21 – Tötet die Schlammblüter

 

Am nächsten Morgen wurde Albus, der ohnehin nur wenig und schlecht geschlafen hatte, schon sehr früh und unsanft durch Roys laute Rufe geweckt.

„Alles sofort aufstehen und in den Gemeinschaftsraum! Beeilung!“

Die Erstklässler blinzelten einander schlaftrunken an, dann zogen sie sich das Erstbeste über, was sie finden konnten, und schlurften in den Gemeinschaftsraum, wo ihr Hauslehrer Professor Charles Whiteman mit unheilkündender Miene auf sie wartete. Dass ein Hauslehrer den Gemeinschaftsraum aufsuchte, war äußerst ungewöhnlich, da musste etwas Schlimmes passiert sein.

An Whiteman war alles – vom Scheitel bis zur Dienstauffassung – vor allem eines: korrekt. Er war von allen Bewohnern Hogwarts‘ der erste, der morgens aufstand, weil er fand, ein Lehrer, und vor allem ein Hauslehrer, müsse seinen Schülern in jeder Hinsicht ein Vorbild sein, und er war jeden Abend der letzte Lehrer, in dessen Büro das Licht erlosch. So wünschte er sich auch seine Schüler: pflichtbewusst, diszipliniert, loyal.

Als alle im Gemeinschaftsraum standen – manche im Bademantel, manche mit hastig über den Pyjama gezogenem Umhang, alle mit zerzausten Haaren und kleinen Augen –, legte er los:

„Heute Nacht“, donnerte er und ließ eine drohende Kunstpause folgen, „wurde in dem Gang, der zu diesem Gemeinschaftsraum führt, die Parole ‚Tötet die Schlammblüter!‘ an die Wand gezaubert, und dazu – ich wage es kaum auszusprechen! – das Dunkle Mal, das Emblem der Todesser! Wer von Ihnen hat dazu etwas zu sagen?“

Niemand hatte etwas zu sagen. Die Schüler sahen einander bestürzt an. Nur Albus blickte zu Boden.

„Nun?“, rief Whiteman.

„Verzeihung, Herr Professor“, antwortete Roy. „Wie kommen Sie darauf, dass einer von uns etwas damit zu tun haben soll?“

„Liegt das nicht auf der Hand, MacAllister?“

„Keineswegs“, meinte Roy, „ich halte es im Gegenteil für völlig abwegig, dass irgendjemand in diesem Raum bescheuert genug sein soll, der Hetze des Ministeriums und seiner Presse eine solche Steilvorlage zu liefern! Wer immer das war, wollte der Propaganda des Ministeriums nützen und Slytherin schaden. Ich würde den Täter am ehesten unter den Gryffindors suchen.“

Whiteman sah ihn indigniert an. Roy MacAllister war einer der besten Schüler, die er je gehabt hatte, und Whiteman war fair – er würde sagen: korrekt – genug, seine Leistungen anzuerkennen. Im Übrigen aber verkörperte er alles, was Whiteman hasste: Er war aufsässig, querköpfig und schlecht erzogen. Ein Prolet. Ein Rebell.

„Wenn Sie und Ihre Freunde beim Ministerium und bei der Presse schlecht angeschrieben sind, MacAllister, dann hat das wohl vor allem etwas mit Ihnen selbst zu tun!“

„Bestimmt“, entgegnete Roy. „Es wäre mir geradezu peinlich, wenn es nichts mit mir zu tun hätte.“

Durch die Schülerschar lief ein Glucksen, das Whiteman noch mehr erboste. „Nur ändert das nichts an dem Sachverhalt, dass niemand von uns ein Interesse daran hat, Slytherin durch idiotische Parolen zu kompromittieren, Andere dieses Interesse aber sehr wohl haben.“

„Ich muss MacAllister recht geben“, meldete sich nun Patricia zu Wort. „Mit Verlaub, Herr Professor, aber es ist meines Erachtens ganz unwahrscheinlich, dass es ein Slytherin gewesen sein soll. Und solange es keinen Beweis gibt, müssen wir uns derartige Anschuldigungen in aller Form verbitten. Ich bitte Sie als unseren Hauslehrer, uns dagegen in Schutz zu nehmen.“

Whitemans Miene wurde noch missbilligender – vor allem, als er sah, dass MacAllister sie fast zärtlich anlächelte und Patricia ihre schönen Augen einen Moment zurückstrahlen ließ. Patricia Higrave war immer seine Lieblingsschülerin gewesen – ehrgeizig, fleißig, loyal und aus gutem Hause. Schon ihr Auftritt beim Unterrichtsboykott hatte ihn schockiert. Und nun widersprach sie schon wieder ihrem Hauslehrer! Sie stand entschieden unter schlechtem Einfluss. Higrave und MacAllister – was für eine Mésalliance!

Andererseits musste er zugeben, dass Sie nicht Unrecht hatte.

„Sie können sicher sein, Miss Higrave, dass ich mir meiner Verpflichtungen dem Haus gegenüber bewusst bin. Sollte einer meiner Kollegen Slytherin beschuldigen, so werde ich genau das verlangen, was Sie eben verlangt haben, nämlich einen Beweis. Das gilt nach außen. Es setzt aber voraus, dass ich meine Pflicht getan und intern alles unternommen habe, um einen eventuellen Täter aus Ihren Reihen zu überführen. Sollte es einer von Ihnen gewesen sein“, rief er mit noch energischerer Stimme, „so hat er jetzt die letzte Chance, sich zu offenbaren. Wenn er es jetzt tut – aber nur dann! – werde ich mich dafür einsetzen, dass er trotz seiner Tat nicht der Schule verwiesen wird. – Nun?“

Niemand rührte sich.

„Gut“, sagte Whiteman, „gehen wir also bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, dass der Täter außerhalb von Slytherin zu suchen ist. Ich wünsche Ihnen allen einen guten Tag.“ Sprach’s, machte kehrt und verschwand durch den Ausgang des Gemeinschaftsraums.

Während sie zum Frühstück gingen, raunte Scorpius Albus zu: „Du könntest eigentlich beweisen, dass es keiner von uns war.“

„Wie denn?“

„Du kannst doch die Schlange fragen, sie muss doch wissen, wer gestern Nacht rein- und rausgegangen ist!“ Scorpius schien ganz begeistert von seiner Idee, er redete so laut, dass Albus ihn mit einem „Psssst!“, daran erinnern musste, dass seine Parselkenntnisse ein Geheimnis waren.

„Damit würde ich gar nichts beweisen, denn da außer mir keiner Parsel spricht, kann niemand meine Übersetzung überprüfen, aber ich hätte verraten, dass ich Parsel kann.“

Unterwegs stellten sie fest, dass nicht nur in ihrem Gang, sondern auf dem ganzen Weg bis zur Eingangshalle Todesserparolen und Dunkle Male an die Wand geschmiert worden waren.

Die Große Halle summte nur so vor aufgeregten Diskussionen.

Während Gryffindors und Slytherins, fest davon überzeugt, der Schmierer stamme aus dem jeweils anderen Haus, sich am Eingang hitzige Redeschlachten lieferten, um sich dann auf ihre Haustische zu verteilen, hatte bei den Ravenclaws und Hufflepuffs die britische Wettleidenschaft Hochkonjunktur: „Eine Galleone, dass es ein Slytherin war!“, – „Ich halte dagegen!“

Als Albus die Halle betrat, warf er seinem Bruder, der schon am Gryffindor-Tisch Platz genommen hatte, einen scharfen Blick zu, den dieser aber ignorierte. Dafür stieß Albus mit Rose zusammen.

„Na?“, meinte sie anzüglich. „Meinst du immer noch, dass du im richtigen Haus bist?“

„Mehr denn je“, knurrte er. Rose schüttelte den Kopf und ließ ihn stehen.

„Ich glaube nicht, dass es ein Slytherin war“, hörte er einen Ravenclaw sich ereifern. „Von den Slytherins, die für so etwas in Frage kommen, traut sich das doch keiner, wenn die Unbestechlichen dagegen sind.“ – „Eben“, versetzte ein anderer, „wahrscheinlich war es genau einer von denen.“ – „Ich bitte dich, das ist doch überhaupt nicht MacAllisters Art.“ – „Wirst schon sehen!“

Albus setzte sich, aber das Frühstück wollte ihm nicht schmecken.

 

Am Abend fand die erste Ausbildungsstunde mit seinem Vater statt, die von den Unbestechlichen schon ganz selbstverständlich „DA-Stunde“ genannt wurde. Da McGonagall die Schutzzauber gegen das Apparieren für ihren Spezialraum aufgehoben hatte, übten sie unter Harrys und Ares‘ Anleitung eineinhalb Stunden lang. Gegen Ende schafften es fast alle, wenn auch nur auf einen Meter Distanz. Alle – bis auf Albus.

„Macht nichts.“ Ares, dem seine Rolle als Hilfsausbilder gefiel, klopfte ihm auf die Schulter. „Das kommt ganz von allein, du bist unser Jüngster, normalerweise lernt niemand in deinem Alter Apparieren, also denk dir nichts dabei.“ Und er wandte sich wieder Arabella zu, die am schnellsten gelernt hatte und gerade auf zwei Meter zu apparieren versuchte.

Nun nahm Harry seinen Sohn beiseite.

„Tut mir leid, Papa!“, sagte Albus.

„Unsinn, dir braucht nichts leid zu tun, Ares hat ganz recht. Ich habe nur das Gefühl, dass dich irgendetwas bedrückt und du deshalb unkonzentriert bist.“

Albus nickte traurig.

„Möchtest du mir sagen, was es ist?“

„Na ja, wegen Hermine – und…“ Albus stockte.

„Und?“

„Nichts weiter. Nur Hermine.“

Nun ergriff Harry beide Hände seines Sohnes, sah ihm fest ins Gesicht und sagte: „Wir holen uns unsere Hermine zurück, das verspreche ich dir! Deswegen sind wir ja hier.“

Albus nickte.

„Und im Übrigen“, setzte Harry eindringlich fort, „gibt es nichts, worüber du mit mir nicht reden kannst. Das weißt du?“

Natürlich wusste er es, aber es tat ihm gut, es noch einmal zu hören. Er lächelte. „Ich weiß es. Mach dir keine Sorgen!“

 

Der Dienstag begann fast wie der Montag. Nachdem Flitwick am Tag zuvor alle Schmierereien entfernt hatte, waren über Nacht neue aufgetaucht, und in der Großen Halle tobten erneut die Diskussionen, diesmal aber angeheizt vom Tagespropheten, der – man wusste nicht von wem – über die Vorfälle vom Vortag informiert worden war und hemmungslos vom Leder zog: gegen Slytherin, gegen McGonagall, gegen die angeblich zu lasche Haltung im Kampf gegen das Todessertum. Prantice forderte in einem wutschäumenden Kommentar offen ein Eingreifen des Ministeriums und die Ablösung der Schulleiterin.

Roy redete sich am Frühstückstisch gerade in Rage, als ihm plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippte. Es war Albus.

„Kann ich dich mal unter vier Augen sprechen?“

Roy, der nicht gerne unterbrochen wurde, brummte verdrossen: „Muss das jetzt gleich sein?“

„Ja, es ist wirklich wichtig, und es muss jetzt sein.“

Roy seufzte, ließ aber sein Frühstück stehen und stand auf. Beide verließen die Große Halle und suchten sich eine Ecke, in der sie ungestört und unbelauscht reden konnten.

„Was gibt’s denn?“

„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, hob Albus an, „ich konnte vorgestern Abend nicht einschlafen, du weißt, die ganze Sache mit Hermine und so. Na ja, jedenfalls habe ich dann irgendwann – das muss so gegen Mitternacht gewesen sein – die Karte des Rumtreibers herausgezogen, um mich abzulenken. Wollte nur aus Spaß mal sehen, wo die Vertrauensschüler und der Hausmeister nachts so herumgeistern. Da habe ich gesehen, wer es war. Er muss es gewesen sein, weil er immer dort anhielt, wo gestern diese Schmierereien zu sehen waren.“

„Und das sagst du erst jetzt?“, fragte Roy fassungslos. „Wer war es?“

„Das ist ja mein Problem. Ich habe Angst, dass derjenige von der Schule fliegt, wenn ich ihn verpetze.“

Roy runzelte zuerst die Stirn, dann warf er ihm einen langen, mitleidigen Blick zu. „James?“

Albus nickte. „Meinst du, er fliegt, wenn das herauskommt? Du hast neulich gesagt, in Hogwarts wird nichts so heiß gegessen wie gekocht…“

„Normalerweise ja, aber in diesem Fall… Er hat ja nicht nur diese Parolen geschmiert, sondern auch versucht, das Ganze Unschuldigen in die Schuhe zu schieben, und bei so etwas kann McGonagall zur Furie werden… Warum hast du deinem Vater nichts davon gesagt?“

„Unsere Eltern machen ihm die Hölle heiß, wenn das herauskommt, und ich bin dann für ihn wieder der lästige kleine Bruder, der ihn verpetzt hat. Ich hatte gehofft, er würde es bei dem einen Mal belassen und dann damit aufhören, sodass ich ihn nicht verpfeifen muss. Zu McGonagall kann ich auch nicht, ich will doch nicht daran schuld sein, dass mein eigener Bruder von der Schule geworfen wird! Ich habe auch überlegt, ihm zu sagen, dass ich es weiß, damit er aufhört. Dann müsste ich aber zugeben, dass ich die Karte des Rumtreibers habe, und das soll ich doch nicht. Was mache ich denn jetzt?“ Albus war wirklich verzweifelt.

„Zunächst schalten wir beide unseren kühlen Kopf ein“, sagte Roy und dachte nach. „Also: Herauskommen muss es! Es muss bekannt werden, dass es ein Gryffindor war, daran führt kein Weg vorbei! Wir müssen es nur so machen, dass du nicht in Erscheinung trittst und er nicht von der Schule fliegt. Das ist doch ungefähr das, was dir vorschwebt, oder?“

„Kriegst du das hin?“, fragte Albus hoffnungsvoll.

Roy grinste. „Vertrau mir.“

22 – James Potters schwärzeste Stunde

 

Accio Zauberstab!“

James fuhr herum und sah seinen Zauberstab, der ihm eben aus der Hand gerissen worden war, auf MacAllister zusegeln, der ihn mit einer lässigen Geste seiner linken Hand einfing, während er mit der rechten seinen eigenen Zauberstab fest auf James gerichtet hielt. James‚ Knie wurden weich, aber er riss sich zusammen.

Es war die Nacht von Dienstag auf Mittwoch, kurz nach halb eins.

„Hallo Potter“, begrüßte ihn MacAllister, als wären sie sich eben auf dem Schulhof begegnet.

„Hallo MacAllister“, knurrte James, fest entschlossen, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.

„‚Tod den Schlammblütern‘“, las MacAllister vor, was James eben an die Wand gezaubert hatte, „und dazu noch ein hübsches Todessermal. Da wird Tante Hermine aber entzückt sein!“, höhnte er.

„Das lass mein Problem sein.“

„Natürlich“, gluckste MacAllister, „und ich werde noch ganz andere Dinge dein Problem sein lassen, von denen deine Tante noch das geringste ist.“ Kopfschüttelnd betrachtete er noch einmal James‚ Scheißhausparole. „Die dritte Nacht hintereinander, während die ganze Schule nach dem Täter sucht! Nicht mal unsichtbar hast du dich gemacht! Mann, Potter, du hast vielleicht Nerven! Für deine Kaltschnäuzigkeit würde ich dich glatt bewundern, wenn sie einer besseren Sache dienen würde.“

„Für meine Sache brauche ich mich nicht zu schämen!“, rief James trotzig.

„Nein?“ Roy wog den Kopf. „Also, ich würde mich einer Sache schon schämen, die so wenig Wahrheit auf ihrer Seite hat, dass sie mit Lügen operieren muss. Aber das werden wir heute Nacht nicht ausdiskutieren. Jetzt gehen wir erst einmal zu deinem Hauslehrer.“

James musste vorausgehen, während Roy ihm mit gezogenem Zauberstab folgte. Es dauerte eine ganze Weile und bedurfte heftigen Klopfens, bevor Neville Longbottom schlaftrunken an der Tür seiner kleinen Dienstwohnung erschien.

„Was gibt es denn…“ begann er, dann sah er Roys Zauberstab, der auf den zu Boden blickenden James gerichtet war.

„Guten Morgen, Herr Professor, ich habe Potter eben dabei erwischt, wie er die Parole ‚Tod den Schlammblütern‘ und ein Todessermal an die Wand gezaubert hat.“

Neville starrte James an. „Du warst das?“, flüsterte er entgeistert. James starrte weiter zu Boden.

„Prüfen Sie es nach.“ Roy reichte Neville James‚ Zauberstab.

„Moment“, sagte Longbottom, verschwand in seiner Wohnung und kehrte nach zwei Minuten zurück. Er hatte sich hastig einen Umhang über den Pyjama gezogen, seine Füße steckten in Pantoffeln. Mit der Spitze seines eigenen Zauberstabes berührte er den von James. Dann stutzte er. „Äh… Prius inkatandem!“

Nichts geschah. Neville errötete.

„Primus impotentam!“ An James‚ Zauberstab rührte sich nichts.

„Prima incarnatio!“, rief Neville mit wachsender Verzweiflung. Roy presste fest die Lippen zusammen, um nicht loszuprusten, und sogar James, der richtig in der Tinte saß, hatte Mühe, ernst zu bleiben.

„Primela imbiscum!“

Roy, der allmählich fürchten musste, der Professor werde James‘ Zauberstab eher in einen Ziegenbock verwandeln als ihm seinen letzten Zauber zu entlocken, räusperte sich.

„Verzeihung, Herr Professor“, meinte er höflich. „Könnte es sein, dass Sie Prior Incantato meinen?“

Neville warf ihm einen dankbaren Blick zu. „Prior Incantato!“ Einem Rauchwölkchen gleich stieg ein verkleinertes Abbild von James‚ Machwerk aus der Spitze des Stabes. Longbottom starrte es an. „James, wie kannst du nur…“ Nun besann er sich darauf, dass er als Professor handeln musste, nicht als Freund der Familie Potter. „Das wird Konsequenzen haben! Zunächst müssen wir Professor McGonagall informieren.“

Nachdem sie die Schulleiterin aus dem Bett geholt hatten – wie gut, dass McGonagalls Blicke James nicht töten konnten! –, beschlossen die Lehrer, die beiden Gryffindor-Vertrauensschüler Ethelbert und Victoire hinzuzuziehen. Sie gingen zum Portrait der fetten Dame. „Passwort“ sagte die Dame unter herzhaftem Gähnen.

Neville wurde rot. „Äh, Potter, sagen Sie das Passwort.“

„Und wenn nicht?“, fragte James, der offenbar irgendwie noch Sand ins Getriebe streuen wollte.

„Mach keine Zicken, Potter“, sagte Roy, „wenn einer die Vertrauensschüler jetzt braucht, dann bist du es, die Lehrer brauchen sie nicht.“

James seufzte. „Suppengrün.“ Das Portrait schwang auf, die beiden Lehrer kletterten hinein, um die Vertrauensschüler zu wecken.

Nachdem sie zu sechst in McGonagalls Büro angekommen waren, zog die Schulleiterin dem Haus Gryffindor zunächst einhundertfünfzig Punkte ab und hielt dann dem auf seinem Stuhl zusammengesunkenen James eine zwanzigminütige Donnerpredigt, an deren Ende sie zusammenfasste:

„Sie haben Hogwarts in Verruf gebracht! Sie haben mich in Verruf gebracht! Sie haben das Ansehen Gryffindors aufs Schwerste geschädigt! Sie haben den guten Namen Ihrer Familie besudelt! Vielleicht könnte ich Ihnen das alles noch nachsehen. Was ich Ihnen aber nicht verzeihen kann und werde, ist die Tatsache, dass sie versucht haben, Ihre Schandtaten Unschuldigen in die Schuhe zu schieben!“

„Professor McGonagall“, versuchte Victoire die aufgebrachte Schulleiterin zaghaft zu beschwichtigen, „bitte verweisen Sie ihn nicht der Schule. Er war sich der Tragweite bestimmt…“

„…nicht bewusst?“, fauchte McGonagall. „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Miss Weasley? Spätestens als der Tagesprophet heute Morgen Slytherin mit haltlosen Beschuldigungen überhäufte, war ihm die Tragweite klar! Und genau darauf hatten Sie es doch angelegt, nicht wahr, Potter? – Sie haben noch genau eine Chance, dem Schulverweis zu entgehen. Sagen Sie mir, wer sie angestiftet hat oder wer noch davon wusste.“

In den Augenwinkeln konnte Roy sehen, wie Victoire erbleichte.

„Ich war es allein. Niemand sonst wusste davon, und es hat mich auch niemand angestiftet.“ Man sah, dass er log.

Donnerwetter, dachte Roy, was immer der Mistkerl sonst sein mag, einer, der andere verpfeift, um seinen eigenen Hals zu retten, ist er jedenfalls nicht.

McGonagall musterte James prüfend. „Nun gut“, sagte sie schließlich. „Wenn das Ihr letztes Wort ist, dann ist dies Ihre letzte Stunde in Hogwarts.“

„Sie können mich nicht rauswerfen, Frau Professor“, griff James nun nach dem letzten Strohhalm. „Das Ministerium würde…“

„Halt doch die Klappe, du Idiot!“, zischte Victoire ihm zu, doch es war zu spät.

„Sie wagen es, mir mit dem Ministerium zu drohen, Potter?“

McGonagall sprang mit einer Behendigkeit auf, die man ihr in ihrem Alter kaum zugetraut hätte, und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Wenn das Fass nicht schon längst übergelaufen wäre, hätten Sie es jetzt geschafft!“

„Frau Professor, bitte…“ flehte Victoire.

„Nein!“, fauchte McGonagall zurück.

Victoire wandte sich an Ethelbert. „Willst du denn nicht auch etwas sagen?“

„Was denn?“, fragte Ethelbert achselzuckend. „Mir fallen keine Argumente ein.“

„Professor Longbottom?“

Neville schüttelte traurig den Kopf. „Ich wüsste nicht, was hier noch zu machen wäre. Ich habe mich immer für James eingesetzt, es war ja weiß Gott nicht seine erste Schandtat, aber das hier geht einfach zu weit. Ich bin auch menschlich zu tief enttäuscht.“ In Nevilles Augen glitzerten Tränen.

McGonagall zog einen Bogen Pergament hervor und schrieb. Niemand wagte ein Wort zu sagen. Dann rollte sie das Blatt zusammen und reichte es James, der es wie in Trance entgegennahm.

„Das ist der Brief an Ihre Eltern mit der offiziellen Mitteilung, dass Sie der Schule verwiesen sind.“

Dann öffnete sie eine Büchse Flohpulver und warf eine Handvoll davon in die Flammen ihres Kamins, die sich smaragdgrün färbten.

„Das war’s, Potter. Sie werden augenblicklich zu Ihren Eltern zurückkehren. Ihre Sachen werden Ihnen nachgeschickt. Gute Reise.“

Als James kreidebleich und mit zitternden Knien zum Kamin ging, sagte eine Stimme hinter ihm:

„Halt!“

Es war Roy.

Alle fünf drehten sich verblüfft zu ihm hin.

„Professor McGonagall“, sagte Roy, „Potters Aktionen zielten darauf ab, Slytherin zu schaden. Wenn ich Sie im Namen Slytherins bitten würde, Potter nicht hinauszuwerfen, würden Sie dieser Bitte dann entsprechen?“

McGonagall lehnte sich zurück und sah ihn erstaunt an. „Warum sollten Sie das tun, MacAllister?“

„Das wäre mein Friedensangebot an Gryffindor“, sagte Roy zu Victoire und Ethelbert, die ihn anstarrten wie einen Weihnachtsmann zu Ostern, „und zwar mein letztes.“

„Was heißt das?“, wollte Victoire wissen.

„Habe ich euer Wort, dass die Gryffindors ihre andauernden Provokationen und sonstigen Feindseligkeiten gegen Slytherin einstellen, wenn Potter in Hogwarts bleiben kann?“

„Natürlich“, antwortete Ethelbert sofort.

Victoire brauchte einen Moment länger, doch dann sagte auch sie: „Du hast mein Wort.“

„In diesem Fall“, wandte Roy sich nun wieder der Schulleiterin zu, „bitte ich Sie im Interesse des Schulfriedens, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.“

McGonagall sah einen nach dem anderen an. Sie ließ die Gryffindors eine volle Minute lang zappeln, dann streckte sie die Hand Richtung James aus. „Den Brief, Potter!“ James reichte ihr mit zitternder Hand den Brief, den McGonagall mit Reductio verschwinden ließ.

Neville“, sagte sie, „ich erwarte von Ihnen, dass Potter empfindlich bestraft wird. Ich benachrichtige seine Eltern von dem, was er getan hat. Sie alle können jetzt gehen. Gute Nacht!“

 

 

Am folgenden Morgen wurden die Slytherins wieder einmal mit der Aufforderung geweckt, sofort in den Gemeinschaftsraum zu kommen. Roy wartete, bis alle sich eingefunden hatten, dann rief er:

„Heute Nacht ist der Schmierer ertappt und überführt worden. Es ist ein Gryffindor!“

Erleichterter Jubel ließ die Wände des Gemeinschaftsraums erbeben. „Wer war’s?“, wollten mehrere wissen.

James Potter!“

„Hätten wir uns ja denken können!“, – „Endlich fliegt der Scheißkerl!“

„Nein“, antwortete Roy, „er fliegt nicht!“

Schlagartig brach der Jubel ab. Roy blickte in lange Gesichter. Nur Albus sah erleichtert drein.

„Was, immer noch nicht?“, – „Typisch, McGonagall ist ja auch eine Gryffindor, die können sich alles erlauben!“

McGonagall hatte den Rauswurf schon unterschrieben“, erwiderte Roy. „Ich selbst habe sie gebeten, ihn zurückzunehmen.“

Die Slytherins starrten ihren Vertrauensschüler mit offenen Mündern an. „Du???

„Im Gegenzug haben Ethelbert und Victoire mir ihr Wort gegeben, dass die Gryffindors uns ab jetzt in Ruhe lassen, und das war mir wichtiger. Denkt an das, was der Sprechende Hut gesagt hat: Der Feind sitzt nicht in diesen Mauern! Ihr werdet die Gryffindors ebenfalls in Ruhe lassen!“

Was Roy sagte, war vernünftig wie ein Knäckebrot, aber eben nicht lecker wie eine Torte. Ein wenig murrend gingen die Slytherins zurück in die Schlafsäle und Waschräume, um sich fertigzumachen.

 

Der Weg zum Frühstück war für die Gryffindors an diesem Morgen ein Spießrutenlauf. Das lag weniger an den Slytherins, die auf Roy hörten und die Gryffindors nach Kräften ignorierten, als vielmehr an den Ravenclaws und Hufflepuffs. Vor allem diejenigen, die auf einen Täter aus den Reihen der Slytherins getippt und nun ihre Wetten verloren hatten, ließen ihrem Zorn auf Gryffindor freien Lauf.

Am schlimmsten war es für James, der nicht nur die Pöbeleien von Schülern der beiden Häuser, sondern auch die eisige Feindseligkeit seiner eigenen Hauskameraden über sich ergehen lassen musste, denen er hundertfünfzig Minuspunkte und eine Riesenblamage eingebrockt hatte. Bis gestern war er ziemlich beliebt gewesen – zumindest bei denjenigen Mitschülern, denen er noch keine üblen Streiche gespielt hatte. Nun saß er so einsam und verloren am Tisch der Gryffindors wie Bernie drei Wochen zuvor an dem der Hufflepuffs. Niemand wollte mit ihm reden.

„Er hat bekommen, was er verdient hat“, sagte Roy, während er sich neben Albus setzte, der seinen Bruder traurig beobachtete, „und sogar weniger als das. Morgen auch.“

„Er tut mir trotzdem leid“, meinte Albus. „Ich kann nicht anders. Außerdem sind die Gryffindors richtige Heuchler. In Wirklichkeit werfen sie ihm doch gar nicht vor, dass er es gemacht hat, sondern nur, dass er sich hat erwischen lassen.“

Roy nickte. „Das glaube ich auch. Nun lass dich nicht davon runterziehen. Sie werden wieder mit ihm reden, dafür sorgt schon Victoire.“

„Victoire?“ Albus war ein wenig überrascht. „Nur weil sie seine Cousine ist?“

„Nicht nur deshalb. Ich glaube, dass sie Bescheid wusste. Sie kann ihn nicht zu lange schmoren lassen.“

Als hätte sie es gehört, stand Victoire in genau diesem Moment auf und setzte sich zu James, um ein Gespräch zu beginnen. Albus war einerseits erleichtert, andererseits fand er: SO schnell hätte es nun auch wieder nicht gehen müssen!

„Wenigstens ist Slytherin jetzt wieder…“ – Albus suchte nach dem passenden Wort – „…rehabilitiert.“

„Was Hogwarts betrifft ja, aber in den Augen der Öffentlichkeit wird eine Menge Dreck an uns kleben bleiben.“

„Wieso?“, fragte Albus ungläubig. „Der Tagesprophet muss doch darüber berichten, nachdem er das Thema so hoch gehängt hat.“

„Nein“, sagte Roy, „muss er nicht und wird er nicht. Lass uns nicht weiter darüber nachdenken, sonst bereue ich es noch, deinem Bruder den Allerwertesten gerettet zu haben.“

„Ach ja, danke auch.“

„Dank zurück für Karte und Umhang. Ich habe beides unter dein Kopfkissen gelegt.“

„Woher wusstest du eigentlich, dass McGonagall ihn nicht hinauswerfen würde?“, wollte Albus wissen.

Roy grinste. „Ich hatte es vorher mit ihr so abgesprochen.“

„Wie?“, fragte Albus. „McGonagall und du, ihr habt eine Show inszeniert?“

„Mein Freund, ich hatte dir gesagt: Vertrau mir! Da konnte ich deinen Bruder wohl nicht gut aus dem Fenster schubsen, ohne dafür zu sorgen, dass unten ein Sprungtuch auf ihn wartet.“ Roys Grinsen wurde breiter. „Aber er musste ganz schön bibbern.“

„Meinst du, dass wir hier in Hogwarts jetzt Ruhe haben?“

„Ja.“

Roys Zuversicht war begründet, aber voreilig. Die paar Wochen Ruhe, die den Slytherins nun tatsächlich vergönnt waren, sollten die Ruhe vor dem Sturm sein.

23 – Walden Macnair

 

Als Ares und Julian unter dem Schutz eines Unsichtbarkeitszaubers hinter dem alten Bauernhaus apparierten, sahen sie sich zunächst vorsichtig um. Die Macnairs wurden oft von Auroren heimgesucht, und die beiden Jungen rechneten damit, dass das Anwesen vom Ministerium beobachtet wurde. Die Luft schien aber rein zu sein.

„Hallo?“, rief Tatjana Macnair von der hinteren Eingangstür her. „Ist da jemand?“

Ares machte sich sichtbar. „Ich bin’s, Mama!“, rief er, und lief auf sie zu.

„Ares!“ Sie schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich. Als sie die Umarmung löste, stutzte sie und fragte mit zweifelndem Unterton: „Wieso bist du nicht in Hogwarts? Du hast doch nichts angestellt?“

„Keine Sorge, die Schulleitung hat mir ganz offiziell für heute freigegeben. Mir und meinem Freund“ – er deutete auf Julian, der jetzt ebenfalls sichtbar wurde – „Julian Lestrange. Wir müssen dringend mit Vater sprechen.“

Julian trat auf sie zu, gab ihr unter einer leichten Verbeugung und mit einem warmen Lächeln die Hand, sagte „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs. Macnair“ und zog einen Blumenstrauß aus seinem Umhang, der seine Wirkung auf Tatjana ebenso wenig verfehlte wie eine Woche zuvor auf Ginny.

Währenddessen war Walden Macnair aus dem Haus getreten, um zu sehen, wer da ungebetenerweise appariert war. Für seine Muggelnachbarn war er ein älterer Herr, der sich auf dem Land zur Ruhe gesetzt hatte, um sich dort seinen Traum von einem Bauernhaus mit einem großen Obst- und Gemüsegarten zu erfüllen, und der im Übrigen mit seiner rund fünfzehn Jahre jüngeren Frau, die Englisch mit osteuropäischem Akzent sprach, ein beschauliches, zurückgezogenes Leben führte. Nie sah man ihn im Pub, nie seine Frau beim Einkaufen in einem der Dorfläden, aber man dachte kaum darüber nach. Vielleicht hätte man sich über die Gewächshäuser auf dem Gelände gewundert, wären sie nicht durch einen Verwirrungszauber verborgen gewesen, bestimmt aber über die dort gezüchteten Pflanzen, die in keinem Lehrbuch der Botanik verzeichnet waren.

Mit seiner drahtigen Erscheinung und den scharfgeschnittenen Gesichtszügen, die durch die zunehmenden Falten noch betont wurden, hätte Walden durchaus der pensionierte Offizier sein können, den manche seiner Muggelnachbarn in ihm vermuteten. Nur das verwegene Freibeutergrinsen, mit dem er jetzt seinen Sohn und dessen Freund empfing, deutete darauf hin, dass er in seinem früheren Leben etwas Anderes gewesen war als ein treuer Diener ihrer Majestät.

Vater und Sohn begrüßten sich mit einer knappen Umarmung, dann gab Walden dem anderen Jungen mit festem Druck die Hand.

„Julian Lestrange“, stellte dieser sich vor. „Schön, Sie kennenzulernen, Sir.“

Der alte Macnair winkte ab. „Für Ares‘ Freunde Walden, und für alle, die Lestrange heißen, ebenfalls Walden. Kommt rein.“

Er führte die beiden in die kleine Wohnküche, in der die Teekanne soeben damit beschäftigt war, ihren Inhalt in vier Tassen zu ergießen.

„Wie seid ihr zwei Gauner denn am Sonntagnachmittag aus Hogwarts herausgekommen?“, grinste der alte Macnair.

„Als brave Schüler“, sagte Ares und grinste ebenfalls, „haben wir selbstverständlich die Erlaubnis der Schulleitung eingeholt, in einer dringenden persönlichen Angelegenheit zu disapparieren.“

„Schade.“ Der Alte wirkte ehrlich enttäuscht. „Ich dachte, ihr hättet McGonagall ein hübsches Schnippchen geschlagen. Erlaubnis eingeholt!“ Er schüttelte den Kopf. „Tsss…“

„Trotzdem darf niemand wissen, dass wir hier sind und was wir hier wollen“, fügte Ares hinzu. „Das Ministerium würde in dem, was wir tun, wahrscheinlich einen staatsfeindlichen Akt sehen.“

„Wenn das so ist“, sagte Tatjana und erhob sich, „gehe ich einmal in den Garten. Je weniger Mitwisser, desto besser.“ Jede andere Mutter wäre vermutlich entsetzt gewesen, ihren Sohn in staatsfeindliche Umtriebe verstrickt zu sehen, aber sie liebte an ihrem Mann gerade dessen verwegenen Zug und wusste, dass ihr Sohn nach dem Vater schlug. Sie legte nur Wert darauf, nichts zu erfahren, was die Auroren interessieren könnte, um es nicht verraten zu können.

Bei dem Wort „Staatsfeindlicher Akt“ hatte Waldens Miene sich aufgehellt. „Das klingt schon eher nach meinem Sohn. Worum geht’s denn?“

„Fangen wir mit der persönlichen Angelegenheit an. Julian?“ Ares warf seinem Freund einen auffordernden Blick zu.

„Es geht um meinen Großvater Rodolphus“, begann Julian, „wir haben Hinweise darauf, dass er noch am Leben ist. Wissen Sie irgendetwas über seinen Verbleib?“

Der alte Macnair sah ihn traurig an. „Rodolphus, ja, ich habe ihn gut gekannt. Aber leider habe ich keine gute Nachricht für dich.“ Er seufzte. „Als ich deinen Großvater das letzte Mal sah, war er schon tot.“

Julian schluckte.

„War das bei der Schlacht um Hogwarts?“, wollte Ares nun wissen.

Walden nickte. Er starrte einen Moment auf seine Teetasse und sagte dann leise:

„Nachdem Voldemort gefallen war, ging alles sehr schnell. Ich selbst war ziemlich angeschlagen, bin noch irgendwie aus dem Schulgebäude herausgekommen und musste machen, dass ich vom Gelände kam, um zu disapparieren. Auf dem Weg zum Tor sah ich überall die Toten liegen. Auch deinen Großvater. Ich weiß es genau, weil ich noch dachte: Wenigstens ist es ihm erspart geblieben, Bellatrix‘ Tod zu überleben!“

„Sind Sie ganz sicher, dass er wirklich tot war?“, fragte Julian eindringlich. „Wenn doch alles so schnell ging und so viele Tote herumlagen…“

„Mein Junge, ich war Henker. Wenn ich sage, einer ist tot, dann isser tot!“

Alle vier schwiegen. Julian, der doch Hoffnung gehabt hatte, seinen Großvater kennenzulernen, tat sich sichtlich schwer, diese endgültige Bestätigung seines Todes zu verdauen.

„Es tut mir leid“, unterbrach der alte Macnair das lange Schweigen. „Ich hätte dir gerne eine hoffnungsvollere Auskunft gegeben. Ihr sagt aber, dass diese Frage nicht der einzige Grund ist, warum ihr hier seid?“

„Nein“, sagte Ares. „Wir glauben, dass Voldemort magische Techniken benutzt hat, die die Auroren bis heute nicht aufgeklärt haben, …“

„Darauf könnt ihr Gift nehmen“, warf sein Vater ein.

„… gegen die sie folglich auch kein Mittel haben, und durch die er direkt in die Seele von Menschen eindringen konnte, um sie zu kontrollieren und zu manipulieren. Über diese Techniken möchten wir gern mehr erfahren.“

„Warum?“

„Es geht um die Zaubereiministerin. Wir halten es für möglich, dass sie von einem unbekannten Magier kontrolliert wird, der Voldemorts Techniken anwendet. Wenn das stimmt, wollen wir einen Gegenzauber finden…“

„Ares, bitte!“, unterbrach ihn sein Vater. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass man diese Ministerin groß manipulieren muss, um sie zu ihrer Politik zu bringen? Sie macht doch genau das, was sie schon immer wollte! Verzaubern muss man sie dazu genauso wenig, wie Voldemort mich hätte verzaubern müssen. Ich war sowieso sein Anhänger.“

„Warum eigentlich?“, fragte nun Julian. „Ich meine, was hat Sie daran so fasziniert?“

„Sagen wir es so“, – Walden zeigte wieder sein Piratengrinsen –, „langweilig war sie nicht, diese Zeit. Es war einfach packend, spannend, aufregend! Wir waren damals entschlossen, der Welt unseren Stempel aufzudrücken!“

Wie um den Stempel zu veranschaulichen, schlug der alte Macnair mit der Faust auf den Tisch. „Und außerdem sehen wir ja spätestens heute, dass wir in der Sache ganz einfach recht hatten.“

Auf Julians fragenden Blick hin erläuterte er:

„Wenn wir gesiegt hätten, gäbe es keine Schlammblüter in der magischen Welt und folglich auch keine Granger als Zaubereiministerin, die unsere Welt zuerst in einen Kindergarten verwandelt und dann an die Muggel ausverkauft.“

„Mein bester Freund ist auch ein Schlammblut“, wandte Julian ein.

„MacAllister, ich weiß, der ist in Ordnung“, sagte Walden, „Ares hat mir viel von ihm erzählt. Aber er ist nun einmal die Ausnahme von der Regel. Solche Ausnahmen erkennt man daran, dass der Sprechende Hut sie nach Slytherin schickt. Wie viele gibt es davon? Vielleicht ein Dutzend in hundert Jahren! Bei allem Respekt vor eurem Freund, aber ein MacAllister nützt uns Zauberern bei weitem weniger, als eine Granger uns schadet. Die magische Welt kann auch ohne MacAllister überleben, aber sie kann nicht mit all den Grangers überleben.“

Ein Knall zeigte an, dass jemand vor der Haustür appariert war.

„Nanu?“, brummte Macnair und trat ans Fenster. „Den kenne ich, das ist einer vom Ministerium.“

„Sollen wir uns verstecken?“, fragte Julian hastig, der an Hermines plötzliches Erscheinen bei den Potters dachte.

„Ach was“, winkte der Alte ab, „das ist nicht einmal ein Auror, nur so ein subalternes Würstchen aus der Magischen Strafverfolgung. Mit dem werde ich schon fertig.“

Walden Macnair öffnete die Tür. Das subalterne Würstchen, ein kaum Fünfundzwanzigjähriger mit schlaffen Zügen und käsiger Haut, hatte die gewichtige Amtsmiene aufgesetzt, die er von Percy Weasley, seinem Mentor und ersten Ausbilder im Ministerium, gelernt hatte.

„Averell McDonald“, stellte er sich vor, „Abteilung für magische Strafverfolgung des Zaubereiministeriums. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Mr. Walden Macnair sind?“

„Sparen Sie sich die dusseligen Fragen, Sie wissen ganz genau, wer ich bin.“

Der Beamte räusperte sich energisch und versuchte, noch ein wenig strenger dreinzublicken. „Mr. Macnair, ich werde Sie offiziell belehren müssen. Ich glaube, es liegt daher in Ihrem Interesse, das Gespräch im Haus fortzusetzen.“

„Macht fünf Galleonen“, erwiderte Macnair trocken.

„Wie bitte?“

„Ich bekomme so oft Besuch vom Ministerium, dass ich beschlossen habe, in Zukunft Eintritt zu nehmen“, sagte Macnair todernst.

„Ihre dummen Witze können Sie für sich behalten!“ McDonald hasste es, wenn man sich über das Ministerium lustig machte. „Aber bitte, wie Sie wollen! Ich bin hier, weil soeben in Ihrem Hause die Ausdrücke ‚Schlammblüter‘ und ‚Schlammblut‘ gefallen sind. Ich frage Sie hiermit zunächst, ob Sie diesen Sachverhalt zugeben?“

„Ich gebe überhaupt nichts zu, solange Sie mir nicht sagen, woher Sie das wissen.“

„Die Ministerin“, erwiderte der Beamte und klang wie ein sprechender Aktenordner, „hat durch Verordnung Nr. 445/17 vom 29. September 2017 mit Wirkung zum heutigen 1. Oktober einen Tabuzauber in Kraft gesetzt, durch den das Ministerium unverzüglich informiert wird, sobald einer der hier verzeichneten Ausdrücke fällt.“

Er übergab Walden einen Bogen Pergament, den dieser entrollte und überflog. Es war Hermines sorgfältig nummerierte Verbotsliste, auf der mittlerweile 79 Ausdrücke standen. „Eigentlich müssten Sie das wissen, Mister Macnair, es stand schließlich groß im gestrigen Tagespropheten.“

„Mag sein“, antwortete Macnair, „aber ich benutze diesen Propheten grundsätzlich nur, um mir mit dem Gesicht Ihrer Ministerin den Hintern abzuwischen.“

Auf McDonalds fahlgelblichem Bürokratengesicht erschien so etwas wie Zornröte.

„Tolle Idee übrigens, das mit dem Tabuzauber!“, höhnte Macnair jetzt. „Hätte glatt vom Dunklen Lord sein können!“

McDonald funkelte ihn so streng an, wie er konnte. Selbstverständlich wussten sie beide, dass diese Art von flächendeckendem Tabuzauber tatsächlich erstmals unter Voldemort praktiziert worden war.

„Ich frage Sie nochmals, Mister Macnair: Geben Sie den Sachverhalt zu?“

„Aber gewiss doch“, sagte der Alte. „Ich habe eben meinem Wellensittich beigebracht, dass er auf keinen Fall ‚Schlammblut‘ sagen darf, weil er sonst die Politik des Ministeriums untergräbt.“

(In der Küche hatten Ares und Julian inzwischen hochrote Köpfe von der Anstrengung, sich das Lachen zu verbeißen.)

McDonald ließ ein missbilligendes Räuspern vernehmen. „Wie dem auch sei: Laut Ausführungsbestimmung Nr. 2/445/17 zur Verordnung Nr. 445/17 vom 29. September 2017 bin ich verpflichtet, Ihnen folgende Belehrung zu verlesen.“

Er entrollte ein weiteres Pergament und las vor:

„Das Ministerium weiß sich mit der gesamten Gemeinschaft der Hexen und Zauberer einig in dem Willen, alle Ausdrucksformen von Nichtmagischbefähigtemenschenfeindlichkeit sowie jede Form von Diskriminierung, Ausgrenzung, Stereotypen, Vorurteilen und Klischees, die sich gegen nichtmagisch befähigte Menschen richten, zu bekämpfen und zu unterbinden. Da Sie, Herr/Frau hier ist der Name der betroffenen Person zu nennen es unternommen haben, einen der vom Ministerium aufgrund der Ausführungsbestimmung Nr. 1/445/17 zur Verordnung Nr. 445/17 vom 29. September 2017 mit einem Tabuzauber belegten Ausdrücke zu gebrauchen beziehungsweise geduldet haben, dass in Ihrem Hause beziehungsweise in Ihrer Gegenwart ein solcher Ausdruck gebraucht wurde, sieht das Ministerium sich zu einer eindringlichen Ermahnung veranlasst: Das Ministerium zweifelt keineswegs Ihre staatsbürgerliche Loyalität und Ihren guten Willen an, den Kampf gegen alle Ausdrucksformen von Nichtmagischbefähigtemenschenfeindlichkeit…“

Macnair zog geräuschvoll die Nase hoch.

„… sowie jede Form von Diskriminierung, Ausgrenzung, Stereotypen, Vorurteilen und Klischees, die sich gegen nichtmagisch befähigte Menschen richten, zu unterstützen. Vielmehr ist das Ministerium überzeugt, dass Sie den beanstandeten Ausdruck nur versehentlich gebraucht haben und appelliert an Sie als guten Bürger…“

„Chchchchchcht.“

„…und loyales Mitglied der Gemeinschaft der Hexen und Zauberer, in Zukunft Ihre Worte mit großer Sorgfalt sowie unter Meidung der vom Ministerium mit einem Tabuzauber belegten Ausdrücke zu wählen und dadurch Ihre Unterstützung des Ministeriums und der Bestrebungen der Gemeinschaft der Hexen und Zauberer zum Ausdruck zu bringen.“

Macnair spuckte den Nasenschleim auf den Boden. „War’s das?“

Der Beamte runzelte missbilligend die Stirn und rollte das Pergament zusammen. „Das war’s.“

Macnair schlug die Tür zu.

Als er wieder in die Küche kam, fand er Ares und Julian wiehernd vor Lachen auf dem Boden liegen, und stimmte in ihr Gelächter ein.

„Was“, japste Ares zwischen zwei Lachern, „was war das denn für eine Pfeife?“ Und nach einer weiteren Lachsalve: „Na, Vater, wie fühlt man sich denn so als guter Bürger und loyales Mitglied der Zauberergemeinschaft?“

„Ein völlig neues Lebensgefühl!“, antwortete der Alte und schüttelte sich seinerseits vor Lachen.

Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatten, sagte Walden allerdings nachdenklich: „Natürlich ist es zum Totlachen, wenn so ein Ministeriumsheini sich hier zum Kasper macht. Aber wenn man darüber nachdenkt, vergeht einem das Lachen.“

„Wieso?“, fragte Ares.

„Na, stell dir einmal vor, der taucht nicht bei einem alten Todesser wie mir auf, dem das wurscht ist, sondern bei irgendeinem ganz normalen Bürger, und alle Nachbarn bekommen es mit. ‚Hast du schon gehört? Bei den Millers war einer vom Ministerium zur Belehrung. Hätte ich gar nicht von denen gedacht. Ich glaube nicht, dass unsere Jane mit den Miller-Kindern spielen sollte.‘ Von da ab werden Millers die Ministeriumsliste auswendig lernen und bei jedem Wort, das sie sagen, überlegen, ob es auf der Liste stehen könnte. Und ihre Nachbarn natürlich ebenfalls. Die wenigen, die sich den Mund nicht verbieten lassen, sind dann automatisch als Staatsfeinde gebrandmarkt. Und weil alle das wissen, werden sie versuchen, von vornherein gar nicht erst irgendetwas zu denken, was dazu führen könnte, dass ihnen irgendwelche verbotenen Worte herausrutschen. Auf diese Weise macht das Ministerium Jeden zum dressierten Äffchen. Und diejenigen, die sich nicht dressieren lassen, werden so wenige sein, dass sie locker in Askaban Platz finden!“

Der alte Macnair schnaubte.

„Widerlich! Vor allem diese verlogene Milde dabei! ‚Wir bestrafen doch niemanden, wir belehren doch nur!‘ Als ob es für erwachsene Menschen nicht tausendmal demütigender wäre, sich von solchen Affen belehren und erziehen zu lassen als in Stiefeln zu sterben!“

Er schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck Tee.

„Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, bei Granger. Also nochmal, die muss niemand verhexen, damit sie das tut, was sie tut. Falls es doch einer getan hat, hat er seine Zeit verschwendet.“

„Es ist auch nur die eine Möglichkeit“, räumte Ares ein. „Wenn es nicht so ist, wollen wir erst recht etwas über diese Art Zauber erfahren, um sie selber zu kontrollieren.“

Sein Vater hob den Blick hilfesuchend zur Decke.

„Ares! Du glaubst wirklich, ich kann euch jetzt irgendeinen Schwarzmagier nennen, der euch mal eben beibringt, wie man die Zaubereiministerin verhext?“

Er ächzte genervt.

„Selbst wenn ich einen kennen würde, der so etwas kann und trotzdem nicht in Askaban sitzt – und die da sitzen, sind nicht mehr zu allzu viel zu gebrauchen –, könnte er es euch nicht beibringen. Um solche Zauber zu beherrschen, braucht man Jahre intensiven Studiums der Schwarzen Magie, auch der Dunkle Lord hat Jahre dazu gebraucht. So etwas lernt man nicht mal eben wie einen kleinen Verwandlungszauber. Und dann vergiss nicht: Granger ist von Auroren geschützt, die genau für die Abwehr dieser Art von Flüchen ausgebildet sind. Wahrscheinlich können sie sie sogar anwenden. Also wenn Ihr einen Experten braucht, zieht einen von denen auf eure Seite.“

Der Vorschlag war ironisch gemeint. Ares und Julian wechselten einen schnellen Blick. Sie hatten sich geeinigt, Ares‘ Vater gegenüber nicht zu erwähnen, dass sie Harry Potter im Boot hatten.

„Ganz ehrlich, Jungs“, fuhr der alte Macnair fort, „was ihr da vorhabt, ist doch nichts Halbes und nichts Ganzes! Wenn ihr schon riskieren wollt, nach Askaban zu kommen – und das riskiert ihr, wenn ihr versucht, die Ministerin zu verhexen –, dann macht doch Nägel mit Köpfen und legt sie um! Dann lohnt sich das Risiko wenigstens!“

„Darüber haben wir diskutiert, Vater, und uns als Gruppe dagegen entschieden“, sagte Ares, obwohl er seinem Vater innerlich recht gab. „Bei einer solchen Aktion müssten schon alle einverstanden sein.“

„Ja“, sagte der Alte, „es sei denn, einer handelt auf eigene Faust, dann braucht er auf Mitwisser keine Rücksicht zu nehmen, weil er keine hat. Gut, ihr müsst wissen, was ihr tut. Aber einen besseren Rat kann ich euch nicht geben.“

 

 

24 – Roys Plan

 

Harry erschien am nächsten Tag als letzter zur DA-Stunde im Geheimraum, in dem er direkt apparierte.

„Na“, fragte er Ares in dem lockeren Tonfall, den sie alle sich angewöhnt hatten, nachdem die anfängliche leichte Befangenheit zwischen Harry und den Unbestechlichen einer gewissen Kameraderie gewichen war, „habt ihr bei deinem Vater etwas herausgefunden?“

„Einiges“, erwiderte Ares, „aber leider nichts, was uns wirklich weiterhilft. Die wichtigste Info ist, dass Julians Großvater tatsächlich in der Schlacht um Hogwarts gefallen ist.“

Harry nickte bekümmert. „Ich habe am Wochenende einen pensionierten Kollegen besucht, der damals an den Ermittlungen nach der Schlacht beteiligt war. Er hat es mir auch bestätigt“, sagte er zu Julian. „Es tut mir sehr, sehr leid für dich.“

Harry zog einen Zettel aus seinem Umhang. „Mein Kollege wusste auch noch, wo man die gefallenen Todesser beerdigt hat.“

„Oder verscharrt“, knurrte Ares.

„Nein, beerdigt!“, gab Harry scharf zurück. „Sie liegen auf dem kommunalen Friedhof von Kinkirk, rund fünfzig Meilen von Hogwarts entfernt. Näher ging es nicht, weil man einen Friedhof finden musste, dessen Wärter ein Squib ist. Sie liegen auf einem Teil des Friedhofs, der durch einen Verwirrungszauber vor Muggelblicken geschützt ist, von Zauberern und Squibs aber ohne Weiteres betreten werden kann. Die Muggel haben am Rande ihres Friedhofs eine Gedenktafel für ihre Kriegstoten aufgestellt. Durch diese Tafel geht man hindurch wie durch die Absperrung am Gleis Neundreiviertel und ist auf dem Zaubererfriedhof. Man hat keine Grabsteine gesetzt, aber jedes Grab mit witterungsfesten Schildern gekennzeichnet, damit die Angehörigen es finden können. Einige Familien haben inzwischen Grabsteine aufgestellt oder die Toten in ihre Familiengrüfte überführt.“

„Das dürfte meinen Großeltern kaum widerfahren sein“, sagte Julian bitter, warf einen kurzen Blick auf den Zettel, den Harry ihm reichte und steckte ihn ein. „Vielen Dank“. Und nach einem Moment, in dem niemand so recht wusste, was er sagen sollte: „Schon gut, ich bin ja sechzehn Jahre lang davon ausgegangen, dass sie tot sind. Wollen wir dann anfangen?“

Sie hatten in der vergangenen Woche alle erfolgreich Apparieren gelernt. Albus hinkte noch ein wenig hinterher, aber kurze Strecken schaffte er schon, und Ares hatte ihm versprochen, mit ihm außerhalb der DA-Stunden so lange wie nötig zu üben. In dieser Woche würden Entwaffnungs-, Schock-, Lähmzauber und dergleichen auf dem Programm stehen. Die Älteren kannten vieles davon zwar schon, aber Harry wollte sicher sein, dass sie alles sicher beherrschten. Trotzdem sagte er jetzt:

„Noch nicht. Wir sollten uns zunächst Gedanken über unser weiteres Vorgehen machen. Julians Großvater ist leider tot und kann uns daher auch nicht erzählen, was es mit diesem speziellen Kontrollzauber auf sich hat, den er beschreibt…“

„Entschuldigung“, unterbrach ihn Orpheus, „aber ich komme immer noch nicht ganz darüber hinweg, dass der Autor sich ein Pseudonym zugelegt hat, das ein Anagramm von ‚Rodolphus Lestrange‘ ist. Ich meine, wie wahrscheinlich ist es denn, dass das Zufall ist?“

„Ziemlich unwahrscheinlich“, gab Harry zu, „aber da der Autor selbst im Untergrund lebt, könnte es sein, dass er die Auroren, die möglicherweise auf seine Schrift stoßen, auf eine falsche Fährte führen und nach einem Toten fahnden lassen wollte.“

Das Argument erschien einleuchtend. Niemand widersprach.

„Jedenfalls“, fuhr Harry fort, „habe ich mir Sulphangels Text noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Im Grunde besteht das Neue an der darin beschriebenen Methode ja nicht in der Art und Weise des Eindringens, sondern in dem Ziel, das der eindringende Zauberer sich setzt: also nicht direkt den Willen des Betroffenen zu steuern, sondern sich zuerst in seinem Gewissen festzusetzen, um dann von dort aus nach und nach die Kontrolle über die gesamte Persönlichkeit zu übernehmen. Ich könnte mir vorstellen, dass die eigentliche Methode des Eindringens gar nicht so furchtbar originell ist und in etwa dem entspricht, was Voldemort auch sonst praktiziert hat.“

Harry sah einen Moment lang in die Gesichter der sechs Unbestechlichen, die gebannt an seinen Lippen hingen, und fuhr fort:

Voldemort benutzte drei Methoden: Erstens das direkte Eindringen über persönliche Nähe und Augenkontakt, zweitens Male, die auf der Haut der Betroffenen sichtbar waren, vor allem das Todessermal, und in meinem Fall die Narbe, die er mir bei dem Versuch verpasst hatte, mich schon als Baby umzubringen.“ Er fasste unwillkürlich nach seiner Narbe. „Drittens Horkruxe. Voldemort beging Morde unter anderem, um seine Seele aufspalten und auf unverdächtige Gegenstände verteilen zu können. Wer intensiven Kontakt mit diesen Gegenständen hatte, konnte von ihm kontrolliert werden.“

„Und da unser Unbekannter vermutlich von den Methoden Voldemorts gelernt hat“, ergänzte nun Julian, „müssen wir uns zunächst fragen, welches dieser Einfallstore er benutzt haben könnte, um Hermines Seele zu kontrollieren – verstehe ich dich da richtig?“

„Genau.“

Julian räusperte sich. „Nun, dann fangen wir doch mit dem Einfachsten an: einem Mal, das auf der Haut sichtbar ist. Ich möchte ja nicht indiskret sein, Harry“, sagte er unter süffisantem Grinsen, „aber wie viel von Hermines nackter Haut kennst du?“

„Für unsere Zwecke vermutlich nicht genug“, – Harry grinste ebenfalls –, „ich habe sie schon im Bikini gesehen und kein Mal festgestellt. Es gibt aber gewisse Stellen ihres Körpers, die ich natürlich nicht kenne…“

„… die interessantesten…“ warf Julian ein, während Roy, Orpheus und Ares glucksten.

„Könnt ihr eure Herrenwitze nicht in Abwesenheit von Frauen und Kindern reißen?“, rief Arabella, halb ernst, halb belustigt, dazwischen, und rief damit allgemeines Gelächter hervor.

„Ich müsste Ron fragen, der weiß es aus erster Hand“, flachste Harry, „aber ganz im Ernst: Hermine hat viel für die Muggelwelt übrig, aber diese Tattoo-Mode mag sie überhaupt nicht, und warum sollte sie sich sonst irgendein Mal auf die Haut zaubern lassen? Ich glaube, die Möglichkeit des Eindringens über irgendeine Art von Mal oder magischer Tätowierung können wir ausschließen. Bleiben also das direkte Eindringen durch den Willen einer lebenden Person und das Eindringen über einen Horkrux. Allgemeiner gesagt: Es müsste entweder eine Person oder ein Gegenstand sein, mit dem Hermine persönlich ständigen Kontakt hat.“

„Darüber müsstest du besser Bescheid wissen als wir alle hier“, sagte Arabella zu Harry. „Gibt es irgendeinen Gegenstand, den sie ständig bei sich trägt, vielleicht ein Schmuckstück?“

Harry schüttelte den Kopf. „Ihren Zauberstab hat sie ständig bei sich. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass irgendjemand jemals Gelegenheit gehabt haben soll, ihren Zauberstab zu verhexen. Ansonsten trägt sie natürlich Schmuck – dezent, wie es ihr Stil ist –, aber nicht immer denselben… abgesehen natürlich von ihrem Ehering…“

„Könnte es sein“, wollte Roy nun wissen, „dass ihr Ehering verhext ist – dass unser Unbekannter also seine Seele irgendwie in ihren Ehering gepackt hat?“

Harry dachte nach. „Dazu müsste er zuerst ihren Ehering entwendet, dann einen Mord begangen, dadurch seine Seele aufgespalten und einen Teil davon im Ehering untergebracht und diesen Ring dann zurückgeschmuggelt haben, und das alles, ohne dass sie es merkt. Ganz ehrlich“, meinte er, „Romanautoren können so etwas erfinden, aber mir klingt das alles zu kompliziert und birgt viel zu viele Unwägbarkeiten! Man sollte die Möglichkeit nicht ganz aus dem Auge lassen, aber ich würde erst einmal nach etwas Näherliegendem suchen.“

Alle dachten nach.

„Heißt also“, fragte Arabella wieder, „unser Unbekannter müsste in ständigem persönlichem Kontakt mit Hermine stehen. Harry, wer kommt dafür in Frage?“

„Es gibt nur drei“, sagte Harry. „Der eine ist ihr Ehemann Ron Weasley, aber für den lege ich beide Hände ins Feuer. Er würde Hermine niemals durch einen Fluch manipulieren, nie, nie, nie! Der zweite ist ihr persönlicher Referent, unser gemeinsamer unvermeidlicher Schwager Percy Weasley. Der kann es einfach nicht sein!“ Harry musste lachen. „Percy ist ungefähr so dämonisch wie eine Büroklammer.“

„Und der dritte?“, fragte Roy.

„Ist Cesar Anderson, der Chef der Personenschutzgruppe.“

„Cesar Anderson, sagst du?“, rief Roy aufgeregt.

„Ja“, antwortete Harry überrascht. „Was ist daran so erstaunlich? Anderson ist ihr oberster Leibwächter.“

„Ich habe heute Morgen das neue Wochenbulletin des Ministeriums bekommen“, sagte Roy, zog einen Bogen Pergament aus seinem Umhang und las vor:

Mit Wirkung zum 1. Oktober hat das Zaubereiministerium das Amt für Magische Sicherheit (AMaSi) geschaffen. Es ist direkt bei der Ministerin angesiedelt, übernimmt neben den Aufgaben der bisherigen Personenschutzgruppe auch die Bekämpfung des Todessertums sowie staatsgefährdender Umtriebe aller Art und ist zu diesem Zweck von der Ministerin mit besonderen Vollmachten ausgestattet worden.“

Besondere Vollmachten?“, flüsterte Harry entsetzt. „Steht irgendetwas Näheres über die Art dieser Vollmachten im Bulletin?“

Roy schüttelte den Kopf.

„Die bisherigen Vollmachten der Aurorenabteilung sind schon nicht von schlechten Eltern, das kann ich euch versichern!“, sagte Harry. „Und dass sie nichts Näheres preisgeben, muss Gründe haben… ‚Besondere Vollmachten‘ klingt für mich nach: Willkürliche Verhaftungen, heimliche Durchsuchungen, womöglich Ermächtigung zur Anwendung der Unverzeihlichen… Hermine hat eine Geheimpolizei gegründet!“

„Und jetzt kommt der Clou!“, rief Roy, der immer noch das Bulletin in der Hand hielt. „Ich war nämlich noch nicht fertig: Leiter dieses Amtes ist der bisherige Chef der Personenschutzgruppe Cesar Anderson.“

„Cesar…“ murmelte Harry. „Man möchte es sich nicht vorstellen, aber es würde vieles erklären…“

„Ja“, meinte Roy, „der Chef des Geheimdienstes oder der Geheimpolizei ist in vielen Staaten der eigentliche heimliche Staatschef. Die Ministerin zu manipulieren, um sich selbst eine unangreifbare Machtposition zu verschaffen, dabei aber immer im Hintergrund und im Dunkeln agieren zu können, wäre das ideale Mittel, sich zum unumschränkten De-facto-Diktator aufzuschwingen.“

Harry nickte nachdenklich. „Das passt zu dem, was ich bei dem Gespräch mit meinem Kollegen außerdem noch erfahren habe. Die Auroren haben damals gefangene Todesser intensiv befragt, um etwas über Voldemorts Methoden herauszufinden. Natürlich konnten das nicht irgendwelche Auroren machen, nur solche, die in Schwarzer Magie besonders bewandert waren. Von den Beamten der damaligen Ermittlungsgruppe ist heute nur noch einer im aktiven Dienst. Und nun ratet mal, wer!“

Niemand brauchte es auszusprechen. Alle sieben sahen einander an.

„Was mich wundert ist nur… Cesar ist gar nicht der Typ für so etwas“, meinte Harry. „Ich kenne ihn gut, ich selbst habe ihn zum Leiter der Personenschutzgruppe ernannt. Ich hätte geschworen, dass er nicht nur ein As in seinem Beruf, sondern auch hundertprozentig loyal ist! Ein nüchterner Offizierstyp, eher Soldat als Polizist, keiner, dem man zutrauen würde, in Machtträumen zu schwelgen. Andererseits hat er mir auch oft Informationen verschwiegen, angeblich auf Hermines Weisung…“ murmelte Harry gedankenverloren, sah dann aber auf und sagte wieder mit fester Stimme:

„Wie auch immer: Eine Karriere wie seine macht man nur, wenn man sein Herz nicht auf der Zunge trägt. Er ist schweigsam und eher verschlossen, wer weiß, was hinter seiner Stirn vorgeht. Wenn wir uns an die objektiven Indizien halten, ist er derjenige, den wir suchen.“

„Dann scheint unsere Aufgabe zwar immer noch nicht leicht, aber doch einfacher zu sein, als wir bisher dachten“, sagte Orpheus. „Wenn das stimmt, was wir vermuten, müssten wir nur den direkten Kontakt zwischen ihm und Hermine kappen, um sie seinem Einfluss zu entziehen.“

„Hätte ich das geahnt!“, ärgerte sich Harry. „Noch vor einer guten Woche hätte ich ihn nur zu versetzen brauchen. Jetzt müsste man ihn schon…“

Er hielt inne und sah grübelnd zur Decke.

„…entführen! Das wird aber verdammt schwer, er ist der beste Sicherheitsmann des Ministeriums. Selbst ich würde mir nicht ohne Weiteres zutrauen, es mit ihm aufzunehmen.“

„Es wäre auch, mit Verlaub, nicht besonders zielführend“, wandte Roy ein. „Schön, nehmen wir an, wir könnten ihn entführen, meinetwegen auch töten. Ich meine das rein theoretisch“, fügte er ungeduldig hinzu, als er Harrys irritierten Blick sah. „Hermine wäre dann von diesem Fluch oder Kontrollzauber befreit. Gut, sie würde wahrscheinlich ihre Methoden wieder mäßigen, vielleicht die Geheimpolizei auflösen, ihren Tabuzauber aufheben – und ihre besten Freunde nicht mehr wie Dreck behandeln“, sagte er mit einem Blick zu Albus. „Dann hättest du zwar dein Ziel erreicht, Harry, aber wir unseres nicht. Denn wir bekämpfen nicht nur ihre Methoden, sondern auch und vor allem ihre Ziele. Dir geht es darum, Hermine zu retten, uns darum, die magische Welt zu retten.“

„Ja, glaubst du denn, mir ist das Schicksal dieser Welt egal?“, fuhr Harry ihm aufgebracht ins Wort.

„Das unterstellt niemand, Harry“, sagte Arabella begütigend. „Aber sei bitte nicht eingeschnappt, wenn wir unseren Standpunkt darlegen.“

„Wir haben das Problem“, erläuterte Roy, „dass Hermine eine Utopie verfolgt, von der sie völlig überzeugt ist. Sie klingt ja auch so attraktiv: Wir und die Muggel gehen zum beiderseitigen Vorteil Hand in Hand, lernen voneinander, alle Menschen werden Brüder! Wenn sie auf diesem Weg wirklich weitergeht, wird sie am Ende wieder bei denselben diktatorischen Methoden ankommen, die sie jetzt auch schon anwendet, und zwar ganz ohne Fluch – ganz einfach, weil die Utopie nicht funktioniert. Dann hat sie vielleicht ein schlechtes Gewissen, aber davon haben wir nichts, sie macht es trotzdem.“

„Wenn der Fluch aber nicht mehr wirkt, wird man mit ihr darüber reden und sie durch Argumente überzeugen können“, wandte Harry ein.

„Meinst du?“, fragte Roy zweifelnd. „Warum sollte Hermine besser sein als zahllose Muggelpolitiker, die alle nicht unter einem Fluch stehen, aber trotzdem für Argumente vollkommen unzugänglich sind, wenn es um die Verfolgung ihrer utopischen Lieblingsprojekte geht?“

Hermine ist von Natur aus weder dumm noch bösartig“, ereiferte sich Harry, und Roy musste lächeln, als er Albus‘ energisches Bestätigungsnicken sah. „Ganz im Gegenteil, auf gute Argumente lässt sie sich immer ein… naja, also fast immer“, schränkte Harry ein, da ihm nun doch einige Gegenbeispiele einfielen.

„Wir sprechen hier aber von Prognosen“, entgegnete Roy. „Sie sagt, ihre Utopie wird funktionieren, wir sagen, sie wird nicht funktionieren. Das einzige Argument, das eine Prognose widerlegen kann, ist die Wirklichkeit. Wenn die Grenzen zwischen der magischen Welt und der Muggelwelt erst einmal niedergerissen sind und sich dann zeigt, dass es nicht funktioniert, ist es nicht mehr rückgängig zu machen, weil die Muggel dann um die Existenz unserer Welt wissen und man dieses Wissen nicht mehr zurückholen kann. Einzelne Muggel können wir mit einem Vergessenszauber belegen, aber nicht sieben Milliarden.“

Eine lange Pause trat ein.

„Abgesehen davon“, führte Roy seinen Gedankengang schließlich weiter, „beruht die Idee, Anderson zu entführen, auf der Hypothese, dass er derjenige ist, der sie verhext. Was, wenn er es nicht ist – und du selbst hast doch Zweifel daran, Harry? Dann macht sie einfach weiter, und wir haben weder sie noch die Zaubererwelt gerettet, haben aber obendrein das Problem am Hals, wie wir Anderson wieder freilassen können.“

„Wieso“, fragte Harry mit lauernder Miene, „habe ich das Gefühl, dass du längst einen Gegenvorschlag im Ärmel hast?“

„Ganz einfach“, grinste Roy, „weil es so ist.“

„Dann lass hören!“

„Wenn wir beides erreichen wollen“, antwortete Roy, „also Hermine von dem Fluch befreien und unsere Welt vor ihr schützen, dann müssen wir in der Tat jemanden entführen, aber nicht ihren Geheimdienstboss, sondern sie selbst.“

Alle starrten ihn an.

„Und was wäre der konkrete Vorteil?“, wollte Harry wissen.

„Wenn sie unter einem Fluch Andersons steht, der nur durch persönlichen Kontakt funktioniert, wird sie diesem Fluch entzogen. Steht sie unter dem Fluch eines Anderen, wirst du als Auror doch die Mittel haben, das herauszufinden, sobald sie in deiner Gewalt ist, oder nicht?“

„Sicher“, meinte Harry bedächtig, „wir sind in Legilimentik ausgebildet, um notfalls in die Gedanken eines Verdächtigen eindringen zu können, sofern der nicht seinerseits gut in Okklumentik ist. Sollte Hermine also besessen sein, müsste ich es feststellen, sobald sie mir nicht ausweichen kann. Damit weiß ich aber immer noch nicht, wie ich denjenigen hinauswerfe…“

„Aber das könntest du herausfinden“, fragte Julian, „sobald du in ihre Gedanken eindringen kannst und weißt, womit du es genau zu tun hast?“

„Möglich“, gab Harry zögernd zu.

„Wie wäre es mit dem Anti-Imperius?“, warf Orpheus ein. Auf die verwunderten Blicke der anderen hin fuhr er fort: „Eigentlich ist die Bezeichnung ‚Anti-Imperius‘ irreführend. Er wirkt doch nicht nur gegen den Imperiusfluch, sondern seiner Logik nach gegen jeden Kontrollzauber! Damit würdest du unseren Unbekannten gezielt aus ihrer Seele herausschießen!“

„Das wäre aber wirklich das allerletzte Mittel“, sagte Harry, „wenn gar nichts anderes geht. Der Anti-Imperius ist kaum erforscht, ich würde damit riskieren, Hermines Ich mit auszulöschen.“

„Du stimmst aber zu“, wollte Roy nun wissen, „dass du den Fluch nicht aufheben kannst, ohne ihrer Person habhaft zu sein?“

Harry schwieg einen Augenblick. Dann lehnte er sich zurück und sagte:

„Ja.“

„Entschuldige, Roy“, meldete sich nun Ares zu Wort. „Ich verstehe immer noch nicht ganz, wie du durch eine Entführung ihre Politik unterbinden willst. Wenn du sie nicht ewig festhalten willst, musst du sie irgendwann freilassen, dann kehrt sie auf ihren Ministersessel zurück und macht genauso weiter wie vorher, vielleicht mit etwas mehr schlechtem Gewissen, vielleicht nicht einmal damit. Das haben wir doch alles schon durchgekaut!“

„Oder soll Harry sie mit dem Imperiusfluch belegen, bevor sie ins Amt zurückkehrt?“, fragte Orpheus. „Das wäre natürlich…“

„…völlig aussichtslos!“, unterbrach ihn Harry. „Wenn sie von Entführern freigelassen wird, wird sie zu allererst auf den Imperiusfluch untersucht, und den aufzuspüren und aufzuheben, dauert normalerweise nur wenige Minuten! Außerdem sind die Auroren darauf geschult, an subtilen Anzeichen zu erkennen, dass jemand unter dem Imperius stehen könnte, das heißt, selbst wenn ich sie nicht entführe, sondern irgendwie in ihre Nähe komme, um sie zu verhexen, werden Cesars Leute es merken.“

„Das dachte ich mir schon“, sagte Roy, „deshalb ist meine Idee auch etwas komplizierter.“ Er grinste selbstzufrieden.

„Nun spann uns nicht so auf die Folter!“, rief Julian.

Du müsstest es machen“, sagte Roy nun zu Harry. „Du dringst unsichtbar ins Ministerium ein, gehst in Hermines Büro, schockst sie oder setzt sie jedenfalls außer Gefecht, nimmst ein Haar von ihr, tauchst es in den Vielsafttrank, nimmst ihre Gestalt an, machst die wirkliche Hermine unsichtbar und nimmst sie bei Dienstschluss mit in ein Versteck. An den folgenden Tagen gehst du wieder als Hermine ins Ministerium und amtierst an ihrer Stelle. Du hebst ihre diktatorischen Maßnahmen auf und schickst Anderson auf eine lange Auslandsreise. Sobald du die Voraussetzungen geschaffen hast, die wirkliche Hermine wieder freizulassen, das heißt, wenn du den Fluch gebrochen hast, trittst du in deiner Gestalt als Hermine vom Amt der Zaubereiministerin zurück und belegst die wirkliche Hermine mit einem Gedächtniszauber, aufgrund dessen sie glaubt, selber zurückgetreten zu sein. Wenn dann ein neuer Minister gesucht wird, bewirbst du dich in deiner wirklichen Identität als Harry Potter um das Amt. Ich glaube, man würde dich gerne nehmen.“

Die Unbestechlichen und Harry starrten ihn mit offenen Mündern an.

„Was du da vorschlägst, Roy“, sagte Harry langsam, „ist nicht mehr und nicht weniger als…“

„…ein Staatsstreich.“

25 – Unternehmen Odysseus

 

Harry brauchte einen Moment, um seine Fassung wiederzuerlangen. Er starrte einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand an und schüttelte langsam den Kopf.

„Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum das Wappentier von Slytherin eine Schlange ist… Dieser Plan“, grübelte er, „ja, mit ein paar Abwandlungen könnte er funktionieren.“ Er starrte immer noch ins Leere, begann aber dabei zu lächeln. „Das ist genial!“

Er stellte sich vor, was sein Vater wohl dazu sagen würde. Oder Sirius. Er sah das leicht dreckige Grinsen der beiden geradezu vor sich. Die Zaubereiministerin am helllichten Tag aus ihrem eigenen Ministerium zu entführen und sich obendrein an ihre Stelle zu setzen – ja, eine derartige Kaltschnäuzigkeit wäre nach ihrem Geschmack gewesen. Und war nach seinem.

„Seid ihr denn damit einverstanden?“, fragte er in die Runde. Die Frage erübrigte sich, so erwartungsvoll, wie die Unbestechlichen ihn ansahen.

„Natürlich“, antwortete ihm ein sechsstimmiger Chor.

„Ich müsste den Tarnumhang nehmen“, überlegte er, „Unsichtbarkeitszauber funktionieren in ihrer unmittelbaren Umgebung nicht. Wir müssen ein Versteck für sie finden, möglichst in Hogwarts, und ich glaube, ich weiß auch eines.“ Er sah Albus an.

„Welches denn?“, wollte Albus wissen.

„Später, ich muss es mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Wir müssen damit rechnen, dass wir sie eine ganze Weile festhalten müssen, weil ich nicht weiß, wie schnell ich den Fluch knacken kann. Außerdem kann ich mich nicht nur auf sie konzentrieren, weil ich ja tagsüber viel im Ministerium bin. Und abends muss ich nach Hause, damit Ron nichts merkt.“

„Papa“, fragte Albus, „wäre es nicht besser, Onkel Ron einzuweihen? Er will doch bestimmt auch nicht, dass sie unter einem Fluch steht.“

Harry schüttelte den Kopf. „Natürlich will er das nicht, aber ich muss ihn trotzdem aus der Sache heraushalten.“

„Wieso?“

Harry seufzte. „Wie erkläre ich das? Sieh mal, wenn Ron sich an so einer Aktion beteiligen würde oder auch nur Mitwisser wäre, müsste er ihr Vertrauen missbrauchen. Auch wenn es zu ihrem eigenen Besten wäre und sie das am Ende einsähe, glaube ich nicht, dass sie ihm das je verzeihen würde. Wie immer die Sache ausginge, die Ehe der beiden wäre am Ende. Wenn ich ihn also einweihen würde, würde ich meinen besten Freund vor die Wahl stellen, mich zu verraten oder seine Ehe zu ruinieren. Dazu habe ich kein Recht. Mir dagegen hat sie die Freundschaft gekündigt, zu mir hat sie kein Vertrauen mehr, also kann ich es auch nicht missbrauchen.“

„Hm“, brummte Albus. Erwachsensein war echt kompliziert.

„Ach du lieber Himmel!“, entfuhr es nun Harry. „Wenn ich als Hermine zu ihm nach Hause komme, hält Ron mich doch für seine Ehefrau! Was sage ich ihm denn“, fragte er leicht verzweifelt, „wenn er mir an die Wäsche will?“

Prustendes Gelächter antwortete ihm.

„Fürs Vaterland muss man schon mal Opfer bringen“, japste Ares zwischen zwei Lachern.

„Pack dir schon einmal Vielsafttrank für neun Monate ein!“, schlug Orpheus vor und erntete einen neuen Lachorkan. Nachdem dieser zu einem allgemeinen Gegluckse abgeebbt war, meinte Julian:

„Ist doch ganz einfach, dann hast du eben Migräne. Macht meine Mutter auch immer so.“

Als er die verdutzten Blicke der anderen sah, fügte er leicht verlegen hinzu:

„Äh, na ja, die Wände bei uns zu Hause sind etwas dünn…“ Was wiederum mit einem Lacher quittiert wurde.

Als alle sich wieder beruhigt hatten, fuhr Harry fort: „Migräne ist eine gute Idee, so werde ich es machen. Trotzdem haben wir ein Problem: Vielsafttrank wirkt nur eine Stunde lang, und ich kann doch nicht nachts jede Stunde aufstehen und nachtanken. Und im Ministerium sieht es auch komisch aus, wenn ich regelmäßig zum Flachmann greife – Hermine ist doch keine Schnapsdrossel.“

„Die Muggel“, sagte Roy, „haben Medikamente, die nur nach und nach freigesetzt werden. Wenn man so etwas mit magischen Mitteln nachbauen könnte…“ Man sah, dass er im Geiste schon anfing, eine Lösung zu konstruieren.

„Aber Roy“, unterbrach Harry Roys Grübeln, „ich brauche rund zwanzig Milliliter pro Stunde, macht fast einen halben Liter am Tag! Eine solche Riesenkapsel kann ich unmöglich schlucken!“

„Sicher“, meinte Roy langsam und gedankenverloren, „dann müsste man eben ein Konzentrat herstellen…“

Alle sahen ihn gespannt an und warteten.

„Ich glaube, es geht“, sagte Roy schließlich. „Ich müsste natürlich ein wenig experimentieren, und McGonagalls Kessel, den sie uns versprochen hat, ist erst in drei Wochen fertig. Aber wenn ich mich ranhalte, glaube ich bis Januar etwas Brauchbares liefern zu können.“

„Gut“, sagte Harry, „früher brauche ich es sowieso nicht, weil die anderen Vorbereitungen mindestens ebenso lange dauern werden: Ich muss den Plan noch im Einzelnen ausarbeiten, dazu einige Pläne B, C und D, falls Plan A schiefgeht. Ich muss meine Rolle als Hermine üben. Sicher, ich kenne sie sehr gut, aber die Auroren sind darauf geschult, auch kleinste Merkwürdigkeiten wahrzunehmen. Am besten übe ich mit Ginny, sie ist ihre beste Freundin. Außerdem müssen wir ein Versteck für Hermine einrichten, und ich möchte, dass sie es dort schön hat. Das übernimmst du“, wandte er sich unvermittelt an Albus, „und zwar zusammen mit deiner Mutter.“

„Ja gerne“, freute sich Albus, „aber wieso gerade ich?“

„Das erfährst du noch früh genug. Überhaupt: Nachdem Alle im Prinzip mit dem Plan einverstanden sind, sollte ab jetzt Jeder nur noch das erfahren, was er zur Erfüllung seiner Aufgabe wissen muss. Einfaches konspiratives Prinzip. Den Gesamtüberblick sollte nur einer haben – nein, in unserem Fall zwei. Seid ihr einverstanden, wenn Roy und ich das übernehmen?“

Die Runde nickte.

„Gut. Es ist schon viertel nach acht, für heute ist es zu spät für unsere DA-Stunde…“

„Ist es denn überhaupt sinnvoll, dass wir damit weitermachen?“, fragte Arabella. „Ich meine… jetzt, wo wir einen Plan haben, bei dem die meisten von uns nicht viel mehr tun können als abzuwarten.“

„Es ist trotzdem sinnvoll“, entschied Harry. „Bis Januar kann noch viel passieren. Vielleicht kommen wir gar nicht zur Ausführung des Plans. Vielleicht geht er schief. Vielleicht müssen wir ihn ändern und ich brauche ich euch doch dazu. Es sind noch zu viele Unbekannte in der Rechnung, als dass wir eure Ausbildung jetzt schon abbrechen könnten. Schlimmstenfalls lernt ihr etwas, was ihr für unser Vorhaben nicht braucht, dann könnt ihr wenigstens in euren UTZ-Prüfungen damit glänzen – also für die Katz ist es auf keinen Fall!“

Er stand auf. „Roy, du überlegst dir, wie du den Vielsaft in eine brauchbare Form bringst. Vielleicht fängst du mit dem kleinen Vorrat, den du hast, schon einmal an zu experimentieren.“ Roy nickte.

„Und wann erzählst du mir, wo du Hermine verstecken willst?“, wollte Albus wissen.

„Übermorgen, und zwar nach der DA-Stunde“, erwiderte sein Vater. „Bring deinen Besen, die Karte und den Umhang mit.“

„Den Besen?“, fragte Albus verdutzt. „Okay, mache ich. Den Umhang benutze ich sowieso immer, damit keiner mich sieht, und mit der Karte passe ich immer auf, dass keiner in der Nähe ist, wenn wir kommen und gehen.“

„Sehr gute Idee.“

„Es war die Idee deines Sohnes“, meinte Ares, da Albus keine Anstalten machte, es selbst zu erwähnen. Er warf Albus einen anerkennenden Blick zu. „Und damit hast du eine Riesen-Sicherheitslücke geschlossen. Cleveres Kerlchen! Ich bin froh, dass wir dich dabeihaben.“

Albus strahlte. Ares hatte von allen Alt-Unbestechlichen die größten Vorbehalte dagegen gehabt, einen Elfjährigen in die Gruppe aufzunehmen, und irgendwo konnte Albus es auch verstehen – für Ares mit seinen siebzehn war ein Elfjähriger ungefähr das, was für ihn selbst ein Sechs- oder Siebenjähriger gewesen wäre. Ihnen allen, vor allem aber Ares, wollte er beweisen, dass er nicht der nervige Kleine war, der sich mit unausgegorenen Ideen wichtig machte. Daher beteiligte er sich selten an Diskussionen und sagte nur dann etwas, wenn er ganz sicher war, dass es etwas Wichtiges und Richtiges war – wie eben bei der Idee, unter dem Tarnumhang mit der Karte des Rumtreibers Schmiere zu stehen, damit ihr Versteck nicht durch einen dummen Zufall aufflog.

„Gut“, sagte Harry, der nicht ganz verbergen konnte und wollte, wie stolz er auf seinen Sohn war. „Ach, mir fällt ein, dass wir für unser Unternehmen noch einen Decknamen brauchen. Hat jemand eine Idee?“

„Für einen derart durchtriebenen Plan“, meinte Orpheus, der von seinem Vater die Liebe zur griechischen Sagenwelt geerbt und gelernt hatte, „kann es nur einen Decknamen geben: ‚Odysseus‘.“

„Gefällt mir“, meinte Harry. „Wenn also allseitiges Einverständnis besteht“ – Alle nickten – „dann läuft unser Projekt ab jetzt unter dem Codenamen ‚Odysseus‘. – Wir sehen uns übermorgen!“ Er drückte Albus kurz an sich, winkte den Anderen zu und disapparierte.