16 – In der Aurorenabteilung

 

„Nehmen Sie Platz, Cesar“, sagte Harry zum Chef der Personenschutzgruppe, den er in sein Büro gebeten hatte. Cesar Anderson war ein Personenschützer wie aus dem Bilderbuch: Großgewachsen, athletisch, und obwohl das zunehmende Grau seines Stoppelhaars auf sein fortgeschrittenes Alter hinwies, waren seine Bewegungen immer noch geschmeidig wie die einer Katze. Wie Harry war er ein Gryffindor, aber zwölf Jahre älter als sein Chef, sodass sie sich in ihrer Schulzeit nie begegnet waren. Seinen verantwortungsvollen Posten verdankte er seiner Phantasie, mit der er nahezu jeden denkbaren Anschlag vorsorglich durchspielte, um niemals überrascht werden zu können, seiner analytischen Intelligenz und seinen sagenhaft schnellen Reflexen, die auch mit zunehmendem Alter nicht nachzulassen schienen.

Harry war erst gegen zehn Uhr im Ministerium erschienen, nachdem das Gespräch mit Ginny bis zum Morgengrauen gedauert hatte, und hatte sich eine Stunde lang in die Personenschutzrichtlinien vertieft.

„Ich bin unsere Standardverfahren noch einmal durchgegangen“, eröffnete er schnörkellos die Unterredung. „Was die Abwehr magischer Angriffe angeht, so habe ich Aurel gebeten, sie unter die Lupe zu nehmen. Er wird gleich zu uns stoßen. Sprechen wir zunächst über die Gefahren durch nichtmagische Angriffe. Mit ist nämlich Einiges unklar.“

„Und zwar?“, fragte Cesar.

„Hier steht, dass Sie sämtliche Sprengstoffe im Umkreis von 200 Metern um die Ministerin in Sand verwandeln“, sagte Harry. „Sind damit wirklich alle Sprengstoffe erfasst, einschließlich solcher, die auch bei den Muggeln geheim beziehungsweise nur Militär und Geheimdiensten bekannt sind?“

„Yep“, sagte Cesar, „wir haben die Liste erst vor einem Vierteljahr aktualisiert, die Kollegen vom MI-5 waren – ausgesprochen kooperativ.“

Er sagte es mit einem merkwürdigen Unterton. Harry blickte ihn misstrauisch an: „Womit haben wir uns für diese Freundlichkeit revanchiert?“

„Tut mir leid, Harry, das darf ich Ihnen ohne Hermines ausdrückliche Erlaubnis nicht sagen.“

Harry wirkte einen Moment lang verärgert, aber letztlich befolgte Cesar nur Hermines Anordnungen. Merkwürdige Anordnungen allerdings.

„Gut. Weiter: Außerdem legen Sie eine mitwandernde Schutzglocke von rund zehn Metern Radius rund um die Ministerin an. An dieser Glocke prallen nicht nur Flüche ab, sondern auch materielle Gegenstände, sofern sie sich mit einem Tempo von mehr als 100 Metern pro Sekunde bewegen.“

„Gegen Kugeln aus Schusswaffen, die aus mehr als 200 Meter Entfernung abgefeuert werden. Die Munition von Waffen im näheren Umkreis wird bereits durch den Sprengstoffzauber unwirksam gemacht.“

In diesem Moment klopfte es. Auf Harrys „Herein“ hin betrat Aurel Mercey das Büro des Abteilungsleiters.

Aurel, Leiter des Referats „Abwehr Schwarzer Magie“, unterschied sich von Cesar in nahezu jeder Hinsicht außer in Alter und Haarfarbe. Er war klein, dicklich und kurzsichtig. Sein Leben hatte er dem Studium der Schwarzen Magie gewidmet, die er doch selbst nie praktizierte. Er war ein wandelndes Lexikon, in dem alle bekannten Informationen über Schwarze Magie verzeichnet waren, aber ein Typ wie Snape, der mit seinen Experimenten tief in unbekannte Gefilde vorgedrungen war, war er nicht.

Harry bat ihn mit einer Geste, Platz zu nehmen. „Ich komme gleich zu Ihnen, Aurel. Was ist“, wandte er sich wieder an Cesar, „wenn jemand eine mechanische Distanzwaffe verwendet, eine Schleuder zum Beispiel, ein Blasrohr, eine Armbrust oder einen Bogen?“

„Hier könnte allerdings eine Lücke bestehen“, gab Cesar zu.

„Setzen Sie die Abwehrschwelle auf 10 Meter pro Sekunde herab“, ordnete Harry an, und Cesar notierte es sich. „Wird eine solche Waffe aber innerhalb des Radius von zehn Metern abgeschossen“, fuhr Harry fort, „dann wird das Geschoss nicht mehr aufgehalten, es sei denn, Sie werfen sich dazwischen und sterben den Heldentod“, sagte Harry lächelnd. „Sie werden daher in Zukunft eine zweite Schutzglocke mit einem Radius von einem Meter fünfzig anlegen. Nullpunkt ist das Herz der Ministerin.“ Wieder machte Cesar sich eine Notiz.

Harry fragte: „Was sagt das MI-5 eigentlich über die Abwehr von Angriffen mit radioaktiven Stoffen?“

„Das Mi-5“, antwortete Cesar, „war so freundlich, uns einen Geigerzähler zu leihen, mit dem wir Radioaktivitätsquellen in der Nähe der Ministerin ausfindig machen können.“

„Gift?“

„Die Ministerin trinkt jeden Morgen einen Cocktail, durch den sie jedes magische und nichtmagische Gift, einschließlich irgendwelcher manipulierender Zaubertränke, am Geschmack erkennen kann. Rechtzeitig, um sie wieder auszuspucken. Falls einer es ihr mit Gewalt zu verabreichen versucht, muss er erst einmal an uns vorbeikommen, aber auch dann haben wir immer noch einen Bezoar dabei.“

„Unwirksam gegen Schlangen-, Spinnen- und Insektengift“, meinte Harry.

„Zumindest was die Schlangen angeht, so tragen wir von Muggelforschern entwickelte Gegengifte mit uns. Wieder eine freundliche Gabe vom MI-5.“

„Sind Ihnen noch irgendwelche Sicherheitslücken aufgefallen?“, fragte Harry.

„Ich hätte Sie bereits behoben, wenn ich sie bemerkt hätte“, erwiderte Cesar. „Aber vielleicht hat Aurel ja noch etwas gefunden.“

„Danke für Ihre Geduld, Aurel“, sprach Harry jetzt seinen Spezialisten für Schwarze Magie an.

„Nicht doch, Harry“, wehrte Aurel ab.

„Sie haben den magischen Teil der Vorschriften abgeklopft?“,

„Ja. Die Schutzglocke wehrt fast jeden bekannten Zauber ab: Todesfluch, Cruciatus, Schockzauber, Erstarrungszauber, Bewegungszauber, Imperius…“

„Ich habe mich auf das Gespräch vorbereitet“, unterbrach ihn Harry sanft, „und die Vorschriften nochmals gelesen. Zählen Sie mir bitte nicht auf, was drinsteht, sondern was Ihrer Meinung nach fehlt.“

„Nun, das einzige, was fehlt, jedenfalls von den Zaubern, die direkt auf die Person zielen, ist der Anti-Imperius. Wenn er zweckentfremdet und auf eine nicht verfluchte Person gerichtet wird, ist eine Mordwaffe.“

„Gut“, sagte Harry, „dann wird der Anti-Imperius in die Liste der Zauber aufgenommen, die durch die Schutzglocke abgewehrt werden. Eines ist mir nicht ganz klar: Brauchen wir auch für die Fluchabwehr-Schutzglocke einen engeren Radius?“

„Das würde ich dringend empfehlen“, erwiderte Aurel. „Diese Flüche prallen ab, wenn sie von außen kommen, können aber innerhalb der Schutzglocke durchaus ausgeführt werden, wenigstens einige von ihnen.“

„Cesar…“ begann Harry.

„Schon notiert“, sagte dieser.

„Sehr gut“, meinte Harry befriedigt. „Bleibt die Frage nach der unbemerkten Annäherung unbefugter Personen. Ich lese, dass alle Arten von Unsichtbarkeitszaubern, Verwechslungszaubern und so weiter durch die Schutzglocke aufgehoben werden, das heißt jeder, der in die Schutzglocke eindringt, wird sichtbar beziehungsweise identifizierbar. Ich vermisse aber eine wirksame Abwehr gegen Personen, die durch Vielsaft oder als Animagi ihre Gestalt verändert haben. Außerdem sind Tarnumhänge nicht berücksichtigt.“

„Ich fürchte, dagegen gibt es keinen Schutz, jedenfalls keinen, der automatisch wirkt“, sagte Aurel. „Gewiss kann man sowohl Personen, die Vielsaft getrunken haben, als auch Animagi in ihre ursprüngliche Gestalt verwandeln, aber das muss man dann auch aktiv tun, indem man den Zauberstab auf sie richtet und die entsprechende Formel anwendet. In die Schutzglocke einarbeiten können wir diese Zauber aber nicht.“

„Was Vielsaft betrifft“, meldete sich nun Cesar zu Wort, „so testen wir Auroren uns vor jedem Einsatz gegenseitig, um sicher zu sein, dass wenigstens wir sauber sind. Im Übrigen müssen wir ohnehin jeden, der sich Hermine nähert, als verdächtig betrachten, mit oder ohne Vielsaft. Animagi? Nun, wir können als Standardverfahren in die Vorschriften aufnehmen, dass jedes Tier getestet wird, das in die Nähe der Ministerin kommt. So viele sind’s ja nicht. Und was Tarnumhänge betrifft: Seit sie nicht mehr hergestellt werden, werden alte Tarnumhänge nicht mehr ersetzt, und da sie nicht geflickt werden können, sind die wenigen verbliebenen allesamt arg ramponiert und taugen nur noch bedingt. Es gibt nur einen einzigen makellosen und alterungsfreien Tarnumhang in England, und den haben Sie.“

„Soweit wir wissen“, korrigierte ihn Harry. Er würde Roy nochmal fragen müssen, wie der Calorate-Zauber genau funktionierte. Absurd! dachte er. Der Chef der Auroren muss einen als Staatsgefährder verdächtigen Hogwarts-Schüler fragen, wie er seine Ministerin schützen kann, weil der einen Zauber beherrscht, von dem die Abteilung noch nie gehört hat.

„Gut. Cesar, sie legen mir noch heute Nachmittag den Entwurf der geänderten Personenschutzrichtlinie vor. Das wäre dann für heute alles zum Thema Personenschutz. Für den Rest der Unterredung brauche ich Aurel allein, vielen Dank, Cesar.“

Der Chef der Personenschutzgruppe verließ das Büro.

„Darf ich fragen, warum Sie sich so für den Personenschutz interessieren, Harry? Ist Hermine in Gefahr?“, fragte Aurel.

„Konkrete Erkenntnisse habe ich nicht“, erwiderte Harry, „aber Hermines Politik ist in Teilen der Öffentlichkeit hochkontrovers. Die jüngsten Ereignisse in Hogwarts könnten der Auftakt zu einer drastischen Verschärfung der innenpolitischen Lage sein. Abstrakt ist Hermine jetzt gefährdeter als noch vor ein paar Tagen. Daher wollte ich auf Nummer sicher gehen.“

„Ich verstehe.“

„Ein Aspekt ist noch unberücksichtigt. Was wäre, wenn ein Schwarzmagier einen Personenschutz-Auror unter seine Kontrolle bringen würde?“

Es war eine Tarngeschichte. Er wollte Mercey nicht darüber aufklären, dass er nicht etwa in seinen Auroren, sondern in Hermine selbst das mögliche Opfer eines solchen Angriffs sah.

„Das Mittel hierzu wäre klassischerweise der Imperiusfluch. Zu dessen Abwehr sind aber doch alle Auroren speziell ausgebildet, oder nicht?“

„Natürlich“, bestätigte Harry. „Und sie sind auch dazu ausgebildet, entsprechende Anzeichen an Anderen wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Der Imperius ist ein alter Hut. Ich wollte wissen, welche Mittel es noch gibt.“

„Dann ist da noch das Eindringen eines nichtkörperlichen Wesens, das den Willen und das Bewusstsein der betreffenden Person ausschaltet. Die Person tut dann Dinge, an die sie sich später nicht mehr erinnern kann.“

„Ja, meine Frau war als Kind einmal davon betroffen.“

„Ein solches Eindringen setzt aber eine intensive, längere physische und psychische Nähe zwischen dem Angreifer und dem Opfer und das Vertrauen des Opfers voraus. Einem Auror dürfte es eigentlich nicht passieren.“

„Gut. Was noch?“

„Eng damit verwandt ist das Eindringen über Blickkontakt. Bisher wurde es nur zum Ausspionieren der Gedanken des Betreffenden benutzt.“

„Aber theoretisch wäre es möglich…“

„…dass der Angreifer sich so festsetzt, dass er nicht nur Gedächtnisinhalte auslesen, sondern die Person auch steuern kann. Allerdings ist bisher kein derartiger Fall bekannt. Im Übrigen sind Auroren in Okklumentik ausgebildet. Ich glaube nicht, dass man sie auf diese Weise knacken kann. Außerdem kann nur ein nichtkörperliches Wesen eine Person dauerhaft kontrollieren. Menschen können eindringen, aber nie lange im Geist eines anderen bleiben.“

„Wenn die Auroren merken, dass ein anderer sie kontrollieren will“, sagte Harry, „können sie immer etwas dagegen unternehmen. Besteht die Möglichkeit, dass ein Schwarzmagier mit oder ohne Körper die Kontrolle über eine fremde Person übernimmt, ohne dass sie es merkt, also so, dass sie den Willen des Anderen für ihren eigenen hält?“

„Das halte ich für ausgeschlossen. Beim Imperius tut der Betreffende, was von ihm verlangt wird, weil sein Wille ausgeschaltet ist, aber er weiß, dass er den Willen eines Anderen ausführt. Es ist ihm nur egal. Auch bei Eindringzaubern der genannten Arten weiß er es oder merkt es spätestens im Nachhinein an seinen Gedächtnislücken. Das Wort ‚ausgeschlossen‘ ist in diesem Zusammenhang natürlich ein relativer Begriff. Ihnen muss klar sein, Harry, dass wir nur die Zauber kennen, die schon einmal angewendet wurden. Wir sind gewissermaßen darauf angewiesen, dass etwas passiert, bevor wir für die Zukunft etwas dagegen unternehmen können.“

„Gegen einen bisher unbekannten Zauber sind wir also…“ Harry sah Aurel fragend an.

„Machtlos.“

17 – Tresodor Sulphangel

 

„Es war gar nicht so wenig, was ich gefunden habe“, sagte Roy und schüttelte einen kleinen Lederbeutel aus, aus dem ein rundes Dutzend winziger Büchlein, jedes kaum größer als ein Hustenbonbon, auf den Tisch purzelten. „Allerdings weiß ich noch nicht, was sie taugen. Wir müssen sie zuerst noch auswerten.“

Die anderen Unbestechlichen, die gerade das Abendessen schnell hinter sich gebracht und sich im Geheimraum der Unbestechlichen versammelt hatten, starrten entgeistert zuerst auf die Bücher, die aussahen, als gehörten sie zur Einrichtung eines Puppenhauses, dann auf Roy.

„Sind die überhaupt lesbar?“, fragte Orpheus.

Roy sah etwas mitleidig in die Runde.

„Dachtet ihr vielleicht, ich lese sie alle in der Bibliothek oder schleppe ein halbes Regal mit mir herum? Ich habe sie zuerst mit Geminio dupliziert, ohne sie aus dem Regal zu nehmen. Dadurch habe ich Pinces Schutzzauber umgangen.“

Die hochbetagte Madam Pince war immer noch Bibliothekarin von Hogwarts und dafür bekannt, ihre Bücher zu verteidigen wie eine Löwenmama ihre Jungen, vor allem die aus der Verbotenen Abteilung.

„Dann habe ich die Duplikate mit Reducio verkleinert und mitgenommen. Die Originalbände stehen unberührt im Regal.“

Er zog seinen Zauberstab und berührte jedes einzelne der Bücher, wobei er jeweils „Engorgio“ flüsterte. Zwölf Bücher lagen nun auf dem Tisch im Raum der Wünsche, darunter ein paar mehr oder weniger stattliche Bände, dazu einige, die eher unscheinbar bis unansehnlich waren. Manche waren sichtlich alt und oft gelesen worden, obwohl sie in der Verbotenen Abteilung standen, andere schienen unberührt.

Sie sahen sich die Bücher an: „Imperius“ von Thomas Barning, ein mindestens hundert Jahre alter Wälzer, aber immer noch das Standardwerk zum Thema. „Kontrollzauber. Ein praktischer Ratgeber“ behandelte fast jede Art von Manipulationszaubern bis hin zu Liebestränken, „Einführung in die Schwarze Magie“, „Handbuch der Aurorenausbildung, Band IV, Seelenkontrollzauber und Schutzmaßnahmen“, „Okklumentik für Fortgeschrittene“, „Neuere Methoden der Kontrolle und Manipulation“, „Jenseits des Imperiusfluchs“, „Seelensteuerung“, „Die dunklen Künste in neuem Licht“, „Feindliche Übernahme“, „Seelenparasiten und wie man sich vor Ihnen schützt“ und schließlich „Das Geheimnis des Dunklen Lords: ein neuer Kontrollzauber“.

„Jeder nimmt sich zwei oder drei Bücher und liest erst einmal quer, ob er etwas Interessantes findet“, schlug Roy vor. „Dann tauscht er mit einem Anderen, damit jedes Buch von vier Augen geprüft wird. Wir suchen sowohl nach Zaubern, die ein Anderer auf Hermie gerichtet haben könnte, als auch nach solchen, mit denen wir selbst sie manipulieren können.“

Sie lasen zwei Stunden lang. Den meisten Büchern konnte man ziemlich genau das entnehmen, was Aurel Mercey einige Stunden zuvor Harry referiert hatte. Sie selbst konnten solche Zauber nicht anwenden, allein schon, weil sie Menschen aus Fleisch und Blut waren, und einen Gegenfluch gegen den eventuellen Zauber eines körperlosen Wesens, was immer das sein mochte, fanden sie in den Büchern auch nicht. Roy las wie die anderen quer und tauschte dann mit Ares.

„Das Geheimnis des Dunklen Lords: ein neuer Kontrollzauber“ war das letzte Buch, das er in die Hand nahm. Es schien das neueste Buch zu sein, anscheinend hatte es überhaupt noch niemand ausgeliehen, aber es wirkte auch am wenigsten vielversprechend: ein unscheinbares Taschenbuch, eher eine Broschüre, kaum sechzig Seiten stark und von schlechter Druckqualität. Ein Literaturverzeichnis gab es nicht, wie Roy enttäuscht feststellte, der solche Verzeichnisse gerade bei neuen Büchern gerne auswertete, um weiterzurecherchieren. Es gab nicht einmal Verlagsangaben, keinen Erscheinungsort, kein Erscheinungsjahr. Offenbar im Selbstverlag des Autors erschienen. „Von Tresodor Sulphangel“ stand auf dem Einband. Und auf der ersten Innenseite eine gedruckte Widmung: „Für meinen Enkel“.

„Da muss die gute Madam Pince ja verzweifelt nach Möglichkeiten gesucht haben, ihr Anschaffungsbudget auszugeben“, brummte Roy. „Sagt euch der Name Tresodor Sulphangel etwas?“, fragte er seine Freunde, die verdutzt aufsahen und die Köpfe schüttelten. „Mir auch nicht“, murmelte er und begann die Einleitung zu lesen:

Seit dem Tod des Dunklen Lords haben seine Bezwinger sich einem billigen und leichtfertigen Triumphgefühl hingegeben. Zwar vergeht kaum ein Tag, an dem nicht hochrangige Vertreter der magischen Welt versichern, man werde aus der Geschichte lernen, und es dürfe und werde nie wieder einen Voldemort geben. Würde man diesen Vorsatz ernstnehmen, nichts wäre selbstverständlicher, als die Methoden dieses Mannes zu studieren und sich insbesondere die Frage vorzulegen, wie er Tausende von Anhängern finden konnte, die bereit waren, für ihn zu sterben. Für die Zaubereiminister, die einander seitdem gefolgt sind, scheint das Problem sich darin zu erschöpfen, ‚Todesser-Gedankengut‘ zu bekämpfen. Fanatiker und Todesser wird, wer die falschen Bücher liest, so die platte Logik hinter diesem Ansatz.

In Wirklichkeit bediente der Dunkle Lord sich ausgefeilter magischer Methoden, um sich den Geist und die Seele jedes einzelnen seiner Gefolgsleute gefügig zu machen, und diese Methoden können im Prinzip von jedem Machthaber und jedem Verbrecher angewendet werden, und zwar ganz unabhängig von den ideologischen Denkfiguren und Vorwänden, auf die er sich öffentlich berufen mag. Sie sind umso gefährlicher, je weniger sie bekannt sind und je weniger man daher mit ihrer Anwendung rechnet.

Ich selbst war einer der Anhänger Voldemorts, gehörte zum Führungskreis der Todesser und lebe seit dem Tod des Dunklen Lords im Untergrund. Ich hoffe, der geneigte Leser hat unter diesen Umständen Verständnis dafür, dass ich meinen wirklichen Namen nicht nennen kann und ihn trotzdem um sein Vertrauen bitten muss. Ich war selbst den Manipulationstechniken des Dunklen Lords ausgesetzt und habe alle seine Befehle getreulich erfüllt. Seine Macht über meinen Geist und meinen Willen endete erst mit seinem Tod, aber sogar danach brauchte ich mehrere Jahre, um die Techniken zu durchschauen, mit deren Hilfe er mich beherrscht hatte, und noch länger, um die Schwächen zu begreifen, die er sich zunutze gemacht hatte, und die in der Seele jedes Menschen mehr oder weniger ausgeprägt vorhanden sind.

Mit diesem Buch möchte ich einen kleinen Beitrag dazu leisten, diejenigen Menschen aufzuklären und zu wappnen, die den ideologischen Beruhigungspillen des Ministeriums ebenso misstrauen wie dem Ministerium selbst.

Tresodor Sulphangel, im Juli 2010

 

Gerade vom letzten Satz fühlte Roy sich angesprochen: Mit seiner speziellen Schnell-Lesetechnik las er das schmale Bändchen schnell durch.

„Ich hab’s!“, rief Orpheus, der gerade in „Kontrollzauber. Ein praktischer Ratgeber“ schmökerte, eine Weile später. Er grinste.

„Wir verabreichen Hermie einen Liebestrank, durch den sie sich in einen von uns verliebt und dann vor lauter Verliebtheit das tut, was er von ihr verlangt.“

Alle lachten.

„Eine hervorragende Idee“, gluckste Roy, der gerade mit Sulphangels Büchlein fertig war, „sofern einer von uns in Kauf nimmt, dass Hermie ihm in den Schlafsaal nachsteigt.“

„Ach, ich könnte mir Schlimmeres vorstellen“, flachste Julian. „Sie ist nicht ganz meine Altersklasse, sieht aber immer noch verdammt gut aus. Also, ich würde mich schon opfern.“

„Ich auch!“, riefen Orpheus und Ares gleichzeitig.

Arabella verdrehte ihre Augen zur Decke und ächzte: „Männer!“

Dann musste sie aber doch kichern.

„Die Idee hat natürlich ihren Reiz“, sinnierte Roy, „ich meine natürlich den Reiz der Originalität“, fügte er rasch hinzu, nachdem er Arabellas Blick aufgefangen hatte. „Bevor ihr aber anfangt, in Phantasien zu schwelgen, in denen Hermie eure Geliebte ist, weise ich vorsichtshalber darauf hin, dass es nicht funktionieren wird: Ein Liebeszauber ist daran erkennbar, dass der Betroffene leicht bekifft wirkt. In dem Moment, in dem Hermie eine Affäre ausgerechnet mit einem von uns anfängt, wird sie ins St. Mungo eingeliefert, und dort wird man ihr den Liebeszauber sehr schnell austreiben.“

„Schaaaade!“, riefen Orpheus, Julian und Ares wie aus einem Mund.

„Ich glaube aber, ich habe etwas gefunden“, tröstete sie Roy, der nun wieder ernst wurde. Er las ihnen zunächst Sulphangels Einleitung vor.

„Klingt auf jeden Fall spannend“, meinte Julian, „lies weiter“.

Roy las die wichtigsten Passagen vor:

 

Jeder Mensch verfügt von Natur aus über ein bestimmtes angeborenes Grundwissen über sich und die Welt und ist insbesondere in der Lage, Gut und Böse zu unterscheiden. Dieses Wissen ist in seiner Seele verankert. Den Teil der Seele, der Gut und Böse zu unterscheiden vermag, nennen wir das Gewissen. Ein seelisch gesunder Mensch ist einer, bei dem Geist und Seele harmonieren und der Geist, einschließlich des bewussten Willens, sich dem Gewissen unterordnet. Bei einem seelisch ideal gesunden Menschen gibt es keine Kluft zwischen Geist und Seele, zwischen dem, was er als das Gute erkannt hat, und dem, was er tut oder anstrebt.

Gewiss ist dies ein Idealzustand, der nur selten erreicht wird. Die meisten Menschen sind mehr oder weniger weit von ihm entfernt, und kaum jemand wird sich, wenn er ehrlich ist, ganz davon freisprechen können, außer dem Guten und Richtigen bisweilen auch das Böse oder Falsche zu tun. Fast jeder wird im Einzelfall Gründe finden, sich über die Stimme seiner Seele, seines Gewissens, seines eigentlichen Selbst hinwegzusetzen. Aber auch wirkliche Verbrecher, sofern sie nicht pathologisch veranlagt sind, wissen doch immerhin, dass ihr Handeln böse ist. Dass ihr Gewissen als solches intakt ist, erkennt man daran, dass sie es nötig haben, Rechtfertigungsgründe, und wären sie noch so fadenscheinig, für sich selbst zu suchen. Bereits die bloße Suche nach Gründen, sich über das eigene Gewissen hinwegzusetzen, ist freilich in sich problematisch. Sie bedeutet nicht weniger, als dass der Geist sich von der Seele zu emanzipieren versucht.

In gewisser Weise ist dem Menschen seine eigene Seele mit dem ihr innewohnenden Wissen um das Gute lästig. Sie hindert ihn, seiner Habgier, seinem Geltungsdrang, seiner Sucht nach Anerkennung und Macht, seiner Eitelkeit, seinem Neid, seinem Zorn und seinen animalischen Trieben nachzugeben. Er erfährt das Gewissen, und das heißt: seine eigene Seele, nicht als Teil seiner selbst, sondern als strenge Gouvernante, und dies genau in dem Maße, wie die genannten Laster seinen Geist und überhaupt sein aktives Dasein und Erleben beschäftigen. Das tätige, bewusste Ich ist stets in Gefahr, den Kontakt zu dem schlechthin gegebenen Ich seiner Seele zu verlieren, in dem es wurzelt. Je größer die Kluft zwischen den beiden Ichs wird, desto mehr wird der einzelne Mensch sich selbst zum Feind. Die Freiheit, die er sucht, ist die Freiheit von der eigenen Seele. In dem Streben nach unbedingter Autonomie, durch die er hofft, ganz er selbst zu werden, entfernt er sich von sich selbst, im Extremfall so sehr, dass er nie wieder zu sich zurückfindet.

Ein gesunder Mensch gleicht einer Festung, in die das Böse nicht eindringen kann, weil die Risse zwischen Geist und Seele zu schmal für es sind. Ein Schwarzer Magier, der die Seele eines solchen Menschen unterwerfen wollte, wäre darauf angewiesen, durch Täuschung seine Liebe zu erwerben, um gleichsam als Trojanisches Pferd einzudringen. Aber auch wenn ihm dies gelingt, wird er in dem Moment enttarnt, wo er die Maske fallen lässt, und die Seele des Betroffenen wird ihm ihren verzweifelten Widerstand entgegensetzen. Um dies zu vermeiden, muss er das Bewusstsein seines Opfers ausschalten. Dieses tut dann zwar, was er verlangt, aber nach Art einer Marionette, ohne es zu wollen und ohne sich später an das Getane erinnern zu können.

Diese Mühe kann der Schwarze Magier sich ersparen, wenn er in Menschen eindringt, bei denen die Kluft zwischen Geist und Seele für seine Zwecke breit genug ist. Er kann sich dann in dieser Kluft festsetzen. Aus der Sicht des bewussten Geistes kommen die Befehle, die der Schwarze Magier ihm erteilt, aus derselben Richtung, aus der sonst die des Gewissens kommen, das heißt, der Geist verwechselt die Seele des Schwarzmagiers mit seiner eigenen und seine Befehle mit denen seines Gewissens. Ihm ist nicht bewusst, dass er zunehmend einem fremden Willen unterworfen wird, und deswegen leistet er keinen Widerstand. Im Gegenteil erfährt er es als etwas Angenehmes: Hielt sein Gewissen seinen bösen Wünschen vorher störrisch sein ewiges „Du sollst nicht“ entgegen, so sagt das neue „Gewissen“: „Du darfst, was du willst, und du sollst es sogar.“ Das, was seine Seele von Natur aus als Böse erkennt, erscheint dem Geist, seinem bewussten Ich, in dem Maße als das eigentlich Gute, in dem der Kontakt zu seiner wirklichen Seele verlorengeht und durch die Bindung an die fremde, böse Seele des Schwarzen Magiers ersetzt wird.

Dieser Prozess vollzieht sich nicht von heute auf morgen. Die Bindung wird langsam aufgebaut, der eindringende Magier knüpft gleichsam immer neue Fäden, die ihn mit dem Geist seines Opfers verbinden, und kappt dafür nach und nach diejenigen, die den Geist und die wirkliche Seele des Betroffenen miteinander verknüpfen. Wenn die letzte Bindung zwischen den beiden Ichs des Opfers gekappt ist und die Seele des Magiers sich als die neue „Seele“ der betroffenen Person etabliert hat, beginnt für deren wirkliche Seele ein verzweifelter Todeskampf. Von der feindlichen Seele des Magiers wird sie immer mehr zurückgedrängt und in ein auswegloses, immer enger werdendes Verlies gesperrt, aus dem ihre Hilfeschreie niemanden erreichen. Ihr Widerstand wird immer matter, bis sie schließlich stirbt.

Für die Mitmenschen des Opfers ist der Gesamtvorgang kaum zu durchschauen:

Zum einen, weil er sich in kleinen Schritten vollzieht und der Betroffene daher noch lange Zeit Züge seines wirklichen Wesens behält, zumindest solange seine Seele noch nicht völlig vom Geist abgeschnitten ist und der Schwarze Magier sich zunächst damit begnügt, das Verhalten der betroffenen Person nur punktuell und im Einzelfall direkt zu steuern.

Zum anderen, weil diese Art des Kontrollzaubers im Gegensatz zum Imperiusfluch und zum „trojanischen“ Eindringen zu weitaus weniger drastischen, sichtbaren Verhaltensänderungen führt, denn der Trick besteht ja gerade darin, das Opfer zu genau dem Verhalten zu ermutigen, das es von sich aus gerne zeigen würde und nur so lange nicht an den Tag legt, wie sein Gewissen – sein eigenes Gewissen – es daran hindert.

Von außen ist lediglich eine wachsende Verhärtung und Rücksichtslosigkeit feststellbar, für die der zunehmend von Gewissensbindungen „befreite“ Geist aber stets gute, logische Gründe finden wird, und dies umso leichter, je mehr die Motive und Ziele, auf die er sich beruft, bei besagten Mitmenschen, mit denen er engen Kontakt hat, auf Zustimmung stoßen, und nur die Mittel als moralisch fragwürdig erscheinen.

Sein durch die „Befreiung“ vom Gewissen wachsendes Sendungs- und Selbstbewusstsein wird ihm oft sogar die Bewunderung seiner Umwelt für seine Dynamik und Entschlossenheit verschaffen, weil seine Mitmenschen die tödliche seelische Krankheit nicht durchschauen, der er diese Entschlossenheit verdankt. Er entwickelt eine Art von dunklem Charisma, das selbst solche Menschen in seinen Bann zieht, die selbst nicht verhext sind, aber ebenfalls gegen ihr eigenes Gewissen rebellieren und deshalb insgeheim froh sind, dass der kranke Charismatiker ihnen die Gründe und Rechtfertigungen für ein Verhalten gibt, vor dem sie von sich aus zurückschrecken würden.

Die Kernmannschaft des Dunklen Lords, die eigentlichen Todesser, bestand ausschließlich aus solchen Menschen, deren Geist dem Dunklen Lord bereits bis zur Hörigkeit unterworfen war, die aber gerade deshalb wiederum andere auch ohne Kontrollzauber in ihren Bann ziehen konnten. Bei einigen wenigen bestand noch eine dünne Verbindung zu ihrem eigentlichen Selbst, bei den meisten war die Seele bereits in ihrem Gefängnis isoliert, bei ganz wenigen, so glaube ich heute, war sie völlig abgestorben. Sie konnten den Tod ihres Meisters nicht überleben, weil mit ihm auch ihre falsche Ersatzseele starb, die sie am Leben erhalten hatte.

Ein Voldemort, dem es um Macht ging, nahm naturgemäß Seelen ins Visier, die ihrerseits Freude an der Ausübung von Macht hatten. Es wäre ganz sinnlos gewesen, sich auf Menschen zu konzentrieren, deren Schwäche zum Beispiel in ihrer Habgier oder Geilheit bestanden hätte. Selbstverständlich spannte er auch solche Menschen für seine Ziele ein, aber sie gehörten nicht zum Kern seiner Mannschaft. Die vielen Verbrecher, die während seiner Herrschaft für ihn arbeiteten, durften zwar das Zeichen der Todesser tragen, aber weder sie selbst noch Voldemort gaben sich je der Illusion hin, in dieser Beziehung etwas anderes als eine Geschäftsbeziehung zum wechselseitigen Vorteil zu sehen, die an dem Tag enden würde, wo eine der beiden Seiten der anderen nicht mehr bedurfte.

Da seine Strategie darauf beruhte, tatsächlich vorhandene Eigenschaften und Schwächen seiner Opfer für sich auszunutzen und sie in diesen Eigenschaften zu bestärken, brauchte er Opfer, deren Laster die Lust an der Ausübung von Macht war. Solche Opfer fand er unter Idealisten viel eher als unter Verbrechern. Es ist wichtig zu sehen, dass die Anfälligkeit für das Eindringen des Bösen nichts damit zu tun hat, ob die jeweiligen Ideale in sich gut oder böse sind. Ich glaube heute, dass es so etwas wie gute Ideale gar nicht gibt, zumindest nicht, sofern man unter einem Ideal eine bestimmte Vorstellung davon versteht, wie die Gesellschaft gestaltet sein sollte. Wer ein solches Ideal, wie auch immer es konkret aussehen mag, für etwas schlechthin Gutes hält, kann gar nicht anders, als in dessen Gegnern das vermeintlich schlechthin Böse zu bekämpfen, und seine Mitmenschen notfalls mit Gewalt zu zwingen, dem vermeintlich Guten nachzueifern.

Scheinbar altruistische Ziele, also solche, die nicht dem unmittelbaren, handgreiflichen Eigeninteresse des Idealisten zu dienen scheinen, sind sogar ein besonders geeigneter Vorwand, der es ihm erlaubt, sein Gewissen zu übergehen, übrigens sogar dann, wenn zufällig kein Schwarzmagier bereitsteht, um in ihn einzudringen. Sie ermöglichen ihm, sich über seine eigene Lust an der Macht, eventuell auch am Töten und an der Zerstörung, hinwegzutäuschen. Das vermeintlich gute Ziel heiligt dann jedes, auch das verbrecherischste Mittel, und der Idealist steht nur noch vor dem Problem, sein eigenes Gewissen zum Schweigen zu bringen. Genau diese Konstellation ist, wie wir gesehen haben, die ideale Voraussetzung für das Eindringen des Schwarzen Magiers.

Genaueres über die magische Technik, die Voldemort zum Eindringen benutzte, werde ich nicht preisgeben, um möglichen Nachahmern nicht noch zu helfen. Solche Nachahmer wird es geben, solange es potenzielle Opfer gibt, das heißt immer.

 

Roy klappte das Buch zu.

„Klingt wie auf Hermie gemünzt“, meinte Julian. „Ja, das könnte es sein.“ Er dachte nach. „Allzu viel wissen wir aber immer noch nicht. Vor allem nicht genug, um einen Gegenzauber zu entwickeln. Der Autor weiß mehr, als er sagt. Man müsste ihn ausfindig machen, um mehr herauszufinden.“

„Wenn er wirklich zum engeren Kreis der Todesser gehörte“, sagte Roy, „und er Potters Auroren fast zwanzig Jahre lang entwischt ist – wie wollen wir ihn dann finden? Wir kennen nicht einmal seinen richtigen Namen, er sagt ja selbst, dass es ein Pseudonym ist.“

„Darf ich mal?“, fragte Orpheus. Roy reichte ihm das Buch. „Tresodor Sulphangel, hm.“ Er überlegte. „Roy, du hast seinen Namen Sulp-Hangel ausgesprochen. Ich glaube, es muss Sulph-Angel heißen.“

„Sulph-Angel?“, fragte Roy verdutzt. „Sulphur Angel – Schwefel-Engel?“

„Ein sehr beziehungsreicher Name.“ Orpheus lächelte befriedigt, er liebte das Spiel mit Worten. „Schwefel, der teuflische Stoff, verbunden mit einem Engel. Der Teufel – der gefallene Engel. Passt ziemlich gut auf einen, der aus Idealismus zum Verbrecher wird. Oder umgekehrt: Der frühere Teufel reinigt seine Seele vom Bösen, um wieder engelsgleich zu werden.“

„Und Tresodor?“, wollte Roy wissen. „Theodor ist geläufig, aber Tresodor?“

„Vielleicht“, ergriff Julian nun das Wort, der fließend Französisch sprach, „ist es Französisch. Zum Beispiel eine Zusammenziehung von Trésor d’or, Goldschatz. Oder vielleicht Très odeur? Äh – sehr Geruch? Hm. Der stark riechende Schwefelengel? Der stark nach Schwefel riechende Engel?“

„Würde ebenfalls passen, auch wenn die Grammatik hinkt“, meinte Orpheus wieder. „Trotzdem merkwürdig: Er nennt sich ja nicht ‚Tresodeur‘, sondern ‚Tresodor‘. Vorname mehr oder weniger französisch, Nachname eine Art Englisch. Wozu dieser Mix aus zwei Sprachen…“

Er hatte immer leiser gesprochen und zum Schluss nur noch gemurmelt. „Die Buchstaben sind vorgegeben…“ sagte er mehr zu sich selbst als zu den anderen, die sich aber hüteten, seinen Gedankengang zu unterbrechen, denn Orpheus war ein Genie – „… ein Anagramm…“

Orpheus zückte seinen Stab und zauberte den Namen auf ein Blatt Pergament:

TRESODOR SULPHANGEL

„Drehen wir es mal um…“, murmelte er.

RODOSERT LEGNAHPLUS

„Das PH ist als F zu sprechen, darf also nicht umgedreht werden…“

RODOSERT LEGNAPHLUS

„Tauschen wir mal zwei Silben…“

RODOPHLUS LEGNASERT

„Rodophlus?“, flüsterte Orpheus und starrte das Pergament an. Dann hob er langsam den Kopf und sah entgeistert zu Julian. „Ich weiß jetzt, wer der Autor ist“, flüsterte er, „und er hat wirklich einen französischen Namen.“

Er schrieb ihn auf. Dann sagte er: „Der Enkel, dem das Buch gewidmet ist, bist du!“, und reichte Julian das Blatt:

RODOLPHUS LESTRANGE“

Julians Kinnlade klappte herunter. Er schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein“, sagte er schließlich. „Das Buch ist vor sieben Jahren erschienen, mein Großvater ist aber seit fast zwanzig Jahren tot!“

„Steht das fest?“, wollte Roy nun wissen. „Ich meine, warst du mal an seinem Grab?“

Julian lächelte gequält. „Glaubst du, mein Alter würde mir verraten, wo sein Grab ist? Er soll wie seine Frau in der Schlacht um Hogwarts gefallen sein. Heißt es.“

„Wenn nicht, müsste sein Name auf einer Fahndungsliste des Ministeriums stehen. Wie auch immer, wir sind doch nächsten Sonntag bei einem eingeladen, der es wissen muss. Du könntest Potter zum Beispiel fragen, ob er weiß, wo dein Großvater begraben ist.“ Roy hatte seinen Freunden schon am Morgen von der nächtlichen Begegnung mit Harry und der Einladung erzählt.

„Glaubst du, der sagt mir das?“, fragte Julian zweifelnd.

Roy nickte: „Wenn er es weiß – warum nicht? Du bist Rodolphus‚ Enkel, es ist dein gutes Recht, es zu erfahren. Wenn aber immer noch nach ihm gefahndet wird, hat Potter keinen Grund, dir das zu verschweigen.“

„Wir haben aber noch ein Problem“, überlegte Julian. „Du wolltest ihm das Buch doch sicher zeigen, oder?“

„Hatte ich vor, ja“, erwiderte Roy, „und?“

„Das Problem, mein Freund, besteht darin, dass Potter den Namen des Verfassers ebenso gut herausfinden könnte wie Orpheus. Bestimmt gibt es in der Aurorenabteilung Entschlüsselungsspezialisten. Sollte mein Großvater noch am Leben sein, würde Potter es auf diese Weise erfahren. Und dann würde er verstärkt nach ihm fahnden, das heißt, wir hätten ihn ans Messer geliefert. Das will ich auf keinen Fall!“

„Gut“, sagte Roy nach einer Pause. „Wir sagen es ihm nicht.“

18 – Bei Potters zum Tee

 

Am Sonntagnachmittag um kurz vor drei warteten Roy und Albus in dem Korridor vor McGonagalls Büro, durch dessen Kamin sie zu den Potters reisen wollten, auf Julian.

„Wo er nur bleibt?“, wunderte sich Albus.

„Er sagte, er wolle noch etwas Wichtiges holen, was auch immer es sein mag – ach, da kommt er ja.“

Julian eilte mit schnellen Schritten auf sie zu. Unter seinem Umhang verbarg er etwas, das ziemlich groß, aber nicht schwer zu sein schien. Als er bei den beiden ankam, zog er einen riesigen Blumenstrauß hervor.

„Oh, peinlich, daran hatte ich gar nicht gedacht“, meinte Roy verlegen.

„War mir klar“, grinste Julian. „Macht aber nichts, der Strauß ist natürlich von uns beiden.“

Julians Blumen waren überirdisch schön und ähnelten keiner Blumenart, die Roy oder Albus je gesehen hätten. Beide versenkten sich einen Moment in den Anblick dieser überwältigenden Pracht. Schließlich riss Roy sich davon los:

„Wo hast du die denn her?“, fragte er bewundernd.

„Ach, Helen Witherspoon hat mir einen kleinen Blumenzauber gezeigt, mit dem du ganz normale Wiesenblumen dazu kriegst, die herrlichsten Formen anzunehmen.“

„Ich verstehe“, meinte Roy.

Helen, eine Ravenclaw, war ein As in Kräuterkunde und Longbottoms Lieblingsschülerin. Sie war ein wenig unscheinbar, aber wie die meisten Mädchen in Hogwarts (sogar die Gryffindors, diese natürlich nur hinter vorgehaltener Hand) schwärmte sie für Julian.

„Und vermutlich hast du ihrer Hilfsbereitschaft mit deinen blauen Strahlern kräftig nachgeholfen.“

In der Tat verfügte Julian über die Gabe, seine ohnehin beeindruckenden blauen Augen wie Scheinwerfer leuchten zu lassen, wenn er besonders charmant sein wollte.

„Nun ja“, grinste Julian, „wenn man’s kann…“

Er betätigte die Büroglocke, und kurz darauf standen sie im Büro von Professor McGonagall und bedankten sich dafür, McGonagalls Kamin für die Reise benutzen zu dürfen. Albus stieg als erster in die grünen Flammen. Die beiden Großen ließen ihm eine Minute Zeit, seine Eltern zu begrüßen und sie beide anzukündigen, dann stiegen auch sie in den Kamin und verschwanden. McGonagall, die den Blumenstrauß gesehen hatte, schüttelte lächelnd den Kopf.

„Das sind meine Freunde Roy MacAllister und Julian Lestrange“, stellte Albus die beiden mit einem gewissen Stolz seiner Mutter vor, als sie aus dem Kamin der Potters stiegen. Beide reichten ihr mit einer leichten Verbeugung und einer höflichen Begrüßung die Hand, dann zog Julian den Blumenstrauß aus dem Umhang.

„Ach, sind die schön!“ Ginny war ganz entzückt. „Wo haben Sie die denn her?“

„Selbstgezaubert, Madam“, erwiderte Julian und ließ seine Augen ein wenig leuchten. „Wir dachten, für Sie sollte es etwas Besonderes sein.“

Roy warf Julian einen zweifelnden Blick zu. Trägst du nicht ein bisschen dick auf? Aber Ginny, die immer noch hingerissen war, lächelte durchaus geschmeichelt.

„Dann hole ich mal eben eine Vase. Nehmen Sie schon einmal Platz, mein Mann kommt auch gleich. Ach ja, und ich heiße Ginny. Meine Güte, was für herrliche Blumen…“

Während sie entschwand, Albus seinem Vater entgegeneilte und sie beide es sich auf dem Sofa bequem machten, raunte Roy seinem Freund nicht ohne Neid zu:

„Gibt es eigentlich irgendeine Frau, die du nicht um den Finger wickelst?“

„Gibt es!“, flüsterte Julian zurück. „McGonagall.“ Beide glucksten. „Und natürlich Arabella“, fügte Julian süffisant hinzu, während Roy leicht errötete.

Harry, Albus und Ginny kamen gleichzeitig wieder ins Wohnzimmer. Ginny dirigierte mit ihrem Zauberstab die Vase, ein Teeservice und eine Kuchenplatte mit dem Geschick eines altgedienten Jongleurs so, dass alles unfallfrei seinen Platz fand. Die Teekanne füllte selbständig die Tassen, während Albus Julian und Harry einander vorstellte.

Als sie saßen, herrschte einen Moment lang Schweigen, das schließlich von Harry unterbrochen wurde:

„Sagen Sie“, richtete er die Frage an Roy und Julian gleichzeitig, „wie kommt es eigentlich, dass Bernard Wildfellow jetzt ein Slytherin ist – wo er doch mit den Slytherins… Probleme gehabt haben soll?“

Roy und Julian schauten verblüfft drein. „Was für Probleme?“

„Na ja“, sagte Harry irritiert, „er soll gemobbt worden sein?“

„Aber doch nicht von uns“, protestierte Roy, „sondern von den Hufflepuffs. Hat man ihnen etwas Anderes erzählt?“

„Also, so ganz genau hat man es mir nicht erzählt.“

Hermine hatte nicht ausdrücklich die Slytherins beschuldigt, aber Bernies Misshandlung als Beispiel für die immer noch grassierende Muggelfeindlichkeit in Hogwarts angeführt. Es klang, als seien die Slytherins gemeint, aber direkt behauptet hatte sie es nicht.

Roy warf Albus nun einen verwunderten Blick zu: „Hast du deinen Eltern nicht erzählt, wie es war?“

„Nein“, antwortete Albus und wurde etwas rot. „Ich… ich wollte nicht angeben.“

„Na, dann werde ich einmal ein bisschen für dich angeben, wenn du gestattest.“

Roy wandte sich wieder Harry und Ginny zu: „Eine Horde Hufflepuffs hat Wildfellow verprügelt, und ein Slytherin, nämlich Ihr Sohn“ – er machte eine leichte Verbeugung im Sitzen – „hat ihn herausgehauen. Also, er hat versucht, ihn rauszuhauen, und dabei selber fürchterlich Prügel bezogen. Von den Hufflepuffs. Von McGonagall fünfzig Punkte für moralisch vorbildliches Verhalten.“

„Wirklich?“, fragten Ginny und Harry wie aus einem Mund. Während Harrys Blick zum Portrait seiner Mutter Lily wanderte, die glühend vor Stolz aus ihrem Rahmen strahlte, nahm Ginny ihren Sohn in den Arm, knuddelte und küsste ihn. „Mama, bitte!“ Albus fand solche mütterlichen Gefühlsausbrüche in Gegenwart von Freunden immer peinlich. Die beiden Großen lächelten aber verständnisvoll, Roy sogar – so kam es Albus vor – ein bisschen wehmütig.

„Tja, und Wildfellow“, fuhr Roy fort, „revanchierte sich, indem er demonstrativ auf unsere Seite wechselte, als die anderen Häuser ihre Todesser-Chöre grölten. Da musste ich ihn einfach in Slytherin aufnehmen. Das geht zwar weit über meine Kompetenzen hinaus, aber McGonagall hat es glücklicherweise abgesegnet.“

„Davor warst du aber dagegen!“, erinnerte Albus ihn.

„Davor stand zur Debatte, ihm aus Mitleid gewissermaßen Asyl zu geben“, erwiderte Roy. „Jetzt haben wir ihn aufgenommen, weil er ein Prachtkerl ist und schon deshalb nach Slytherin gehört. – Äh, ich meine…“

Er lief rötlich an. Zu spät war ihm eingefallen, dass seine letzte Bemerkung gegenüber seinen Gryffindor-Gastgebern vielleicht nicht sehr höflich war. „…wie jedes Haus wollen wir natürlich die Besten haben.“

Harry lächelte. „Ist schon gut. Seit Albus in Slytherin ist, habe ich über euer Haus viel nachgedacht.“

„War es wirklich kein Schock für Sie?“, wollte Julian wissen.

„Ein Schock? Nein. Ehrlich gesagt, hatte ich damit gerechnet. Ich habe es jahrzehntelang für mich behalten und es Albus erst neulich am Bahnhof gesagt.“ Er zögerte, aber warum sollte er es nicht erzählen? „Wenn es nach dem Sprechenden Hut gegangen wäre, wäre auch ich damals nach Slytherin gekommen. Die hätten mich auch gerne gehabt, Draco Malfoy hatte mich im Hogwarts-Express geradezu eingeladen. Nur leider auf eine so widerliche und arrogante Art, dass ich den Hut schon deshalb anflehte, mich nicht nach Slytherin zu schicken. Nur deshalb wurde ich zum Gryffindor.“

Eine Pause trat ein.

„Ich frage mich manchmal“, fuhr Harry gedankenverloren fort, „wie alles gekommen wäre, wenn ich auf den Sprechenden Hut vertraut hätte.“

„Du hättest Draco Malfoy ertragen müssen“, warf Ginny ein, „der Hermine ständig als Schlammblut beschimpfte, hast du das schon vergessen?“

„Vielleicht hätte er es nicht getan, wenn Harry ein Slytherin gewesen wäre“, gab Roy zu bedenken. „Ich glaube, es kommt in jedem Haus, und überhaupt in jeder größeren Gruppe von Menschen, immer nur auf ganz wenige an. Neunzig Prozent lassen sich mitziehen. Welchen Charakter die jeweilige Gruppe hat, hängt immer von den ganz wenigen ab, die nicht mit den Wölfen heulen. Wenn ich Albus beobachte und den günstigen Einfluss sehe, den er jetzt schon nicht nur auf Scorpius Malfoy, sondern auf die ganze erste Klasse und sogar darüber hinaus hat…“

„Ich?“, fragte Albus. „Aber ich tue doch gar nichts.“

„Du bist, wie du bist, und das genügt bereits. Du hast schon weitaus mehr bewirkt, als du ahnst“, sagte Roy und tauschte einen kurzen Blick mit Harry. „Was ich sagen wollte: Angenommen, Sie und Draco wären Freunde gewesen, so wie Albus und Scorpius es sind – hätten Dracos Eltern, die ohnehin nur halbherzige Todesser waren, sich auch dann zum zweiten Mal Voldemort angeschlossen? Und wenn sie als eine der führenden Familien der Zaubererwelt es nicht getan hätten: Hätten sie vielleicht andere mit sich gezogen?“

„Möglich“, meinte Harry nachdenklich. „Es wäre jedenfalls eine Antwort auf die Frage, die mich jahrelang beschäftigt hat, nämlich wieso der Sprechende Hut ausgerechnet bei mir auf eine solche Schnapsidee verfallen konnte.“

„Der Sprechende Hut hat keine Schnapsideen“, sagte Roy im Brustton der Überzeugung. „Wenn man Revue passieren lässt, welche Halbblüter und Muggelstämmigen im Laufe der Jahrhunderte nach Slytherin kamen, erkennt man immer dasselbe Muster: Leute, die in der Muggelwelt, aus der sie kamen, nicht zu Hause waren, in Hogwarts nicht etwa ihre zweite, sondern ihre einzige Heimat fanden, und fest entschlossen waren, diese Heimat zu verteidigen. Ich glaube, Sie hätten mindestens so gut nach Slytherin gepasst wie ich selbst.“

„Was Sie ja nicht hätte hindern müssen, sich in ein Gryffindor-Mädchen zu verlieben“, warf Julian ein, dem nicht entgangen war, dass Ginny Roys Überlegungen offenbar ganz und gar nicht sympathisch fand. Jetzt lächelte sie versöhnt.

„Wissen Sie eigentlich“, fragte Roy jetzt, „dass man sich in Hogwarts heute noch hinter vorgehaltener Hand erzählt, Sie seien wahrscheinlich der wahre Erbe von Salazar Slytherin?“

„Ist dieser Quatsch immer noch im Umlauf?“ Harry schüttelte sich vor Lachen. „Nicht zu fassen!“

„Wie ist das denn entstanden?“

„Das kam daher, dass Voldemort den Basilisken freiließ, den Salazar Slytherin vor tausend Jahren in der Kammer des Schreckens eingesperrt hatte. Nur der wahre Erbe Slytherins könne das, hieß es. Ich wurde damals verdächtigt, weil ich der einzige Parselmund an der Schule war. In Wahrheit war das mit dem ‚Erben Slytherins‘ ein Mythos. Slytherin hatte die Kammer des Schreckens so verschlossen, dass nur eine Parselzunge sie öffnen konnte, ich genauso wie Voldemort. Das war alles. Mit irgendwelchen magischen Erbschaften hatte es nichts zu tun. Voldemort war natürlich fasziniert davon und fest überzeugt, selbst der Erbe zu sein.“

„Tja…“ meinte Roy. „Vielleicht waren Sie ja tatsächlich der Erbe Salazars und konnten Ihr Erbe nur deshalb nicht antreten, weil Sie kein Slytherin waren…“

„Ich bitte Sie, Roy, ich war es nicht und wäre es auch als Slytherin nicht gewesen. Salazar Slytherin wollte nur reinblütige Zauberer zulassen…“

„…was den Sprechenden Hut, den ideellen Nachlassverwalter der vier Gründer, aber nicht gehindert hat, Halbblüter und sogar rein Muggelstämmige nach Slytherin zu schicken.“

„Trotzdem entsprach sein Programm genau dem der Todesser tausend Jahre später. Also wenn es jemals einen ‚Erben Slytherins‘ gab, dann war es wirklich Voldemort.“

„Ich fürchte, da muss ich widersprechen“, antwortete Roy und lehnte sich nach vorn: „Dasselbe Programm, angewandt in völlig unterschiedlichen und unvergleichbaren Situationen, ist nicht dasselbe Programm.“

Harry war überrascht. „Wie meinen Sie das?“

„Vor tausend Jahren waren Zaubererwelt und Muggelwelt nicht voneinander getrennt, beide Gemeinschaften lebten in derselben Welt, und in dieser Welt wurden Hexen und Zauberer verfolgt. Es war unabweisbar, die tausend Fäden zu kappen, die Zauberer und Muggel miteinander verbanden. Salazar wollte die Trennung so schnell wie möglich. Unter dieser Voraussetzung, das heißt, um einen sauberen Strich zu ziehen, war es sinnvoll, nur reinblütigen Zauberern Zugang zu gewähren, und alle anderen draußenzulassen. Das war der Hintergrund für das Zerwürfnis mit den anderen Gründern, die die Trennung nicht, jedenfalls nicht so schnell und gründlich wollten. Am Ende hat Slytherin recht behalten: Spätestens seit 1689 sind die Welten getrennt, aber in den Jahrhunderten, die in der Zwischenzeit vertrödelt wurden, wären Hexen und Zauberer beinahe ausgerottet worden.“

Roy machte eine Pause und fuhr dann fort:

„Ganz anders war die Lage, als Voldemort auf der Bildfläche erschien. Unsere Historiker haben viel Tinte vergossen, um die Todesser zu verdammen, aber kaum einer hält es für nötig, die Frage zu stellen oder gar zu beantworten, warum Voldemort Anhänger finden konnte.“

„Klingt so, als ob Sie eine Antwort hätten“, fragte Harry neugierig, nicht spöttisch.

„Ich glaube“, sagte Roy, „dieses ganze Todessertum war im Grunde eine Art Flucht nach vorn. Jeder, der es sehen wollte, konnte im zwanzigsten Jahrhundert sehen, dass die Muggel ihren technischen Vorsprung mit jedem Tag ein wenig mehr ausbauten. Die Muggeltechnologie entwickelte sich viel schneller als die Zauberei, die Muggelzivilisation reifte allmählich zur Bedrohung. In dieser Lage taten die Todesser das genaue Gegenteil von dem, was Salazar Slytherin gefordert hatte. Sie sagten nicht: Wir verteidigen die Trennlinie zwischen magischer und Muggelwelt. Sie sagten: Wir beseitigen die Trennung wieder, wir stellen den Kontakt zwischen magischer und Muggelwelt wieder her, aber so, dass wir, die Zauberer, die Muggel beherrschen, bevor sie uns beherrschen. Die Grenze zwischen zwei Welten sollte durch eine Grenze zwischen oben und unten ersetzt werden, und weil eine solche Diktatur nur von einer Zaubererkaste mit herausragenden magischen Fähigkeiten hätte ausgeübt werden können, verfielen sie auf den Gedanken, eine Art magischer Superrasse zu züchten. Mit den Zielen und Ideen Slytherins hatte das überhaupt nichts zu tun. Es war völlig anachronistisch von den Todessern, sich auf ihn zu berufen. Slytherin wollte nicht die Muggel unterjochen, sondern die Zauberer verteidigen. – Verstehen Sie jetzt, warum ich in Ihnen einen wesentlich legitimeren Erben Slytherins sehen würde als in Voldemort?“

„So habe ich es noch nie gesehen…“ sagte Harry. Meine Güte, mit seinen sechzehn Jahren steckt dieser Kerl manchen Professor in die Tasche!

„Aber wenn der technische Vorsprung der Muggel eine solche Gefahr ist“, sagte Ginny, „– und ich verstehe Sie doch richtig, dass Sie den Todessern zumindest in diesem einen Punkt Recht geben? –, dann ist doch Hermines Politik, von den Muggeln zu lernen, einfach nur vernünftig!“

„Das wäre es in der Tat“, räumte Roy ein, „wenn wir die Mittel hätten, die Muggeltechnologien zu übernehmen und aus eigener Kraft zu beherrschen. Aber daran ist mit nur einigen zehntausend Zauberern nicht zu denken. Selbst große Muggelstaaten sind technologisch nicht autark, eine so kleine Gemeinschaft wie unsere wäre es erst recht nicht. Hermine hat es noch nicht direkt zugegeben, aber um auch nur halbwegs Anschluss an die Muggeltechnologie zu gewinnen, müssten wir die Geheimhaltung gegenüber den Muggeln aufgeben. Wir würden wieder in genau die Muggelwelt zurückkehren, aus der unsere Vorfahren flüchten mussten.“

„Wäre das denn so schlimm?“ Ginny war nicht überzeugt. „Hexenverfolgungen gibt es doch in der Muggelwelt schon lange nicht mehr.“

„Gewiss“, sagte Roy, „aber es gibt sie nur deshalb nicht, weil die Muggel schlicht und einfach nicht glauben, dass so etwas wie Hexerei existiert. In dem Moment, wo die Geheimhaltung aufgegeben wird, fällt dieser günstige Umstand weg.“

„Trotzdem müssten sie uns doch nicht verfolgen. Beide Seiten könnten doch von dem Wissen der jeweils anderen profitieren. Probleme, die mit Zauberei lösbar sind, würden auf magische Weise gelöst, alle anderen auf technischem Weg. Das wäre doch für alle ein Gewinn!“

„Ich fürchte“, meinte Roy höflich, „das ist eine jener Utopien, die in der Theorie wunderbar funktionieren, aber in der Praxis scheitern. Also schön, stellen wir es uns vor: Die Zauberer integrieren sich in die Muggelwelt und können dann auch mit deren Technologien umgehen, wodurch die Muggel ihren Vorsprung verlieren. Zusätzlich könnten wir aber nach wie vor zaubern. Die meisten von uns würden mit ihren Fähigkeiten in der Muggelwelt Karriere machen, an den Schalthebeln der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft säßen immer mehr Zauberer. Klingt gut, was?“

„Ja“, meinte Ginny, „ich sehe jedenfalls nicht, warum wir ein Problem damit haben sollten.“

„Weil die Muggel eins haben werden und sie zweitausendmal zahlreicher sind als wir. Die Erfahrung, was passiert, wenn ein fremdes Volk – und wir wären für die Muggel ein fremdes Volk –, das zahlenmäßig schwach ist, sich als gesellschaftliche Elite etabliert, mussten vor uns nicht nur Juden in Europa machen. Deren Erfahrungen waren besonders grausam, aber grundsätzlich ist die Lage solcher Minderheiten immer prekär: Das gilt oder galt für Chinesen in Südostasien, Inder in Uganda, Weiße in Südafrika und andere mehr. Vielleicht könnte eine kleine Elite der Zauberergemeinschaft sich so unentbehrlich machen, dass sie vor Verfolgungen geschützt wäre. Vielleicht könnte eine solch kleine Elite sich quasi unsichtbar machen und Muggel als Handlanger vorschicken. Aber der große Rest von uns wäre in derselben Lage wie unsere Vorfahren im Mittelalter.“

„Sicher“, Ginny wog den Kopf, „da ist etwas dran. Aber könnten nicht Gesetze uns schützen – also uns und die Muggel? Uns vor Diskriminierung und Verfolgung, die Muggel vor Schadenzauber?“

„Das dürfte ziemlich genau das sein, was Hermie… Verzeihung, Hermine vorschwebt“, erwiderte Roy mit grimmiger Miene. „Ein Staat, dessen innerer Friede nur dadurch gewahrt werden kann, dass eine allmächtige Geheimpolizei jedem Bürger auf den Mund und auf die Finger schaut. Und Sie können sicher sein, dass diese Geheimpolizei genügend Schwarze Magier einkaufen wird, die ihr auch noch sagen, wie sie in die Gedanken der Bürger eindringt. Wahrscheinlich wird dann jeder, der einen politisch unerwünschten Gedanken hat, auf magische Weise zum Selbstmord getrieben.“

„Aber Roy, das ist doch allerschwärzeste Magic Fiction! Das ist doch absurd.“

Nun schaltete Harry sich ein: „Ginny, ich fürchte, das ist nicht absurd. Peter Pettigrew hat vor meinen Augen gegen seinen Willen Selbstmord begangen, als er einmal nicht ganz der willige Handlanger war, den Voldemort brauchte. Ein Staat, der den Willen und die Mittel hätte, diese Art von Schwarzer Magie im großen Stil einzusetzen, wäre tatsächlich die perfekte Diktatur.“

„Aber eine solche Diktatur würde Hermine doch niemals wollen“, wandte Ginny ein.

Roy räusperte sich. „Sie führt aber eine Lage herbei, in der ihr nichts anderes übrigbleiben wird. Außerdem kommt es womöglich gar nicht darauf an, was sie will, weil sie möglicherweise – nicht mehr Herrin ihrer Entschlüsse ist.“

„Sie wollten recherchieren“, griff Harry den Gedanken auf. „Haben Sie denn etwas über einen Fluch gefunden, unter dem sie stehen könnte?“

„Nein, nichts!“, antwortete Julian hastig, noch bevor Roy etwas sagen konnte. Harrys Augenbrauen zuckten, aber er sagte nichts.

„Nichts“, bestätigte Roy. „Und Sie? Oder sind das Dienstgeheimnisse?“

„Wenn wir auf etwas gestoßen wären, würde ich mich jetzt vielleicht auf Dienstgeheimnisse berufen“, sagte Harry. „Wir kennen aber keinen Fluch, durch den Hermine manipuliert worden sein könnte, ohne dass sie es merkt.“

Ein langes Schweigen trat ein. Alle fünf hingen ihren Gedanken nach.

19 – Eine Freundschaft zerbricht

 

„Sagen Sie, Harry“, sagte Julian schließlich und druckste ein wenig, „ähm… wissen die Auroren eigentlich, wo das Grab meines Großvaters ist, Rodolphus Lestrange?“ Es war ihm sichtlich unangenehm, diese Frage zu stellen, da er nicht wusste, wie die Potters darauf reagieren würden, aber sie brannte ihm die ganze Zeit auf den Nägeln.

Harry sah ihn mitfühlend an. „Ich selbst war damals noch kein Auror und weiß es daher nicht. Wenn Sie möchten, kann ich mich aber erkundigen. Ist es wichtig für Sie?“

„Ja“, sagte Julian, „es wäre mir sehr wichtig.“

„Darf ich… darf ich fragen, warum?“, fragte Harry sanft.

Julians Blick hielt sich an der Teetasse fest, die vor ihm auf dem Tisch stand.

„Mein Vater hat mir nie etwas von ihnen erzählt, also nichts Persönliches, immer nur, dass sie Todesser waren und so weiter. Als ob sie nur Todesser und sonst nichts gewesen wären, irgendwie keine Menschen, verstehen Sie? Mein Vater ist selber ein Entwurzelter und hat mich gleich mit entwurzelt. Ich suche nach einer Verbindung zu ihnen.“

Ginny fand diesen Wunsch offenbar etwas befremdlich: „Wollen Sie die Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen? Was immer Sie über Ihre Großeltern herausfinden – etwas Gutes wird es nicht sein.“

Ohne es zu wollen, hatte sie Julians empfindlichsten Nerv angepikst. Er funkelte sie an: „Lassen Sie das bitte mein Problem sein! Ich weiß nicht viel über meine Großeltern, aber eines weiß ich: Opportunisten, die ihr Mäntelchen nach dem Wind hängten, waren sie nicht! Sie sind für Ihre Überzeugungen gestorben!“

Ginny wollte wütend antworten, aber Harry bat sie mit einer Geste zu schweigen. „Ginny, sei froh, dass du aus einer glücklichen Familie kommst und dieses Gefühl der Entwurzelung nicht kennst. Ich glaube, ich kann Julian gut verstehen.“

Er wandte sich wieder Julian zu. „Trotzdem würde ich eines gerne wissen: Haben Sie das, was Sie eben gesagt haben, auch einmal zu Professor Longbottom gesagt?“

„O ja, hat er“, antwortete Roy an Julians Stelle, „es war eine höchst turbulente Unterrichtsstunde, das einzige Mal in fünf Jahren Hogwarts, dass Longbottom richtig laut geworden ist.“

„Können Sie sich denken, warum?“, fragte Harry nun Julian.

„Keine Ahnung“, erwiderte dieser achselzuckend. „Vermutlich ist er einfach ein williger Diener des Ministeriums.“

„Was soll das denn mit dem Ministerium zu tun haben?“, warf Albus nun ein.

„Ganz einfach“, erklärte Julian, „je länger das alles zurückliegt und je toter die Todesser sind, desto mehr erhöht das Ministerium die Schlagzahl seiner Anti-Todesser-Propaganda. In der Sache ist es vollkommen sinnlos, es geschieht als flankierende Maßnahme dessen, was deine Tante die ‚Öffnung zur nichtmagischen Welt‘ nennt. Die magische Gemeinschaft soll darauf dressiert werden, erstens die Todesser für das absolut Böse, zweitens jeden, der die geringsten Vorbehalte gegen Muggel hat, für einen Todesser zu halten. Ich nehme an, bei Longbottom hat die Dressur besonders gut funktioniert.“

„Julian“, rief Albus erregt, „du hast ja überhaupt keine Ahnung, was die Todesser mit seiner Familie gemacht haben. Sie haben…“

„Entschuldige, Albus“, schnitt sein Vater ihm das Wort ab, „ich unterbreche dich nur ungern, aber ich möchte nicht, dass du mehr sagst, als Neville recht wäre.“ Er wandte sich wieder Julian zu. „Davon können Sie natürlich keine Ahnung haben, weil Neville nie darüber spricht und auch nicht möchte, dass seine Freunde es tun. Also nur so viel: Neville Longbottom musste ohne Eltern aufwachsen. Sie waren Auroren und sind eines Tages Rodolphus und Bellatrix Lestrange in die Hände gefallen. Was sie mit ihnen gemacht haben, war so grausam, dass ich es selbst dann nicht aussprechen würde, wenn ich Nevilles Erlaubnis hätte. Ihm sind genauso die Wurzeln ausgerissen worden wie Ihnen und mir, und es waren nun einmal Ihre Großeltern, die es getan haben. Deshalb ist er laut geworden, nicht aus politischen Gründen.“

Julian war blass geworden. „Das wusste ich nicht“, flüsterte er.

„Sie konnten es auch nicht wissen. Ich wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie ihm gegenüber in Zukunft etwas feinfühliger argumentieren würden.“

Julian nickte.

Harry war taktvoll genug, das Thema zu wechseln und fragte Roy: „Wie hat sich eigentlich das Verhältnis zwischen euch und den anderen Häusern entwickelt? Haben die Gryffindors ihre Provokationen fortgesetzt?“ Meine Güte, wie fremd sich das anhört: ‚die Gryffindors‘ – als ob ich nicht auch einer wäre!

„Die Atmosphäre ist weiterhin vergiftet, bei den nichtigsten Anlässen kommt es zu Streitereien“, antwortete Roy, „aber sie legen es nicht mehr so darauf an wie noch am Anfang. Ein harter Kern versucht es immer noch, aber gewissermaßen mit angezogener Bremse. Sie haben drei psychologische Nachteile: Erstens ziehen die Ravenclaws und Hufflepuffs nicht mit, denen ist das Ganze eher unangenehm, zweitens bleiben wir nach wie vor, wann immer möglich, in Gruppen zusammen, sodass wir immer den psychologischen Vorteil der größeren Zahl auf unserer Seite haben, und drittens“, er grinste, „ist es eine Sache, uns theoretisch zu Gewalttätigkeiten herausfordern zu wollen, und eine völlig andere, die eigene Nase dafür hinzuhalten.“

„Und wenn Albus oder du dabei wart, machten sie sowieso von Anfang an einen Bogen um uns“, fügte Julian hinzu, der sich von seinem Schock etwas erholt hatte. „Vor Roy haben sie einen Heidenrespekt, den sie einfach nicht loswerden“, erläuterte er auf Ginnys fragenden Blick hin, „und Al ist für sie ohnehin tabu.“

„Na, dann scheinen die Dinge ja doch wieder ins Lot zu kommen“, meinte Ginny erleichtert.

„Ich bin mir nicht sicher“, unkte Roy, „da sie mit offener Feindseligkeit nicht ans Ziel kommen, fürchte ich eher, dass sie über kurz oder lang richtig perfide Teufeleien aushecken werden. Irgendetwas, wogegen wir uns dann nicht wehren können.“

„Sie sind sich bewusst, Roy, dass Sie unter anderem von meinem Sohn und meiner Nichte sprechen?“, fragte Ginny spitz.

Roy seufzte. Er hätte jetzt gerne etwas Nettes gesagt, aber ihm fiel nichts ein. Julian kam ihm zu Hilfe.

„Bis zum Beweis des Gegenteils möchten wir gerne glauben, dass diese beiden sich anständig verhalten werden“, obwohl wir keinen Grund dazu haben, dachte er, aber er sagte es nicht. „Aber sie sind ja nicht die einzigen Gryffindors“, schwächte er Roys Bemerkung ab, und erntete von Ginny prompt ein dankbares Lächeln.

Ihr Gespräch wurde durch zwei laute Geräusche unterbrochen, die verrieten, dass vor der Haustür zwei Personen appariert waren. Albus lief ans Fenster:
„Onkel Ron und Tante Hermine!“, rief er freudestrahlend und rannte zur Haustür.

„O je“, sagten Roy und Julian wie aus einem Mund. „Ist es Ihnen lieber, wenn wir sofort durch den Kamin verschwinden?“, fragte Roy.

„Unterstehen Sie sich!“, zischte Ginny. „Sie sind unsere Gäste! Aus unserem Haus muss sich niemand heimlich davonstehlen!“

Unterdessen war Albus seiner Tante jubelnd um den Hals gefallen.

Albus!“, lachte sie, „du wirfst mich ja um!“

Albus drückte sie so fest und lange an sich, als fürchte er, sie könne sich sonst in Luft auflösen.

„Was machst du eigentlich hier, du müsstest doch in Hogwarts sein?“, fragte sie, als Albus seine Umarmung endlich löste und nur noch ihre Hände festhielt.

„Professor McGonagall hat mir freigegeben“, antwortete er und strahlte sie an. Diese Hermine war seine Hermine, und dieses Gesicht, das ihn jetzt seinerseits anstrahlte, war ihr wahres Gesicht, alles andere war ein Irrtum!

„Hallo Onkel Ron!“, wandte er sich nun seinem Onkel zu, der ihn lächelnd kurz an sich drückte. Gemeinsam gingen sie zur Haustür, an der schon Ginny und Harry warteten, die beide umarmten.

„Ich hoffe, es macht euch nichts aus, dass wir Gäste haben?“, fragte Ginny, während sie ins Haus gingen.

„Warum sollte es?“, fragte Hermine belustigt. „Solange es eure Gäste nicht stört…“

Albus wurde mit einem Mal mulmig. Er sah zu Hermine hoch, um noch einen Blick und ein Lächeln von ihr zu erhaschen. Als ahnte er, dass es für lange Zeit das letzte Mal sein würde.

Als Hermine das Wohnzimmer betrat, in dem Roy und Julian sich schon höflich erhoben hatten, gefror ihre Miene. Sie starrte zuerst Roy und dann Harry an.

„Das… das glaube ich jetzt nicht…“ hauchte sie.

Albus schluckte und hob ängstlich den Blick zu ihr.

„Was gibt es da nicht zu glauben?“, fragte Harry, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wenn ich vorstellen darf, Mister MacAllister kennst du ja schon, und dieser junge Mann ist Julian Lestrange.“

Julian trat auf sie zu, ließ seine Augen leuchten und schenkte Hermine ein Lächeln, für das die meisten Hogwarts-Mädchen bedenkenlos zehn Jahre ihres Lebens geopfert hätten.

„Ich freue mich sehr, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte er in einem Ton, der wirklich so klang, als ginge für ihn soeben ein Lebenstraum in Erfüllung. Er streckte ihr die Hand hin, die von Hermine aber geflissentlich ignoriert wurde. Sie sah wieder zu Harry, zornfunkelnd.

„Der Leiter meiner Aurorenabteilung plauscht mit zwei Slytherin-Todessern beim Tee?“

„Verzeihen Sie bitte“, meldete sich nun Roy, der um Albus‘ willen seinen Zorn herunterschluckte, „aber ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Sollten wir nicht die Gelegenheit nutzen, miteinander zu reden?“

Hermine blitzte ihn an. „Wir haben bereits miteinander geredet, falls Sie sich erinnern!“

„Ja, aber das war eine Art Kampf. Hier sind wir bei einem gemeinsamen Freund…“

„Ach, Freunde seid ihr auch schon?“, zickte sie wieder Harry an.

„Ich sprach von Albus!“, rief Roy, dessen Blut schon wieder köchelte, aufgebracht dazwischen.

Hermine schleuderte auf den sichtbar zitternden Albus einen Blick hinunter, als würde sie ihm gleich einen grauenvollen Fluch anhexen.

Nein, Hermine, bitte nicht, nicht schon wieder diesen Blick! dachte er, während es urplötzlich kalt im Raum zu werden schien.

Hermine, bitte“, schaltete Harry sich wieder ein, während er seine Narbe rieb. „Beruhig dich doch erst einmal und setz dich hin, du warst doch damit einverstanden, dass ich mir privat ein Bild mache…“

„Ich war damit einverstanden“, sagte sie, und eisige Feindseligkeit klirrte in ihrer Stimme, „dass du inoffizielle Ermittlungen anstellst, aber nicht damit, dass du dich mit dem Feind verbrüderst!“

Harry erstarrte. „Mit dem Feind…“ flüsterte er. „Hermine, was ist denn in dich gefahren? Du kannst doch nicht ernsthaft in zwei Schülern den Feind sehen!“

„Genau das ist dein Problem, Harry, dass du Feinde nicht als solche erkennst. Aber das wird ab jetzt nicht mehr das Problem des Ministeriums sein. Du bist mit sofortiger Wirkung beurlaubt. Susan Bones wird deine Aufgaben mit übernehmen. Du hast morgen früh Zeit bis zehn Uhr, deinen Schreibtisch zu räumen. Und dann will ich dich im Ministerium nicht mehr sehen!“

Hermine…“, versuchte Ron sie zu beschwichtigen, der die ganze Szene mit wachsendem Entsetzen verfolgt hatte.

„Misch dich nicht ein!“, fuhr sie ihm über den Mund. „Das sind Ministeriumsangelegenheiten! Und was dich angeht“, – sie fixierte wieder Albus –, „such dir deine Freunde gefälligst sorgfältiger aus! Wer mit denen befreundet ist“ – sie warf Roy und Julian einen verächtlichen Blick zu – „ist es mit mir nicht!“

Sie machte auf dem Absatz kehrt und rauschte hinaus. „Kommst du, Ron?“, hörte man sie von der Haustür rufen.

Ron raunte Harry zu: „Ich rede nochmal mit ihr.“

„Lass es lieber“, antwortete Harry tonlos. „Die ist imstande und lässt sich scheiden.“

Ron sah verunsichert zu seiner Schwester, die konsterniert auf ihren Sessel gesunken war.

Ron!“, kreischte es erneut von der Tür. Er schlich hinaus.

20 – Ein Bündnis wird geschmiedet

 

Minutenlang sprach niemand ein Wort. Dann rannte Albus hinaus und stürmte die Treppe hinauf. Unten konnte man hören, wie er die Tür seines Zimmers hinter sich zuschlug. Ginny stand auf und folgte ihm.

„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das alles tut“, unterbrach Roy schließlich das folgende Schweigen. „Vielleicht wären wir doch besser gleich abgehauen.“

„Das hätte nichts geändert, höchstens verzögert“, sagte Harry. „Irgendwann hätte ich ihr erzählt, dass wir Kontakt haben, und dann wäre die Reaktion dieselbe gewesen.“

„Es hätte wenigstens Albus diese Szene erspart.“

Harry nickte. „Ja.“ Dann schüttelte er den Kopf und sagte er mehr zu sich selbst als zu seinen Gästen: „Das war sie nicht. Im Leben glaube ich nicht, dass das Hermine war.“

„Falls Sie jetzt lieber mit Ihrer Familie allein sein möchten…“, begann Julian.

„Was ich möchte, steht jetzt nicht zur Debatte“, unterbrach ihn Harry. „Es gibt mehr zu bereden denn je. Sie bleiben hier! Warten Sie bitte.“

Er stand auf und ging die Treppe hinauf in Albus‚ Zimmer.

„Die Liste der Frauen, die auf deinen Charme nicht anspringen, verlängert sich auf drei“, meinte Roy trocken, als er und Julian allein waren.

„In der Tat, ein beunruhigendes Phänomen. Wahrscheinlich werde ich alt“, witzelte Julian, ohne eine Miene zu verziehen. Beiden war nicht zum Lachen zumute.

„Was für ein Monstrum! Allein für das, was sie heute ihrem Neffen angetan hat, müsste man sie hassen.“ Roy stand auf. Die Potters würden Zeit brauchen, sich zu beruhigen.

Nach einer Weile kamen sie zurück. Ginny hatte den Arm um ihren Sohn geschlungen, der sich mit rotverweinten Augen an sie kuschelte, als sie sich setzten.

Harry kam zu Sache:

„Als ich Sie vorhin gefragt habe, ob Sie einen Hinweis auf den Fluch gefunden haben, unter dem Hermine steht, haben Sie mir nicht die Wahrheit gesagt, stimmt’s?“

Roy seufzte. „Es gibt ein Problem.“ Er zögerte. „Wir glauben in der Tat, den Fluch identifiziert zu haben. Der Hinweis findet sich in der Schrift eines untergetauchten ehemaligen Todessers, der die Methoden Voldemorts beschreibt. Um Näheres zu erfahren, vor allem, wie der Fluch genau funktioniert, müssten wir diesen Mann ausfindig machen und befragen. Wenn wir ihn fänden, müssten Sie ihn verhaften. Wir aber wollen ihn nicht ans Messer liefern.“

„Nun“, meinte Harry, „wenn das euer Problem ist, so hat Hermine es gegenstandslos gemacht. Sie hat mich soeben gefeuert. Ich kann ihn gar nicht verhaften.“

„Und wenn sie es sich wieder anders überlegt?“, wandte Julian ein. „Wenn sie Sie wieder einsetzt? Dann haben Sie Informationen, die Ihnen gar keine andere Wahl lassen. Sie können ja nicht so tun, als wüssten Sie nicht, was Sie wissen. Das wäre vermutlich gegen alle Vorschriften.“

„Zur Hölle mit den Vorschriften!“, fuhr Harry auf. Er atmete tief durch und fuhr dann leise fort: „Sie machen sich keine Vorstellung davon, was Hermine mir und uns allen hier bedeutet. Für mich ist sie wie eine Schwester! Ich würde Alles tun, um sie zu retten, Alles! Ich würde auch jedes Gesetz übertreten! Ich verspreche Ihnen… ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich Ihren Informanten, wer immer es sein mag, unbehelligt lasse, aber um Gottes willen, reden Sie!“

Roy und Julian tauschten einen langen Blick. Ihr stummes Zwiegespräch endete damit, dass Julian nickte.

Daraufhin zog Roy ein Büchlein im Puppenhausformat und seinen Zauberstab aus seinem Umhang.

Engorgio.“ Auf dem Tisch lag Sulphangels Buch. Roy schlug es auf und las es von der ersten bis zur letzten Zeile vor.

„Das muss es sein“, sagte Harry, als er geendet hatte. „Es passt alles! Nur eine Frage: Woher wollen Sie wissen, wie der Autor wirklich heißt?“

„Der Name ist ein Anagramm von ‚Rodolphus Lestrange‘.“

Harry prüfte es nach. Dann schüttelte langsam den Kopf. „Roy, Sie haben in nicht einmal einer Woche mehr herausgefunden als meine Unterabteilung für Schwarze Magie.“

„Das Anagramm hat Orpheus Malagan entschlüsselt, nicht ich.“ Es war nicht Roys Art, sich mit fremden Federn zu schmücken.

„Egal!“, rief Harry. „Einmal in der Bibliothek gewesen und schwupp – haben Sie das richtige Buch in der Hand. Wissen Sie eigentlich, an wen Sie mich erinnern?“

„Sprechen Sie es bitte nicht aus“, wehrte Roy ab. „McGonagall hat mir neulich dasselbe gesagt, und ich kann es beim besten Willen nicht als Kompliment auffassen.“

„Sollten Sie aber! Hermine ist genial in solchen Sachen. Einmal hat sie…“ Seine Erzählung blieb ihm jäh im Hals stecken, seine Augen wurden feucht. „Lassen wir das. Aber sollte ich meinen Job jemals wiederbekommen, sollten Sie Auror werden! Im Grunde sind Sie ja jetzt schon so etwas Ähnliches.“

„Wie meinen Sie das?“

„Was uns jetzt bevorsteht, und selbstverständlich zähle ich auf Ihre Hilfe, ist reine Detektivarbeit.“ Der Auror in ihm erwachte. „Wir kennen jetzt den grundlegenden Mechanismus. Jetzt müssen wir drei Dinge herausfinden: Erstens, wer ist es? Zweitens, wie hat er es genau angestellt? Drittens, wie werfen wir ihn aus Hermine wieder hinaus?“

„Wer? Hm“, grübelte Roy. „Eines ist merkwürdig. Ich meine, es handelt sich doch um eine Technik, die Voldemort entwickelt hat, und die außerhalb des Kreises seiner Todesser kaum jemandem bekannt sein dürfte. Nehmen wir an, einer von ihnen hätte nach Voldemorts Tod beschlossen, Hermine zu verhexen, dann würde er sie doch zum genauen Gegenteil dessen veranlassen, was sie tut. Platt gesagt: Die Todesser wollten, dass die Zauberer die Muggel beherrschen, Hermines Politik läuft aber auf das Gegenteil hinaus.“

„Vielleicht die Rache eines Todessers an der magischen Welt“, meinte Harry, „die ihn und seine Ideen abgelehnt hat. Nach dem Motto: Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt! Ich weiß, es klingt absurd, aber als Auror habe ich oft genug erlebt, dass die menschliche Seele zu den absurdesten Dingen fähig ist.“

„Gibt es nicht näherliegende Möglichkeiten?“, wandte Julian ein. „Vielleicht haben die Todesser den Auroren, die sie nach dem Tod des Dunklen Lords verhörten, das Geheimnis verraten, und nun wendet einer von denen diese Technik an.“

Harry war empört: „Einer meiner Auroren soll…?“, begann er, dann stutzte er. „Sie haben recht, man soll nie vorschnell eine Möglichkeit ausschließen. Es wäre immerhin möglich…“ sinnierte er.

Harry starrte einen Moment lang gedankenverloren vor sich hin, dann wandte er den beiden wieder seine Aufmerksamkeit zu. „Wir müssen eine Grundsatzfrage klären: Ist es unser gemeinsames Ziel, Hermine von diesem Fluch zu befreien? Und arbeiten wir dabei zusammen?“

„Natürlich“, antwortete Roy, ohne zu zögern, „vorausgesetzt, Sie können damit leben, dass es für uns nicht um Hermine geht, sondern darum, die magische Welt vor ihrem Wahnsinn zu schützen. Und Sie müssten akzeptieren, dass Orpheus, Arabella und Ares eingeweiht werden und dabei sind. Wir fünf haben grundsätzlich keine Geheimnisse voreinander und treffen wichtige Entscheidungen schon seit Jahren aus Prinzip gemeinsam.“

Harry zögerte. Den phantasievollen Orpheus dabeizuhaben, war bestimmt eine gute Idee, und gegen Arabella war nichts einzuwenden, aber Macnair? Harry hatte sich in den Tagen zuvor schon gefragt, wer die Idee mit dem Attentat gehabt haben konnte…

„Gut“, sagte er schließlich, „wenn Sie als Gruppe handeln wollen, dann akzeptiere ich das. Es hat auch sein Gutes: Wir werden unter den ehemaligen Todessern ermitteln müssen. Einmal, um Rodolphus‚ Spur zu finden, zum anderen, weil der Unbekannte, den wir suchen, möglicherweise in diesen Kreisen verkehrt. Mir würden diese Leute kein Wort sagen, euch Slytherins vielleicht schon, vor allem wenn ihr Lestrange oder Macnair heißt. Ich stelle aber eine Bedingung.“

„Die da lautet?“, fragte Julian.

„Ihr müsst Albus in eure Gruppe aufnehmen und an allen Entscheidungen beteiligen.“

Harry!“, rief Ginny empört dazwischen. „Ihr habt wahrscheinlich einen hochgefährlichen Schwarzmagier gegen euch, der über Hermine das ganze Ministerium kontrolliert! Und unser Junge ist gerade einmal elf!“

„Ich selbst war auch nicht älter, als ich Voldemort daran hindern musste, sich des Steins der Weisen zu bemächtigen“, erwiderte Harry.

„Du musstest, er muss nicht!“, beharrte Ginny.

„Mama, ich würde aber gerne dabei sein“, wandte Albus schüchtern ein.

„Doch“, sagte Harry, „er muss. Ginny, ich weiß, dass es gefährlich werden kann – nicht muss, aber kann –, aber ich muss diese Bedingung stellen. Wenn ich mit den Unbestechlichen zusammenarbeite, muss ich sicher sein, dass es unter ihnen wenigstens einen gibt, der Hermine liebt!“

Ginnys Augen sah ihn traurig an. „Schon wieder einer dieser verdammten Kämpfe… Ich habe meinen Bruder verloren… bitte, bitte nicht meinen Sohn!“

Die Eheleute blickten einander schweigend in die Augen.

„Gut“, seufzte Ginny schließlich. „Für Hermine!“

Sie wandte sich an Roy:

„Sie passen auf ihn auf?“

„Natürlich“, sagte Roy mit einer Selbstverständlichkeit, die Ginny allzu leichtfertig vorkam. Sie trat nahe an ihn heran und flüsterte eindringlich:

„Sie haben verstanden, dass ich Ihnen meinen Sohn anvertraut habe?“

„Ich werde ihn keiner vermeidbaren Gefahr aussetzen“, flüsterte Roy zurück, „sollte er trotzdem in Gefahr geraten, schütze ich ihn mit meinem Leben. Genügt das?“

Ginny nickte. Jetzt lächelte sie auch ein wenig.

„Also Albus“, sagte Roy, „da ich davon ausgehe, dass die Anderen damit einverstanden sind: Willkommen im Kreis der Unbestechlichen!“

Albus strahlte vor Stolz. Für ihn waren die Unbestechlichen die coolste Gruppe, die es in Hogwarts gab. Und dass sein Vater ihm solches Vertrauen schenkte… Er schwor sich im Stillen, dieses Vertrauen unter keinen Umständen zu enttäuschen.

„Wir werden McGonagall einweihen müssen“, sagte Harry nun, „allein schon, damit ihr Hogwarts für eure Ermittlungen problemlos verlassen könnt. Außerdem hat sie mehr Erfahrung als wir alle zusammen.“

 

Professor McGonagall staunte nicht schlecht, als nicht nur Albus, Roy und Julian, sondern auch Harry und Ginny aus dem Kamin ihres Büros stiegen. Während Albus losgeschickt wurde, um Orpheus, Arabella und Ares zu holen, erläuterte Harry ihr in groben Zügen die Lage. Die alte Professorin war erschüttert zu hören, dass Harry soeben von seiner besten Freundin gefeuert worden war, und hörte aufmerksam zu, als er ihr von Sulphangels Buch erzählte und ihr erklärte, was er vorhatte.

Seine Erläuterungen wurden nur kurz unterbrochen, als Albus mit den anderen drei eintraf. Als Roy ihnen eröffnete, dass Albus ab jetzt zur Gruppe gehören würde, waren sie verblüfft, erhoben aber keine Einwände. Selbst Ares, der augenscheinlich wenig erbaut war, schwieg.

„Sie wissen, was Sie mir zumuten, Harry?“, fragte McGonagall, nachdem Harry geendet hatte. „Ich soll sehenden Auges zulassen, dass Hogwarts-Schüler sich in Gefahr begeben?“

„Ich würde es nicht vorschlagen, wenn ich eine andere Möglichkeit sähe“, erwiderte Harry. „Die eine Spur, die zu den Auroren führt, kann und muss ich alleine verfolgen, aber Rodolphus Lestrange aufzutreiben oder einen Schwarzen Magier aus dem Kreis der ehemaligen Todesser zu identifizieren, ist eine Aufgabe, die nur Slytherins lösen können. Es wäre anders, wenn ich noch auf die Auroren zurückgreifen könnte, aber das hat sich erledigt.“

„Ich habe Ihr Argument schon verstanden, Harry. Aber Ihnen ist doch klar, dass dies eine gefährliche Mission ist?“

„Ich werde sie gründlich auf diese Mission vorbereiten.“

McGonagall betrachtete ihn nachdenklich, dann sagte sie:

„Also gut. Wenn Sie mir das zusichern, bin ich einverstanden. Es geht wohl nicht anders. Eine Bedingung muss ich als Schulleiterin aber stellen: Die Schulleistungen dürfen nicht darunter leiden. Sie alle“, wandte sie sich an die Schüler, „werden keine einzige Stunde versäumen, und Sie werden Ihre Hausaufgaben machen. Und nur vorsorglich weise ich darauf hin, dass ich mir vorbehalte, Ihnen die Erlaubnis zum Verlassen von Hogwarts im Einzelfall zu erteilen oder auch nicht, und dass ich gegebenenfalls wissen will, wohin Sie gehen. Wenn Sie ohne meine Erlaubnis Hogwarts verlassen, hat das ernste Konsequenzen für Sie. Dasselbe gilt, wenn Sie meine Erlaubnis, Ermittlungen anzustellen, dazu missbrauchen, in London oder sonstwo einen draufzumachen. Und glauben Sie mir, das finde ich heraus. Haben wir uns verstanden?“

„Jawohl, Frau Professor“, antworteten die sechs wie aus einem Mund. Einer McGonagall widersprach man nicht.

Albus räusperte sich: „Entschuldigung, wenn ich etwas Dummes frage, aber was ist eigentlich so gefährlich daran? Wir tun doch nichts Verbotenes?“

„Es gibt keine dummen Fragen“, antwortete sein Vater. „Gefährlich daran ist, dass es nahezu unmöglich ist, solche Ermittlungen anzustellen, ohne dass der Unbekannte, dem sie gelten, Wind davon bekommt. Vielleicht ist er selbst einer der Leute aus dem Todesser-Umfeld, die befragt werden müssen. Vielleicht verrät euch einer dieser Informanten ans Ministerium oder steckt mit der unbekannten Zielperson unter einer Decke. In jedem Fall aber gehen wir davon aus, dass dieser Unbekannte Hermine kontrolliert, und das heißt, er hat die ganze Macht des Ministeriums auf seiner Seite. Wir müssen ab jetzt damit rechnen, bespitzelt und überwacht zu werden. Dass Hermine die Leitung der Aurorenabteilung ausgerechnet Susan Bones übergeben will, ist ein ganz schlechtes Zeichen.“

„Sie haben sich aber doch immer gut mit ihr verstanden?“, wandte McGonagall ein.

„Persönlich mag ich sie“, räumte Harry ein. „Aber seit Hermine Ministerin und Susan Leiterin der Abteilung für magische Strafverfolgung ist, sind wir immer öfter aneinandergeraten, weil sie meinen Kurs zu lasch findet. Wenn es um die Jagd auf sogenannte oder auch Todesser geht, setzt sie sich noch bedenkenloser über Recht und Gesetz hinweg als Hermine. Und das will etwas heißen.“

„Sie fürchtet sich vor ihnen“, gab McGonagall zu bedenken. „Die Todesser haben praktisch ihre ganze Familie umgebracht.“

„Meine vielleicht nicht?“, fragte Harry leicht pikiert. „Aber gut, jeder Mensch ist anders und hat seine eigene Art, mit solchen Dingen umzugehen. – Jedenfalls“, nahm er den Faden wieder auf und wandte sich den Slytherins zu, „werden wir die Spur löschen, die das Ministerium auf euch gelegt hat, damit ihr auch außerhalb von Hogwarts zaubern, vor allem apparieren und disapparieren könnt, ohne dass das Ministerium es merkt. Wir müssen nämlich davon ausgehen, dass das Flohnetzwerk überwacht wird, sodass ihr nicht durch den Kamin reisen könnt. Apparieren ist das erste, was ihr lernen müsst.“

„Ich kann es schon“, sagte Ares, der schon siebzehn war und im Frühsommer seine Prüfung angelegt hatte. „Und zumindest einen ehemaligen Todesser, nämlich meinen Vater, können wir jetzt schon befragen. Er würde uns nie beim Ministerium verpfeifen, und er will auch mit politischen Dingen nichts mehr zu tun haben. Er ist froh, wenn das Ministerium ihn in Ruhe lässt“, sagte er, nicht ohne anzüglichen Unterton, zu Harry, „hat aber immer noch gute Kontakte zu seinen alten Kameraden, soweit sie noch leben und nicht in Askaban einsitzen. Wenn er selbst es nicht weiß, könnte er uns immerhin Tipps geben, wer es wissen könnte.“

„Gut“, sagte Harry und dachte im Stillen: Gut, dass ich den alten Drecksack nicht selber um einen Gefallen bitten muss. Allein dafür lohnt sich das Bündnis mit den Unbestechlichen schon. Laut fuhr er fort:

„Dann sollten Sie ihn am kommenden Wochenende aufsuchen, am besten mit Julian, schließlich geht es unter anderem auch um den Verbleib seines Großvaters. Sie können ja Seit-an-Seit apparieren. Sind Sie einverstanden, Professor McGonagall?“

„Natürlich“, erwiderte die Schulleiterin.

„Prima“, meinte Ares, „dann schicke ich ihm eine Eule.“

„Das werden Sie nicht tun! Erste Regel bei jeder konspirativen Arbeit: Niemals etwas Schriftliches hinterlassen. Sie schreiben keine Briefe, und wenn Sie sich etwas merken müssen, schreiben Sie es nicht auf, sondern prägen es sich ein.“

„Und wenn ich meinen Vater zu Hause nicht antreffe?“, fragte Ares.

„Dann versuchen Sie es so oft, bis Sie ihn antreffen. Teilen Sie nie jemandem vorab mit, dass Sie ihn aufsuchen, außer wenn es unbedingt nötig ist. Nun aber zum Ausbildungsprogramm: Zuerst also lernen Sie Apparieren…“

„Lerne ich das auch?“, fragte Albus ihn mit großen Augen.

„Du wirst alles lernen, was die Anderen auch lernen. Sei aber nicht enttäuscht, wenn du Manches in deinem Alter noch nicht kannst. Und nur damit wir uns richtig verstehen, mein Sohn: Auch wenn du apparieren kannst, wirst du Hogwarts nicht verlassen! Die Nachforschungen draußen überlässt du den Großen. Ist das klar?“

Die letzte Frage hatte Harry mit großem Nachdruck gestellt.

Albus schluckte. „Natürlich. Vollkommen klar.“

„Im Übrigen werdet ihr allerhand lernen müssen, was ihr im Unterricht noch nicht hattet und zum Teil auch nie durchnehmen werdet: Beschwörungszauber, Unsichtbarkeitszauber, Patronuszauber…“

„Die Unverzeihlichen auch?“, wollte Ares wissen.

Harry zögerte, dann sagte er: „Die Unverzeihlichen nicht. Folter- und Todesfluch kommen sowieso nicht in Frage, und der Imperius ist zwar manchmal ganz praktisch, aber auch er gehört zur Schwarzen Magie und schadet dem, der ihn anwendet, fast ebenso sehr wie dem, dem er gilt. Ihr werdet aber die Abwehr der Unverzeihlichen lernen.“

Er sah Ginny lächeln. „Was ist daran so lustig?“, fragte er.

„Es gibt also wieder DA-Stunden?“, fragte sie.

Nun grinste er auch. „Es gibt wieder DA-Stunden.“

„Dann möchte ich auch dabei sein, ich glaube, ich habe Einiges aufzufrischen.“

Harry wog den Kopf. „Wir stehen unter Zeitdruck und werden uns mindestens dreimal pro Woche abends hier treffen müssen. Ich möchte aber Lily nicht gerne alleinlassen. Nicht in dieser Situation. Ich möchte nicht eines Tages nach Hause kommen und…“ Er brach ab.

„Meine Eltern werden entzückt sein, sie dreimal die Woche bei sich zu haben“, meinte Ginny.

Hermine wird auch entzückt sein zu hören, dass wir dreimal die Woche einen Babysitter brauchen“, antwortete Harry trocken. „Sie wird sich fragen, wieso, und Susan beauftragen, es herauszufinden. Ohnehin könnte es sein, dass unser Haus beobachtet wird.“

Ginny schluckte. Es fiel ihr schwer, sich daran zu gewöhnen, dass Hermine jetzt ihre Gegnerin war.

„Du hast aber recht“, sagte Harry. „Du musst deine magischen Fähigkeiten auffrischen. Wir werden zu zweit zu Hause üben.“

„Wann treffen wir uns?“, wollte Julian wissen. „Ich muss die Quidditch-Trainingszeiten darauf abstimmen.“

„Geht montags, mittwochs und freitags jeweils um sieben Uhr abends in Ihrem Spezialraum?“

Alle nickten.

„Sie werden vorher zu Abend essen. Verlassen Sie die Große Halle nie alle zusammen, und vergewissern Sie sich, dass Ihnen niemand folgt. Gut. Dann habe ich jetzt noch etwas für dich, Albus“, wandte er sich seinem Sohn zu. Er zog die Karte des Rumtreibers aus seinem Umhang. „Die gehört jetzt dir. Ich fürchte, du wirst sie brauchen. Du weißt noch, wie sie funktioniert?“

„Klar“, sagte Albus. Er hatte oft genug mit der Karte gespielt.

„Und dann noch das hier.“ Er gab seinem Sohn den Tarnumhang.

Ein wenig ungläubig fragte Albus: „Aber Papa, brauchst du den nicht selbst?“

„Ich kann mir auch mit einem Unsichtbarkeitszauber behelfen. Ob du den jetzt schon lernen kannst, weiß ich nicht, deshalb nimm lieber den Umhang.“

Albus starrte ehrfürchtig auf die Karte und den Umhang. Er wusste, was seinem Vater diese Gegenstände bedeuteten. Sie waren Heiligtümer, denn sie verbanden ihn mit seinem Vater James. Und ihm, Albus, vertraute er sie an!

„Noch etwas“, sagte Harry. „Niemand darf wissen, dass du sie hast, weil ich niemandem erklären möchte, warum du sie hast.“

James soll es nicht wissen?“

„Vor allem soll Hermine es nicht wissen, und alles, was bei den Gryffindors landet, landet über kurz oder lang auch bei ihr. Deshalb darf niemand, ich wiederhole niemand, außerhalb dieses Kreises es wissen, auch nicht deine Freunde.“

„Geht klar“, sagte Albus. „Und wenn einer von den Großen hier den Umhang oder die Karte braucht, darf ich sie ihnen dann geben?“

„Die Entscheidung liegt dann bei dir. Ich habe kein Problem damit.“

Professor McGonagall war inzwischen an eine Vitrine getreten, entnahm ihr ein Fläschchen und reichte es nun Roy. „Das hier ist für Sie.“

„Was ist das?“, fragte Roy verdutzt.

Vielsaft“, antwortete McGonagall, als sei es eine Selbstverständlichkeit. „Sie wissen ja, dass Sie damit die Gestalt jedes anderen Menschen annehmen können. Ich verlasse mich darauf, dass Sie keinen Unsinn damit treiben. Ich werde noch einen ganzen Kessel brauen, aber das dauert ungefähr einen Monat.“

„Dann sind wir wohl für heute durch“, meinte Harry, nachdem niemand mehr etwas sagte. Sein Blick traf sich mit dem Ginnys.

„Wer hätte das für möglich gehalten“, sagte er zu ihr und lächelte traurig, „dass ich noch einmal gegen das Ministerium antreten muss? Und meine ganze Streitmacht besteht aus einem halben Dutzend Hogwarts-Schülern.“

Er seufzte. „Noch dazu Slytherins! … Nein, so war das nicht gemeint!“, rief er hastig, als er sich der entrüsteten Blicke der Unbestechlichen, einschließlich Albus, gewahr wurde. „Es ist einfach nur so ungewohnt, plötzlich mit lauter Slytherins in einem Boot zu sitzen!“

„Es bestätigt aber ein fundamentales Hogwarts-Gesetz“, sagte eine vertraute Stimme hinter ihm. Harry fuhr herum. Professor Dumbledore lächelte aus seinem Portrait gütig auf ihn herab.

„Welches Gesetz meinen Sie, Herr Professor?“

„Wie sehr wir uns auch gegen ihn sträuben mögen: Am Ende behält der Sprechende Hut immer Recht.“