziemlich raffiniert. Ich nehme an, dass Cesar, und das heißt Hermine, dahintersteckt.“
„Und nun, wo bekannt ist, dass dein Sohn einer von uns ist, wird sie den Verdacht hegen, dass zwischen dir und uns eine Verbindung besteht, und wieder liegt sie mit ihrer Paranoia richtig“, sagte Ares. „Sie wird sich wahrscheinlich etwas einfallen lassen, um möglichst uns Alle aus dem Verkehr zu ziehen. Wir sollten mit unseren Plänen nicht mehr lange warten. Ich weiß, Jeder soll nur so viel wissen, wie er wissen muss, trotzdem: Roy, bleibt es bei Januar?“
Roy nickte. „Was mich angeht, ja. Es gibt noch ein paar Probleme zu lösen, aber der Zeitplan dürfte dadurch kaum durcheinanderkommen. Beschleunigen kann ich ihn allerdings wahrscheinlich auch nicht.“
„Auch von meiner Seite bleibt es bei Januar“, bestätigte Harry.
„Also noch gut zwei Monate. Verdammt lang, wenn das Ministerium einen vor der Flinte hat“, sagte Ares düster. „Zumal wir bedenken müssen, dass sie einen, wahrscheinlich aber zwei Agenten in Hogwarts hat: Richardson und den, der Bancroft geschockt hat.“
„Vermutlich ein Amasi-Agent“, sagte Harry, „der fähig ist, unbemerkt in Hogwarts ein- und auszugehen.“
„Was könnte ihr nächster Schritt sein“, überlegte Roy, „wenn wir davon ausgehen, dass sie uns Alle ausschalten will?“
„Vermutlich ein neuer, noch heftigerer Anschlag“, meinte Harry, „der ihr die Handhabe gibt, McGonagall abzulösen, und den sie nach Möglichkeit euch in die Schuhe schieben wird. Da wir ihr mit unserem Plan nicht zuvorkommen können, müssen wir ihren vereiteln.“
Harry sah auf die Uhr. „McGonagall hat mich zu einem Gespräch mit Barclay gebeten, vielleicht sehen wir dann klarer, was zu tun ist. Wir sehen uns wie gewohnt morgen Abend zur DA-Stunde.“
McGonagall und Barclay saßen schon beisammen, als Harry das Büro der Schulleiterin betrat.
„Entschuldigen Sie bitte, ich wurde aufgehalten“, sagte er, drückte beiden die Hand und nickte dem Portrait Dumbledores zu, der freundlich zurücknickte.
„Kein Problem, Sie haben noch nichts versäumt“, erwiderte McGonagall gnädig. „Und da wir nun zwei geschulte Auroren hier haben, bitte ich Sie um Vorschläge, wie wir den Täter überführen, und zwar bevor er den nächsten Anschlag begeht.“
„Eigentlich soll ich gar nicht ermitteln“, sagte Barclay. „Susan Bones hat mir heute eine bitterböse Eule geschickt und mich angewiesen, in Zukunft bei Vorkommnissen dieser Art nichts zu unternehmen und sofort die Auroren zu alarmieren. Wahrscheinlich will sie dann mit einer Hundertschaft hier einfallen.“
„Susan hat Ihnen keine Anweisungen zu geben“, erwiderte McGonagall, „solange Sie vom Aurorendienst freigestellt sind. Da Sie Lehrer in Hogwarts sind, gibt es nur eine Person, die Ihnen gegenüber weisungsbefugt ist, und das bin ich.“
„Ich weiß“, stimmte Barclay zu, „und ich fühle mich auch nicht daran gebunden. Ich wollte nur darauf hinweisen, wie erpicht das Ministerium offenbar darauf ist, in Hogwarts den Fuß in die Tür zu bekommen.“
Harry horchte auf. Barclay war normalerweise der Inbegriff eines loyalen Beamten. Dass er so kritisch über das Ministerium sprach, war neu und zeigte, wie sehr Hermine bereits ihre besten Leute gegen sich aufgebracht hatte. Er beschloss, auf den Busch zu klopfen:
„Gracchus, halten Sie es für möglich“, fragte er vorsichtig, „dass der Täter im Auftrag des Ministeriums handeln könnte?“
„Im Auftrag Hermines, Susans oder Cesars?“, fragte Barclay und zog die Augenbrauen hoch. „Noch vor einem halben Jahr hätten wir beide uns bei der bloßen Vorstellung totgelacht. Inzwischen aber… nun ja, möglich wäre es.“
Einen Moment herrschte Stille, dann fuhr Barclay fort:
„Zumindest die Person, die den Tagespropheten unterrichtet hat, handelt mit ziemlicher Sicherheit im Auftrag des Ministeriums.“
„Und diese Person ist?“, fragte Harry, der nicht verraten wollte, wie viel er bereits wusste.
„Richardson“, sagte Barclay ruhig und nannte genau die Indizien, die Harry schon mit den Unbestechlichen besprochen hatte.
„Die Frage ist aber“, sagte Harry, „ob sie auch die Attentäterin ist. Eigentlich glaubt wohl niemand, dass sie dazu fähig ist, es sei denn…“ Harry machte eine Kunstpause, um Barclay Gelegenheit zu geben, den Gedanken zu ergänzen:
„Es sei denn“, nahm dieser den Ball auf, „sie stünde unter dem Imperiusfluch.“
„Das müsste sich aber doch herausfinden lassen“, warf McGonagall ein.
„Gewiss“, bestätigte Harry, „aber nicht, ohne dass der Betroffene es merkt, und die nötigen Zauber dürfen nur von Auroren im Dienst – also nicht von Gracchus oder mir – eingesetzt werden. Dabei benötigen auch die aktiven Auroren die ausdrückliche Genehmigung der Abteilungsleiterin. Wer es unbefugt tut, handelt sich mehrere Jahre Askaban ein, ebenso wie der, der unbefugt Veritaserum einsetzt. Natürlich könnte man es trotzdem tun und anschließend Richardsons Gedächtnis löschen…“
Barclay räusperte sich vernehmlich. „Ich gehe davon aus, Harry, dass dies rein theoretische Überlegungen sind“, sagte er mit Nachdruck. So kritisch er dem Ministerium gegenüberstand, er war nun einmal ein korrekter Beamter. Er würde jeden verhaften, der gegen das Gesetz verstieß, notfalls auch die Ministerin, aber selbst würde er niemals etwas Verbotenes tun.
„Selbstverständlich“, erwiderte Harry. „Ich wollte nur Professor McGonagall auf unseren Wissensstand bringen.“
„Natürlich, Harry, das sollte auch kein Misstrauen sein, ich weiß, was für ein korrekter Mensch Sie sind.“
Harry grinste in sich hinein: In demselben Moment, in dem Gracchus seine Korrektheit lobte, waren seine Frau und sein Sohn damit beschäftigt, im selben Gebäude das Versteck für die Entführung der Zaubereiministerin vorzubereiten.
„Das mit dem Imperius halte ich für plausibel“, sagte Barclay. „Ich stelle schon seit einiger Zeit fest, dass sie so merkwürdig beschwingt wirkt. Das kann natürlich verschiedene Ursachen haben – sie könnte verliebt sein oder irgendwelche Zaubertränke nehmen. Es könnte aber auch ein Hinweis auf den Imperius sein, und das scheint mir im Licht der neuesten Ereignisse das Wahrscheinlichste.“
„Erstens Richardson im Auge behalten“, antwortete Harry, „zweitens die Schutzzauber um Hogwarts verstärken, damit ein Unbefugter auch dann nicht eindringen kann, wenn er zufällig Auror ist…“
„Da gibt es allerdings noch einige Sicherheitslücken“, bestätigte Barclay.
„Die Sie schließen werden.“ Harry hatte einen Moment vergessen, dass er nicht mehr Barclays Vorgesetzter war. „Drittens im Unterricht verstärkt Selbstverteidigungszauber behandeln, auch in den unteren Klassen, selbst wenn es nicht im Lehrplan steht“, fuhr Harry fort, und Barclay nickte.
„Viertens dafür sorgen, dass muggelstämmige Schüler immer in Begleitung sind, und fünftens einen Streifendienst aus verlässlichen Schülern einrichten.“
„Ob das viel bringt?“, meinte Barclay zweifelnd. „Der Täter dürfte sich unter dem Schutz eines Unsichtbarkeitszaubers bewegen, und es wird nicht viel bringen, aufs Geratewohl Disinvisibilis-Zauber durch die Gegend zu feuern.“
„Das ist richtig“, meinte Harry, „aber lassen Sie sich einmal von MacAllister dessen Calorate-Zauber zeigen, der macht automatisch Jeden sichtbar, sogar wenn er einen Tarnumhang trägt. Zu dem wenigen, was wir über unseren Täter mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen können, gehört eben, dass er sich unsichtbar macht, sodass Jeder, der dabei erwischt wird, automatisch verdächtig ist. Was den Kreis der Verdächtigen erheblich einschränken dürfte. Ich würde auch nur die Streifengänger selbst einweihen, unser Täter braucht nicht davor gewarnt zu werden, dass er für sie sichtbar ist.“
„Professor McGonagall?“ Barclay warf der Schulleiterin einen fragenden Blick zu.
„Gracchus, ich beauftrage Sie, die nötigen Maßnahmen einzuleiten. Machen Sie es genau so, wie Harry gesagt hat – es sei denn, Sie haben Einwände oder zusätzliche Vorschläge.“
„Keine Einwände, keine Vorschläge“, erwiderte Barclay.
„Gut“, sagte McGonagall und erhob sich. Die beiden Männer taten dasselbe. „Dann bleibt mit nur, Ihnen noch einen schönen Abend zu wünschen. Und, Harry, grüßen Sie Ginny von mir.“
Nachdem sie das Büro verlassen hatten, blieben sie noch kurz stehen.
„Ihr Jüngster macht sich, Harry. Er hat mich gestern beeindruckt.“
„O ja. Sogar für einen Erwachsenen, auch und gerade wenn er unschuldig ist, ist es unangenehm, als Verdächtiger einem Auror beim Verhör gegenüberzusitzen, erst recht für einen gerade einmal Elfjährigen. Albus hat die Situation ausgesprochen souverän gemeistert – höflich, sachlich, selbstbewusst, intelligent. Und bei den Zaubern, die er jetzt schon beherrscht, sollten Sie ihn schon einmal für die Aurorenabteilung vormerken.“
„Würde ich gerne“, sagte Harry, „ich glaube, die meisten Väter freuen sich, wenn ein Sohn in ihre Fußstapfen tritt. Aber unter Hermine könnte ich ihm das nicht empfehlen.“
„Nun ja“, versuchte Barclay zu abzuwiegeln, „Hermine wird ja nicht ewig an der Macht bleiben.“
„Ich fürchte, sie wird nicht ewig brauchen, Gracchus. Ein paar Jahre noch, wenn überhaupt, dann brauchen wir uns über eine Aurorenkarriere für Albus schon deshalb keine Gedanken mehr zu machen, weil es dann keinen Magischen Staat mehr geben wird.“
Barclay sah ihn betroffen an. „So schlimm wird es schon nicht kommen. Sie sollten sich Ihre Suspendierung nicht so zu Herzen nehmen, es kommen auch wieder bessere Tage.“
„Vielleicht haben Sie recht“, lenkte Harry ein. Er wollte Barclay nicht mit der Nase darauf stoßen, dass sein ehemaliger Vorgesetzter heute zu den erbittertsten Gegnern von Hermines Politik gehörte. „Na, dann mache ich mich mal auf den Heimweg.“
„Ich vermute, Sie finden selber hinaus?“, meinte Barclay grinsend.
Sie gingen in verschiedene Richtungen davon. Als Harry Barclays Schritte verklingen hörte, blieb er stehen und dachte nach.
Es gibt ein paar einfache Grundregeln, rief Harry sich seine lang zurückliegende Ausbildung unter Cesar und dessen Stimme ins Gedächtnis. Stets die Kontrolle und die Initiative behalten. Dem Gegner immer eine Nasenlänge voraus sein. Sich nicht überraschen lassen. Gefahrenherde ausschalten.
Harry grinste grimmig. Tja, Cesar, dann wenden wir deine Prinzipien jetzt gegen dich. Du wirst dich wundern, was ich bei dir alles gelernt habe.
Er grübelte noch einige Minuten, dann machte er sich unsichtbar und lenkte seine Schritte zügig in den zweiten Stock. Er wusste jetzt, was er zu tun hatte.
Unterdessen waren Ginny und Albus mit Feuereifer dabei, die ehemalige Kammer des Schreckens in eine Fünf-Sterne-Luxusunterkunft zu verwandeln. Ginny hatte alles, was sie brauchten, im Miniaturformat mitgebracht. Zunächst richteten sie das Schlafzimmer ein.
Albus staunte nicht schlecht, als seine Mutter das für Hermine vorgesehene Bett vergrößerte. „Mama, das ist ja ein Wolkenbett!“
In der Tat hatte die Matratze die Gestalt einer prachtvollen Wolke, und genauso fühlte sie sich auch an, als Albus sich mit Schwung darauf warf und einen Moment mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken liegenblieb, um das selige Gefühl des Schwebens zu genießen. Dann richtete er sich auf:
„Hast du das selbst gezaubert?“
Ginny lachte. „So etwas kann man nicht einfach zaubern, man muss es schon kaufen.“
„Boaaah, das muss ja ein kleines Vermögen gekostet haben!“
„Hat es auch, aber wir sind glücklicherweise nicht arm. Hermine ist es uns wert.“
„Meine Güte, von uns möchte ich auch einmal entführt werden!“
Dann vergrößerte Ginny den Schmink- und Toilettentisch im Rokokostil und bestückte ihn mit allem, was man als Frau so braucht, unter anderem mit Hermines Lieblingsparfums, die sie als ihre beste Freundin genau kannte.
Als Nächstes kamen Bilder an die Reihe. Es dauerte eine ganze Weile, bis Ginny und Albus all die vielen Bilder vergrößert und, geschützt durch einen Unzerstörbarkeits- und Dauerklebezauber, an der Wand befestigt hatten, die Hermine an glückliche Tage erinnern sollten: Bilder aus ihrer Hogwarts-Zeit, Bilder von ihrer Hochzeit mit Ron, Bilder von Familienfesten und Weihnachtsfeiern…
„Du weißt, warum wir das machen?“, fragte sie zwischendurch ihren Sohn.
„Um ihrer Seele Kraft zu geben, dem Eindringling zu widerstehen. Papa sagt, sie soll spüren, dass sie geliebt wird.“
Ginny nickte, und in ihren Augen glitzerte es verdächtig, als ihr Blick an einem Bild von ihr und Hermine hängenblieb, das am Tag von Bills Hochzeit aufgenommen worden war. Harry hatte sich kurz zuvor von ihr getrennt, um Voldemort zu jagen, und Hermine war diejenige gewesen, die ihr Mut und Trost zugesprochen hatte. Wie lang das alles schon her war…
„Warum stellt ihr Hermine nicht gleich ein Denkarium hin? Das wäre noch wirkungsvoller als Bilder. Wir könnten alle unsere schönen Erinnerungen, die wir mit ihr geteilt haben, darin versenken. Ich glaube nicht, dass sie der Versuchung widerstehen kann, darin einzutauchen.“
Ginny nahm ihren Sohn in die Arme und drückte ihn fest an sich. Da niemand zusah, ließ er es sich gern gefallen. „Das ist eine hervorragende Idee, das machen wir!“
Das Badezimmer wurde unter Ginnys Zauberhänden zu einem Traum aus Gold und Marmor. Die Küche war klein, Hermine kochte nicht gerne, daher hatten sie beschlossen, sie mit fertig zubereiteten Mahlzeiten zu versorgen, die mit einem Frischhaltezauber konserviert waren. Zum Schluss kam das Wohnzimmer an die Reihe.
Wenn es etwas gab, was Hermine unbedingt brauchte, um sich wohlzufühlen, so waren es Bücher, und zwar viele. Obwohl sie nur Puppenhausformat hatten, türmten sich die Bücher, die Ginny aus ihrer Endlostasche auf den Boden schüttete, zu einem beachtlichen Hügel, und es dauerte wieder eine ganze Weile, all die Bücher zu vergrößern und ins Regal zu zaubern. Als sie fast damit fertig waren, hörten sie Schritte. Sie zückten vorsorglich ihre Zauberstäbe.
„Ich bin’s nur“, rief Harry, bevor er wie angewurzelt stehenblieb. „Wow! Eine Königin könnte nicht schöner wohnen!“
„Hast du etwa etwas Anderes erwartet?“, fragte Ginny scherzhaft gekränkt und führte ihn ganz im Stil einer stolzen Schlossherrin durch die Räume.
„Übrigens hat dein Sohn eine phantastische Idee!“ Sie erläuterte ihm Albus‘ Einfall mit dem Denkarium. Auch Harry war sofort begeistert.
„Denkarien sind zwar schwer zu bekommen, aber ich habe ganz gute Beziehungen. Jetzt aber etwas Anderes: Albus, ich bin hier heruntergekommen, weil ich dich noch erwischen wollte, bevor du schlafengehst. Ich brauche heute den Tarnumhang und die Karte des Rumtreibers. Ich werde beide nachher im Geheimraum zurücklassen, bevor wir disapparieren.“
„Kein Problem“, sagte Albus, „um zum Slytherin-Gemeinschaftsraum zurückzukehren, genügt mir ein Unsichtbarkeitszauber.“
„Wozu brauchst du den Tarnumhang?“, wollte Ginny wissen. „Reicht für dich nicht auch ein Unsichtbarkeitszauber?“
„In diesem Fall nicht. Ich möchte ausschließen, dass man mich mit Disinvisibilis sichtbar machen kann.“
„Ich erkläre es dir später“, sagte Harry. „Wenn du willst, kannst du schon einmal disapparieren.“
„Will ich aber nicht. Ich warte im Geheimraum auf dich.“
Sie vergewisserten sich anhand der Karte des Rumtreibers, dass oben die Luft rein war und flogen mit Ginnys und Albus‘ Besen nach oben, wobei Albus hinter seiner Mutter Platz nahm und seinem Vater seinen Besen überließ. Während Ginny zum Geheimraum ging und Albus spaßeshalber auf dem Besen zu den Slytherin-Räumen flog, machte sich Harry unter dem Tarnumhang auf den Weg zur Dienstwohnung der Muggelkundelehrerin.
Es war kurz vor elf, als er an die Tür klopfte. Er wartete.
„Wer ist da?“, rief schließlich eine weibliche Stimme von drinnen.
„Ich bin’s, Gracchus.“ rief Harry. Seine Stimmlage ähnelte der von Barclay. Durch eine geschlossene Tür konnte man den Unterschied nicht wahrnehmen. „Entschuldigen Sie die späte Störung, aber es ist wichtig.“
Einen Moment später stand Richardson ihm im Morgenmantel mit dem Zauberstab in der Hand gegenüber. „Hallo?“, fragte sie verwirrt, da sie niemanden sah.
„Expelliarmus!“, flüsterte Harry unter seinem Umhang. Meredith wurde von den Füßen gerissen, ihr Zauberstab flog durch die Luft und kullerte über den Boden.
„Silencio!“, sagte er, bevor sie schreien konnte, und „Impedimenta!“, machte sie bewegungsunfähig. Harry schleppte die Lehrerin in deren Wohnung, schloss die Tür hinter sich und legte sie aufs Sofa.
Zunächst hob er den Lähmzauber wieder auf und befahl gleich darauf: „Imperio!“
Harry hasste den Imperiusfluch. Der Imperius gehörte bereits zur Schwarzen Magie, einer Art von Magie, die an der Seele dessen frisst, der sie anwendet. Das berauschende Gefühl von Macht, das damit verbunden ist, kann süchtig machen wie eine Droge. Wer ihr verfällt, verliert seine Seele Schritt für Schritt an das Böse. Das war der Grund, warum Harry sich geweigert hatte, den Unbestechlichen den Imperius beizubringen. Als Auror hatte er ihn bisweilen anwenden oder seine Anwendung anordnen müssen, aber die Auroren waren intensiv darin geschult worden, ihre Seele gegen das Rauschgefühl zu verschließen. Dennoch hatte Harry stets darauf geachtet, nicht zweimal hintereinander denselben Auror damit zu beauftragen. Heute hatte er allerdings keine Wahl. Er musste zunächst herausfinden, ob Richardson im Bann des Fluchs stand.
Wird dieselbe Person mit zwei Imperiusflüchen belegt, so bleibt der zeitlich erste bestehen, während der zweite wirkungslos verpufft. Das Verfahren, mit dem Auroren herausfinden, ob jemand unter dem Imperius steht, ist daher, ihn zunächst mit einem zweiten Imperius zu belegen. Misslingt es, so steht der Betreffende mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits unter dem Fluch.
„Wer sind Sie? Wo sind Sie? Was fällt Ihnen ein?“, empörte sich Richardson, während sie sich aufrappelte.
„Ich denke ja gar nicht dran!“, schrie Richardson und sah sich nach ihrem Zauberstab um.
„Impedimenta!“, kommandierte Harry, und die Lehrerin kippte gelähmt wieder hinterrücks aufs Sofa.
Das Wichtigste wusste er nun: dass Richardson tatsächlich unter dem Imperiusfluch stand. Die beiden anderen Fragen lauteten, wer sie verhext hatte, und ob sie die Urheberin der Angriffe auf die muggelstämmigen Schüler war.
Er beugte sich über die steif daliegende Lehrerin und sah ihr fest in die Augen, um in ihre Gedanken und Erinnerungen einzudringen. Legilimentik, eine für das Opfer besonders entwürdigende Methode, gehörte zu den Disziplinen, gegen die er immer einen gesunden Widerwillen gehabt hatte. Im Ministerium galt er als – wenn auch erfolgreicher – Softie, weil er immer versuchte, mit den mildesten Mitteln zum Ziel zu kommen. Wenn es aber nötig war – so wie heute – konnte auch Harry brutal vorgehen. Besonders gut war er nicht in Legilimentik, aber für Richardson, die nie in Okklumentik ausgebildet worden war, würde es reichen.
Er ließ ihre Erinnerungen der letzten Monate wie einen schnell vorlaufenden Film an sich vorbeiziehen: ihre Ankunft in Hogwarts, das Festessen, die Unterrichtsstunden, den Ärger über Roy, die immer wiederkehrenden Tagesabläufe… Plötzlich stoppte er, ging einen Moment zurück. Richardson sitzt beim Frühstück, die Eulen bringen die Post, plötzlich werden die Erinnerungen unscharf, dann wieder ganz klar. Dieser Moment war durch einen Gedächtniszauber gelöscht worden. Harry ließ den Erinnerungsfilm etwas langsamer weiterlaufen: Um die Mittagszeit verlässt Richardson das Schulgelände – und wieder ein Filmriss. Ungefähr eine Stunde ihrer Erinnerungen fehlt. Dann steht sie wieder vor dem Hogwarts-Portal und geht hinein.
Harry verfolgte die Erinnerungen Tag für Tag. Da! Richardson macht sich unsichtbar, streift durch die Gänge, ein Schüler taucht auf, Harry hört sie sagen „Petrificus totalus!“, und als der Schüler umfällt, geht sie zurück in ihre Dienstwohnung und macht sich wieder sichtbar. Das Gleiche geschieht im Abstand von jeweils wenigen Tagen noch zwei Mal. Wieder ein paar Tage später, es muss Abend sein: Wieder ist Richardson unsichtbar, ein Schüler geht durch einen der Hogwarts-Gänge, Harry sieht einen ein roten Blitz von Richardson ausgehen – das ist der Schockzauber. Harry sieht die Lehrerin mit ihren Kollegen zusammen Zauberstäbe prüfen. Als sie fertig ist, steht sie auf, verlässt das Schulgelände, und appariert in der Redaktion des Tagespropheten…
Harry hatte genug gesehen. Der einstündige Filmriss musste die gelöschte Erinnerung an den Imperiusfluch enthalten. Und dieser Fluch konnte nicht von Cesar Anderson stammen. Ein Profi wie Cesar hätte nicht nur den Moment des Imperiusfluchs mit einem Gedächtniszauber gelöscht, sondern ihn durch eine alternative Erinnerung ersetzt und auch dafür gesorgt, dass alle Erinnerungen an die unter dem Imperius begangenen Taten beim Versuch des Eindringens sofort gelöscht worden wären. Hermine – nur sie konnte es praktisch gewesen sein – hatte den Imperiusfluch und den Gedächtniszauber zwar so virtuos gehandhabt, dass man ihr nichts nachweisen konnte, aber den Kniff mit der konditionierten Gedächtnislöschung konnte sie nicht kennen, er gehörte zur Trickkiste der Auroren und ihrer fähigsten Widersacher. Interessant, dass sie nicht Cesar beauftragt hatte. Nicht einmal er genoss ihr uneingeschränktes Vertrauen…
„Antimperi!“, sprach er nun die Anti-Imperius-Formel, mit der er Hermines Imperiusfluch aufhob, und gleich darauf wieder:
„Imperio! Sie werden sich jetzt ruhig verhalten, wenn ich den Lähmzauber aufhebe.“
Er schwang seinen Zauberstab, Richardson setzte sich auf.
„Dieser Imperiusfluch gilt, von jetzt an gerechnet, für sechs Monate, dann endet er automatisch. Falls Sie ins Ministerium zitiert werden, gehen Sie hin. Sollte die Zaubereiministerin oder Cesar Anderson Ihnen neue Befehle geben, ohne einen neuen Imperiusfluch auszusprechen, so werden Sie in ihrer Gegenwart so tun, als würden Sie ihnen gehorchen, aber sonst die Befehle ignorieren. Sie werden Roy MacAllister berichten, was ihnen befohlen wurde und wer es befohlen hat. Anschließend vergessen Sie, dass und wem Sie es berichtet haben. Sollten die Ministerin oder Anderson versuchen, Sie mit einem neuen Imperiusfluch zu belegen, werden sie ihnen nicht gehorchen und auch nicht so tun. Haben Sie mich verstanden?“ Richardson nickte. „Haben Sie schon im Bett gelegen, als ich an Ihre Tür geklopft habe?“
„Ja“, sagte Richardson.
„Gut“, sagte Harry. „Mit dem folgenden Amnesia-Zauber verschwindet alles aus Ihrem Gedächtnis, was geschehen ist, von dem Moment an, wo Sie sich vorhin schlafengelegt haben, bis zum Aufwachen morgen früh. Wenn ich diesen Zauber gesprochen haben, legen Sie sich wieder schlafen.“
Richardson nickte, noch immer benommen.
„Amnesia!“
Wie in Trance stand Richardson auf und ging in ihr Schlafzimmer. Harry hörte ihr Bett knarren, als sie sich hinlegte. Er warf einen prüfenden Blick auf die Karte des Rumtreibers und verließ, immer noch unter dem Tarnumhang, die Lehrerwohnung.
Während er zum Geheimraum der Unbestechlichen ging, um mit Ginny zu disapparieren, atmete er auf. Morgen würde er den Unbestechlichen sagen, dass von Richardson keine Gefahr mehr ausging, ihnen aber trotzdem empfehlen, Barclays Sicherheitsmaßnehmen zu unterstützen, für den Fall, dass doch noch ein weiterer Ministeriumsagent sein Unwesen trieb.
Alles hatte wie am Schnürchen geklappt. Barclay würde keine Verhaltensänderung an Meredith Richardson bemerken, ihn also auch nicht verdächtigen, genau das getan zu haben, was er noch vor einer Stunde als bloß theoretische Möglichkeit abgetan hatte. Hermine würde nicht feststellen können, dass der Imperiusfluch, unter dem Richardson nun stand, nicht mehr ihr eigener war. Falls sie neue Befehle erteilte, würde sie nicht sofort mitbekommen, dass sie nicht ausgeführt wurden. Um zu bemerken, dass ihre Marionette nicht mehr funktionierte, würde sie eine Weile brauchen, mindestens zwei Monate…