11 -Der Brief

 

AlbusEule war sehr schnell, aber sein Brief wurde auch sehr lang und war daher erst gegen Mittag fertig. Ob er noch rechtzeitig im Ministerium ankommen würde, war fraglich, daher beschloss er, ihn nach Hause zu schicken. Ihm kam es vor allem darauf an, die Lügen über MacAllister auszuräumen, den er in den Briefen an seine Eltern schon mehrfach seinen Freund genannt hatte. Was würden sie denken, wenn sie jetzt lasen, was der Tagesprophet über ihn schrieb? Sie mussten ja geradezu glauben, er sei in schlechte Gesellschaft geraten. Sie würden sich Sorgen machen. Einen langen Absatz widmete er auch dem Verhalten der anderen Häuser, vor allem der Gryffindors. Er tat sein Bestes, die Hasswelle zu beschreiben, die er empfunden hatte:

… und das Ganze ging von den Gryffindors aus, ich habe es genau gesehen! Die Hufflepuffs und Ravenclaws haben sich nur mitziehen lassen. Ihr könnt es euch nicht vorstellen, es war plötzlich so, als ob sie überhaupt keine Menschen mehr wären, lauter Monstren, oder ein riesiges Monstrum. Unsere Mädchen aus der ersten Klasse haben vor Angst geweint, aber das war ihnen egal, sie haben immer weiter Todesser, Todesser geschrien, bis Professor McGonagall sie zum Schweigen gebracht hat. Ich glaube, noch fünf Minuten länger, und sie hätten uns umgebracht. Wir Slytherins passen jetzt gut aufeinander auf, und keiner geht mehr allein durchs Haus, nur noch in Gruppen mit Großen dabei. Da wird uns schon nichts passieren, aber Spaß macht es nicht. Und das nur wegen diesem Lügenpropheten! Dieser Prantice faselt von einem Krieg, und hier in Hogwarts hat er schon begonnen.

Egal was der Tagesprophet über Slytherin schreibt, glaubt ihm kein Wort! Für Slytherin lege meine Hand ins Feuer, und ganz besonders für Roy MacAllister! Ehrlich gesagt glaube ich aber, dass Tante Hermine damit einverstanden ist, dass die Zeitung so lügt und hetzt. Ich habe sogar den Verdacht, dass sie die Gryffindors aufgehetzt hat, jedenfalls hat sie sie gestern noch in ihrem Gemeinschaftsraum besucht. Es ist, als ob sie besessen wäre. Ich habe sie erlebt, sie ist nicht mehr so wie früher, und ich habe gehört, dass sie zu Mr. Higrave etwas ganz Schlimmes gesagt hat. Sie hat gesagt, Roy und seine Freunde seien eine „Pest“, die man „ausrotten“ müsse. Ich weiß, sie ist in Wirklichkeit nicht so, wie sie redet, aber ich habe Angst vor ihr. Papa, du bist doch der oberste Auror, kann es vielleicht sein, dass Tante Hermine unter einem Fluch oder einem Zauber steht? Bitte, bitte, nimm das ernst, ich rede nicht einfach so daher. Sie ist eure beste Freundin und meine auch. Kümmert euch bitte um sie!

Ich schreibe euch so bald wie möglich wieder.

Alles Liebe

Euer Albus

P.S.: Bernie Wildfellow ist jetzt ein Slytherin.

 

Es war gut, dass Albus seine eigene Eule hatte und nicht auf Eulen der Schule zurückgreifen musste, denn er kam als einer der letzten in der Eulerei an, in der nur noch einige Privateulen von Schülern auf ihren Stangen saßen. Die meisten waren ausgeflogen, weil die vielen Briefe der Slytherins praktisch gleichzeitig verschickt worden waren. Einige Schuleulen waren noch da, aber sie wirkten etwas altersschwach. Albus streichelte wie immer zuerst ausgiebig seine Athena, befestigte dann die dicke Pergamentrolle an ihren Fängen und beschwor sie:

„Flieg nach Hause, so schnell du kannst!“

Sie nickte, als ob sie es verstanden hätte, breitete die Schwingen aus und flog davon.

 

Wahrscheinlich hätte Albus weniger drastisch geschrieben, wenn ihm bewusst gewesen wäre, wie sein Brief auf seine Mutter wirken musste. Als Harry gegen halb sieben Uhr endlich zu Hause aus dem Kamin stieg und eine völlig aufgelöste Ginny – für sie ungewöhnlich – ihm hemmungslos weinend um den Hals fiel, wusste er sofort, dass ein Brief von Albus angekommen sein musste, denn am späten Nachmittag hatten schon einige seiner Ministeriumskollegen, die Kinder in Slytherin hatten, Eulen von ihnen bekommen. Draco war mit versteinerter Miene in Harrys Büro gekommen und hatte schweigend Scorpius‚ Brief auf seinen Schreibtisch gelegt. Scorpius hatte relativ knapp und nüchtern geschrieben, aber man konnte sehen, dass seine Hand beim Schreiben gezittert hatte. Draco und Harry würden wohl nie beste Freunde werden, aber hier kam ein besorgter Vater zum anderen, und beide hatten lange, ernst und leise miteinander gesprochen.

So war er schon auf einiges vorbereitet, als Ginny ihm zitternd Albus‚ Brief übergab, aber als er ihn las, wurde er zusehends bleicher. Dieser Brief war wesentlich ausführlicher und erschütternder als der von Scorpius. Als Harry fertig war, legte er ihn auf den Tisch, und beide starrten ihn an, er fassungslos und sprachlos, sie immer wieder schluchzend.

„Was macht Hermine da?“, fragte Ginny schließlich, und es gelang ihr nur mühsam, ihre Fassung wiederzufinden. „Neulich am Bahnhof sagte sie noch zu Ron, er solle die Kinder nicht gegeneinander aufhetzen, und nun macht sie es selber? Und dann gleich so, dass mein Sohn um sein Leben fürchten muss? Sie hetzt Kinder in einen Krieg gegeneinander!“

„Ich glaube nicht, dass sie es war, es war der Tagesprophet.“

Ginny fand langsam wieder zu ihrem normalen Wesen zurück und sah ihren Mann spöttisch an.

„Sag mal, mein Liebster, wie naiv darf man als Auror eigentlich sein? Ich weiß doch, wie es dort zugeht!“ Sie schrieb gelegentlich Sportberichte für den Tagespropheten und kannte die ganze Redaktion. „Northwood druckt nichts, was Hermine nicht billigt. Was in diesem Blatt steht, kannst du getrost als offizielle Stellungnahme des Ministeriums werten.“

Harry wusste, dass sie recht hatte.

Hermine findet mich auch sehr naiv“, sagte er. „Sie hat mich heute Morgen in ihr Büro zitiert und mir vorgeworfen, ich würde nicht genug gegen Todesser unternehmen. Als ich dann sagte, ich wüsste nichts von Todessern, und wenn es sie gäbe, müssten sie erst gegen Gesetze verstoßen, bevor die Auroren sich um sie kümmern könnten, hat sie mich zur Schnecke gemacht. Stell dir vor, einmal hat sie mich sogar ‚Potter‘ genannt. Sie hat mir Albus‚ Freundschaft mit diesem MacAllister hingerieben, als Beweis dafür, wie naiv ich sei.“

„Glaubst du… Glaubst du, es könnte etwas dran sein an dem, was Albus schreibt – dass sie unter einem Fluch stehen könnte?“

„Dafür habe ich keine konkreten Anhaltspunkte“, meinte er – und wollte sich auf die Zunge beißen.

„Anhaltspunkte!“, schrie Ginny. „Kannst du den Auror nicht einmal jetzt in deinem Büro lassen? Ich frage nicht nach deinen verdammten Anhaltspunkten, sondern nach deinem Gefühl!“

Harry schluckte.

„Nun ja, Albus hat schon recht, sie hat sich in letzter Zeit wirklich verändert. Sicher, sie war schockiert, wie stark der Widerstand der Slytherins gegen sie immer noch ist. Andererseits… ich kann das natürlich nur dir und ganz im Vertrauen sagen: Seit sie Ministerin ist, wird sie immer herrschsüchtiger, arroganter, intoleranter, paranoider und skrupelloser. Ob es wirklich ein Fluch im eigentlichen Sinne ist oder einfach nur der Fluch der Macht, wie er schon manchen Politiker getroffen hat – denk an Fudge – weiß ich nicht. Ganz ausschließen würde ich einen echten Fluch oder sonstigen Zauber allerdings auch nicht…“

Er zögerte. „Manchmal ist sie immer noch ganz die alte, aber die Situationen häufen sich, wo ich sie kaum wiedererkenne. Albus hat ein sehr feines Gespür, ich finde, er hat sowieso für sein Alter eine gute Menschenkenntnis. Sein Verstand reift schnell, ohne dass er die feinen Antennen verloren hätte, mit denen Kinder Schwingungen aufnehmen. Deswegen neige ich auch dazu, ihm zu vertrauen, wenn er für MacAllister, wie er schreibt, ‚die Hand ins Feuer legt‘. Hermine hält ihn für einen Todesser, der nur zu raffiniert ist, sich in die Karten sehen zu lassen, und der unseren Albus vereinnahmen will.“

„Einen Todesser?“, fragte Ginny entsetzt.

„Ich glaube, sie hält Jeden für einen Todesser, der ihre Ansichten nicht teilt.“

Ginny dachte nach. „Ein wenig merkwürdig ist diese Freundschaft aber schon, findest du nicht?“

„Doch, und deshalb werde ich in Hogwarts nach dem Rechten sehen. Mit Hermine bin ich nämlich so verblieben: Solange niemand gesetzwidrige Handlungen begeht, sind mir als Auror die Hände gebunden, daher werde ich mir erst einmal inoffiziell und sozusagen privat ein Bild von der Lage in Hogwarts machen. Ich reise noch heute Abend inkognito dorthin.“

„Inkognito?“, fragte Ginny entgeistert. „Du bist bekannt wie ein bunter Hund!“

„Wozu bin ich der stolze Besitzer eines Tarnumhangs?“, grinste Harry.

Ginny sah ihn halb nachsichtig, halb boshaft an: „Na klar, und wenn wir schon einmal dort sind, gehen wir unserem alten Hobby nach, nachts unter dem Tarnumhang in Hogwarts herumzugeistern, stimmt’s?“ Harrys Grinsen wurde breiter. „Kannst du nicht in Würde alt werden, du Kindskopf?“

Doch sie musste lachen.

Harry zog die Karte des Rumtreibers aus seinem Umhang, die er immer noch ständig mit sich führte, obwohl er sie in den letzten neunzehn Jahren nie wirklich gebraucht hatte, und warf einen schnellen, gezielten Blick darauf. „McGonagall ist noch in ihrem Büro. Mit ihr muss ich unbedingt sprechen.“

„Wie willst du reisen? Durch den Kamin direkt in ihr Büro?“

„So ein Überfall wäre nicht gerade höflich, außerdem müsste ich erst einmal die Schutzzauber aufheben. Als Aurorenchef darf ich das zwar, aber ich bin ja privat unterwegs. Nein, ich werde vor dem Schlossgelände apparieren und dann unter dem Umhang zu Fuß ins Schloss gehen. Zuerst rede ich mit James, bevor er zu Bett geht, dann gehe ich zu ihr. Wie ich sie kenne, wird sie noch mindestens bis zehn im Büro sein. Warte nicht auf mich, es kann spät werden.“

„Willst du nicht vorher etwas essen?“, fragte Ginny ihn besorgt.

„Danke, aber der Tag hat mich ziemlich mitgenommen. Ich würde jetzt wirklich nichts runterkriegen.“

Er steckte die Karte des Rumtreibers wieder ein und küsste seine Frau, die ihn kaum loslassen wollte.

„Liebling“, sagte er zärtlich, „es wird alles gut werden.“

Ginny nickte, als Harry bereits unter seinem Tarnumhang verschwand. Ein „Plopp“ verriet ihr, dass er disappariert war.

12 – Kriegsrat

„Ich fasse zusammen.“

Roy fand, dass die Diskussion der Unbestechlichen, die nun schon seit über einer Stunde in ihrem Geheimraum zusammensaßen, lang genug gedauert hatte und sich im Kreis zu drehen begann.

„Das Zaubereiministerium setzt seine Pläne zur Verschmelzung der magischen mit der Muggelwelt konsequent fort und will nun jede Opposition dagegen im Keim ersticken. Zu diesem Zweck verschärft es schrittweise die Gesetze, bis es die Handhabe hat, praktisch jeden beliebigen Gegner aus dem Verkehr zu ziehen. Da es, wie Hermie sagte, ‚der Erziehung junger Hexen und Zauberer besondere Bedeutung beimisst‘, wird es versuchen, Hogwarts gleichzuschalten, und weil McGonagall sich nicht fügen will, wird sie langsam demontiert; wir wissen nicht, wie lange sie sich noch halten kann. Eine gewisse Frist hat sie noch, weil das öffentliche Ansehen einer Minerva McGonagall nicht so schnell zu erschüttern ist. Da die Gryffindors den ganzen Tag über versucht haben, Zwischenfälle heraufzubeschwören, müssen wir davon ausgehen, dass sie es darauf anlegen, Gewalttätigkeiten zu provozieren, die dem Ministerium Anlässe zum Eingreifen liefern. Die Frage ist, was wir gegen diese Politik unternehmen können.“

Nun ergriff Ares Macnair das Wort:

„Im Krieg muss man immer den stärksten Angriff gegen den schwächsten Punkt führen. Versetzen wir uns in Hermies Lage. Ihr Schwachpunkt ist die geringe aktive Unterstützung, die sie im Establishment, in den einflussreichen Kreisen und wahrscheinlich sogar in ihrer eigenen Ministerialbürokratie genießt. Muggelregierungen mit vergleichbaren Zielsetzungen können auf mehr oder weniger gleichgeschaltete Eliten zurückgreifen. Hermie müsste diese Arbeit der Gleichschaltung erst noch leisten, daher ihre strategische Konzentration auf Hogwarts, die aber aus ihrer Sicht erst langfristig Früchte tragen wird. Außer dem Tagespropheten und ein paar Fanatikern hat sie niemanden, der sie wirklich entschlossen unterstützt. Allerdings, und das ist wiederum unser Problem, auch niemanden, der ihr entschlossen Widerstand leisten will. Die Zaubererwelt nimmt passiv hin, dass ihre Grundlagen zerstört werden. Alle stecken den Kopf in den Sand, lassen sich von ihren Phrasen einlullen und sind ganz begeistert, eine so dynamische junge Ministerin zu haben. Unser Problem liegt also allein in der Person der Ministerin. Ohne sie fände diese Politik nicht statt.“

Die fragenden Blicke der Anderen forderten Ares auf, weiterzureden.

„Damit ist die Anzahl unserer Optionen ziemlich überschaubar: Erstens könnten wir versuchen, sie mit Argumenten von ihrer Politik abzubringen, bei ihrem Fanatismus zugegebenermaßen eine rein theoretische Möglichkeit, ganz abgesehen von dem Problem, sie zum Zuhören zu zwingen. Zweitens könnten wir versuchen, sie als Ministerin zu stürzen und durch jemand anderen zu ersetzen. Dem steht entgegen, dass sie populär ist und den Tagespropheten auf ihrer Seite hat, während wir überhaupt keinen Einfluss haben und nicht einmal einen überzeugenden Gegenkandidaten präsentieren könnten. Bleibt Option Nummer drei.“

Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein.

„Und die wäre?“, fragte Roy schließlich mit hörbarem Unbehagen.

Ares holte tief Luft, zögerte kurz und sagte dann:

„Ein Attentat.“

Niemand sagte ein Wort.

Es hatte in der Luft gelegen. Jeder von ihnen hatte schon daran gedacht, aber keiner wusste, was er sich mehr wünschen sollte: dass ein Anderer, oder dass kein Anderer es aussprach. Nun stand es im Raum. Sie blickten auf Roy.

Roy seinerseits sah Ares nachdenklich an, ohne dass man hätte erkennen können, was hinter seiner Stirn vor sich ging. Er zögerte die Antwort für seine Verhältnisse ungewöhnlich lange hinaus. Was Ares sagte, war logisch, und Roy, der selber logisch zu argumentieren pflegte, tat sich deshalb schwer mit einer Widerlegung.

„Fangen wir einmal von hinten an“, sagte er schließlich, „bei der Durchführbarkeit. Es ist sehr schwer, an Hermie überhaupt heranzukommen…“

„Es gibt einen Tag, an dem wir auf jeden Fall an sie herankommen“, erwiderte Ares, „und sie selbst hat uns den Termin genannt. Ein sehr symbolträchtiges Datum für ein Attentat, finde ich: Am 2. Mai wird sie zur Siegesfeier in Hogwarts sein.“

„Umgeben von einem halben Dutzend mit allen Wassern gewaschener Sicherheitsauroren“, ergänzte Roy, „die sie garantiert mit einer Schutzglocke vor jeder Schwarzen Magie abschirmen. Den Todesfluch, falls du an den gedacht hast, kannst du ganz schnell vergessen.“

„Schade“, warf Orpheus jetzt ein, „dann entfällt auch die Möglichkeit, die ich mir überlegt habe.“

„Die da lautet?“, wollte Roy wissen.

„Sie mit dem Imperiusfluch zu belegen. Es geht doch nur darum, ihr Verhalten zu ändern. Ob durch Überzeugung oder auf magische Weise, spielt eigentlich keine Rolle.“

„Ja, aber es geht eben nicht“, sagte Ares. „Aber wo steht geschrieben, dass es durch Magie geschehen muss? Damit rechnen ihre Auroren, darauf sind sie eingestellt. Mit Muggeltechnologie rechnen sie nicht.“

„Muggeltechnologie?“, fragte Julian zweifelnd.

„Ich glaube nicht, dass sie ein Attentat mit einem Revolver in Betracht ziehen.“

„Und wenn doch?“, fragte Roy. „Das sind hochqualifizierte Profis, die sollten mit allem rechnen, und außerdem würde es mich überhaupt nicht wundern, wenn Hermie sie schon zu einer Sonderausbildung zum MI-5 geschickt hätte. Dem Muggelgeheimdienst“, fügte er hinzu, als er die verwirrten Blicke der Anderen bemerkte. „Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. Orpheus hat die Idee ins Spiel gebracht, ihr Verhalten zu ändern. Warum verhält sie sich eigentlich so, wie sie sich verhält? Den Imperius werden wir nicht anwenden können. Was aber, wenn sie bereits unter dem Imperius steht und von einem Unbekannten gelenkt wird?“

„Wie kommst du denn darauf?“ Arabella, die sich bisher kaum an der Debatte beteiligt hatte und überhaupt ziemlich mürrisch wirkte, zeigte sich jetzt doch interessiert.

Albus Potter hat mich auf die Idee gebracht. Er glaubt, dass ein fremder Wille von ihr Besitz ergriffen haben könnte.“

„Es ehrt dich“, meinte Arabella ironisch, „dass du den Kleinen so ernst nimmst. Aber mal ehrlich: Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Der Kleine liebt seine Tante und kennt sie bisher nur privat. Jetzt hat er zum ersten Mal ihr Politikergesicht gesehen, das ganz anders aussieht, und versucht, sein Bild von ihr zu retten, indem er einem Unbekannten die Schuld gibt. Ich finde das wirklich ganz süß von ihm, aber das kann doch für uns keine Rolle spielen, oder?“

„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Roy nachdenklich. „Ich hatte während der Diskussion auch plötzlich dieses Gefühl, als wäre sie ausgewechselt worden. Ihr wart nicht so nah dran wie ich. Das waren nicht einfach zwei Gesichter derselben Person, es war wirklich, als hätte ich es auf einmal mit jemand anderem zu tun. Es war nur kurz, aber ziemlich gruselig.“

„Nehmen wir einmal an, sie stünde tatsächlich unter dem Imperius“, überlegte Orpheus. „Dann wäre die Lösung ganz einfach: Wir belegen sie nicht mit dem Imperius, sondern mit dem AntiImperius! Gegen den einen werden ihre Auroren vorsorgen, gegen den anderen eher nicht. Wenn sie wirklich ferngelenkt wird, wird der Imperiusfluch dadurch neutralisiert.“

„Du weißt aber, dass der Anti-Imperius ziemlich heikel ist?“

„Ich bin erst in der Fünften, wir hatten ihn noch nicht“, gab Orpheus zu.

„Ach ja. Nun, der Anti-Imperiusfluch schaltet den Willen aus, der die betreffende Person steuert. Wenn sie unter dem Imperiusfluch steht, ist das der kontrollierende Wille dessen, der sie verhext hat, und sie wird von dessen Kontrolle befreit. Steht sie aber nicht unter dem Imperius, dann wird ihr eigener Wille vernichtet und sie selbst als Person zerstört. Entweder stirbt sie sofort, oder sie verbringt den kurzen Rest ihres Lebens in völliger geistiger Umnachtung.“

„Na, das ist doch perfekt.“ Ares hatte wieder sein Piratengrinsen. „Entweder tut sie das, was sie tut, weil sie unter dem Imperiusfluch steht, dann befreien wir sie davon. Oder sie tut es von sich aus. In diesem Fall…“

Er machte die Geste des Halsabschneidens. Arabella sah genervt zur Decke.

„Im Grunde“, fuhr Ares fort, „sind das doch alles wilde Spekulationen. Wir wissen nicht, ob sie unter einem Fluch steht. Und wenn, wissen wir nicht, ob es der Imperius ist. Wenn wir sie beseitigen, sind wir auf der sicheren Seite. Egal, ob verflucht oder nicht: Wenn sie tot ist, ist sie unschädlich.“

„Das heißt aber noch lange nicht, dass wir unser Ziel erreichen“, entgegnete Roy. „Ihr wisst ja, dass ich mich viel mit Muggelgeschichte befasse. Während des letzten Krieges gab es in Deutschland ein Attentat auf den Diktator. Es schlug fehl, und das Ergebnis war, dass Tausende Regimegegner verhaftet und viele von ihnen umgebracht wurden…“

No risk, no fun!“, warf Ares ein.

Roy ignorierte ihn. „Das Regime saß für den Rest des Krieges fester im Sattel als zuvor. Wäre der Anschlag aber gelungen, dann hätten die Deutschen dem Diktator posthum einen Heiligenschein verpasst, und er genösse bis heute den Ruhm, als glorreicher unbesiegter Feldherr einem schnöden Verrat zum Opfer gefallen zu sein. Auf unsere Verhältnisse übertragen: Wenn Hermie bei einem Attentat stirbt, wird man sie zur Staatsheiligen machen und an jedem 2. Mai eine Hermine-Granger-Weasley-Gedächtnismesse feiern, bei der Alle die Füße ihrer überlebensgroßen Statue küssen müssen. Jede Kritik an ihrer Politik wird als pietätlos gelten. Ich höre geradezu die Reden: ‚Sie darf nicht umsonst gestorben sein, wir müssen ihr Werk noch entschlossener fortsetzen‘, blabla. Ändern wird sich gar nichts, außer dass ihr Kurs sogar noch verschärft wird und wir in Askaban sitzen.“

Ares sah ihn misstrauisch an: „Soll ich dir mal etwas sagen, Roy? Du willst einfach nicht! Du suchst nach Gründen, es nicht zu machen!“

„Na, und wenn? Ich finde doch auch Gründe, und zwar ziemlich gute.“

„Vielleicht für den alten Priester, von dem du allzu viel gelernt hast für einen Zauberer.“

„Ich brauche keinen Priester“, knurrte Roy, „um die Tötung eines Menschen für eine Ungeheuerlichkeit zu halten, die man nur in Notwehr in Betracht ziehen darf…“

„Dies ist eine Notwehrsituation!“, rief Ares erregt dazwischen.

„…aber auch dann nur“, – Roy sprang auf und wurde laut –, „wenn man sich vergewissert hat, dass es überhaupt keine andere Möglichkeit gibt, du Sohn eines…“

„Roy!“, schrie Arabella dazwischen.

„Komm mir nicht so!“ Ares sprang ebenfalls auf. „Ich weiß wenigstens, wer mein…“

„Schluss jetzt!“ Wieder war es Arabella. „Ihr solltet euch was schämen!“

Einen Moment starrten die beiden Kampfhähne einander in die Augen.

„Tut mir leid“, sagte Roy schließlich.

„Mir auch“, erwiderte Ares, und beide meinten es ehrlich. Sie setzten sich wieder.

„Die Attentatsidee, so viel können wir wohl festhalten“, sagte Julian, „ist, auch abgesehen von der moralischen Seite, eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten, im Grunde – entschuldige bitte, Ares – eine Verzweiflungslösung. Die interessantesten Vorschläge waren bis jetzt die, die darauf hinauslaufen, Hermies Verhalten mit magischen Mitteln zu ändern. Also entweder durch einen wie auch immer gearteten Zauber oder Fluch oder durch einen Gegenfluch, durch den wir sie von der Kontrolle durch einen – bis jetzt noch hypothetischen – Dritten befreien. Seid ihr damit einverstanden, dass wir in dieser Richtung weitersuchen?“

„Ja!“, riefen Roy, Orpheus und Arabella, erleichtert, nicht zu Mördern werden zu müssen.

„Ja“, sagte schließlich auch Ares. „Nur, mit Verlaub: Wenn ihr schon einen Anschlag für undurchführbar haltet, um wie viel undurchführbarer ist dann euer Vorschlag? Egal, ob Fluch oder Gegenfluch: In jedem Fall bräuchten wir Kenntnisse in Schwarzer Magie, die wir nicht im Entferntesten haben.“

„Ich glaube nicht“, erwiderte Julian zuversichtlich, „dass es in der Hogwarts-Bibliothek irgendein Buch gibt, das Roy noch nicht gelesen hat. Stimmt’s, Roy?“

„Ich muss dich enttäuschen, diese Bücher gibt es sehr wohl, und es sind leider genau die, die wir jetzt bräuchten, nämlich die in der Verbotenen Abteilung. Ich habe mich für Schwarze Magie nie besonders interessiert. An die Bücher heranzukommen, ist allerdings nicht das ganz große Problem: Als Vertrauensschüler habe ich regelmäßig Nachtwache und kann mich völlig legal nachts durchs Schloss bewegen. Zufällig habe ich gerade heute Schicht und werde mich in der Verbotenen Abteilung einmal umsehen. Nur…“

Er machte eine Pause.

„Nur?“, fragte Orpheus neugierig.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in den Büchern mehr als ein paar Hinweise finde. Überlegt doch: Wenn ihr Schwarzmagier wärt und so mächtige Zauber beherrschen würdet, würdet ihr sie dann veröffentlichen, damit Hinz und Kunz sie benutzen können?“

„Wir brauchen also“, überlegte Arabella, „als menschliche Informationsquelle einen echten Topexperten für Schwarze Magie. Wo nehmen wir den her? Die wenigen bedeutenden Schwarzen Magier, die noch am Leben sind, sitzen in Askaban oder im Ausland.“

„Und alle anderen, die etwas davon verstehen, in Potters Aurorenabteilung“, ergänzte Ares, „dieser Gryffindor-Mafia!“

„Oh, sag das nicht“, meinte Roy ironisch. „Potter hat seine Abteilung mit drei oder vier Vorzeige-Ravenclaws und Alibi-Hufflepuffs aufgehübscht.“ Sie lachten freudlos. Es verstand sich sozusagen von selbst, dass es unter den Auroren keinen Slytherin gab, dem sie sich möglicherweise hätten anvertrauen können.

„Trotzdem sollten wir Kontakt zu ihm suchen“, sagte Roy schließlich zur allgemeinen Überraschung.

„Und dann?“, wollte Julian wissen. „Dann fragst du ihn: Hallo, Mr. Potter, geben sie mir bitte Nachhilfe in Schwarzer Magie, damit ich Ihre Vorgesetzte verhexen kann?“

Alle lachten.

„Wir wissen doch noch gar nicht“, erwiderte Roy, „ob es ums Verhexen oder ums Enthexen gehen wird, und Letzteres könnte er vielleicht unterstützen. In jedem Fall kann es nicht schaden, einen Draht zu ihm zu haben.“

Roy zählte mit den Fingern auf: „Er hat Kenntnisse, die uns weiterhelfen könnten, er ist im Ministerium strategisch platziert. Außerdem hat er Einfluss bei den Gryffindors, und er ist Hermies bester Freund.“

„Das ist ja nun wirklich keine Empfehlung“, warf Ares ein.

„Wenn sie unter einem Fluch steht, dann schon. Außerdem gilt er als ziemlich anständig und sauber, ich glaube schon, dass er uns zuhören würde. Ich weiß nur nicht, was wir ihm sagen sollen, und wie wir an ihn herankommen. Sicher könnte Albus einen Kontakt herstellen, aber dann müsste ich schon mit einem konkreten Anliegen an seinen Vater herantreten, und dabei geht es mir ja erst einmal nur darum, ihm auf den Zahn zu fühlen.“

Wenn sie es nur gewusst hätten: Harry Potter war in diesem Augenblick keine zwanzig Meter von ihnen entfernt. Sie hätten ihn nur hereinzubitten brauchen.

Da es auf neun Uhr zuging, Roy seine Nachtwache antreten musste und sie alle das Bedürfnis hatten, dieses Gespräch erst einmal sacken zu lassen, vertagten die Unbestechlichen sich auf den nächsten Abend, in der Hoffnung, Roy werde ihnen dann schon erste Ergebnisse seines nächtlichen Bibliotheksstreifzugs vorlegen, und verließen ihren Geheimraum.

13 – Aufschlussreiche Gespräche

 

Es war gegen halb acht, als Harry unter dem Schutz seines Tarnumhangs vor dem Portal des Schulgeländes apparierte. Er sah sich um und stellte fest, dass er allein war. Harry löste den Sperrzauber des Portals. Strenggenommen durfte er das nicht, weil er ja privat hier war, aber er wusste, dass er bei McGonagall Persona grata war, und verließ sich darauf, dass sie es ihm erlaubt hätte. Wie Hermine knapp 36 Stunden zuvor genoss er den kleinen Spaziergang hinauf zum Schloss und hing seinen Erinnerungen nach.

Er öffnete das Schlossportal einen winzigen Spalt und schlüpfte hinein. Einige Schüler kamen gerade vom Abendessen aus der Großen Halle. James war nicht unter ihnen, er musste wohl schon im Gemeinschaftsraum sein. Harry eilte zum Gryffindor-Turm hinauf und brauchte nicht lange zu warten, bis ein jüngerer Schüler, nachdem er dem Portrait der fetten Dame das korrekte Passwort „Verlorene Eier“ genannt hatte, eingelassen wurde und Harry ihm unter dem Schutz des Tarnumhangs folgen konnte.

James hatte es sich mit einigen Gleichaltrigen in Sesseln bequem gemacht, die um einen Tisch herumstanden. Einen Moment lauschte Harry ihrer Unterhaltung, die sich aber um für ihn Belangloses drehte. Er näherte sich seinem Sohn von hinten, beugte sich zu ihm hinunter und sprach ihm leise ins linke Ohr:

„Dreh dich jetzt nicht um.“ Als James die Stimme seines Vaters erkannte, zuckte er ein wenig, zwang sich dann aber, weiterhin geradeaus zu blicken. „Ich trage den Tarnumhang. Komm bitte heraus, wir müssen irgendwo ungestört reden.“

James stand auf. Auf die fragenden Blicke seiner Freunde hin murmelte er etwas von der Bibliothek und begab sich dann schleunigst zum Ausgang. Draußen flüsterte Harry ihm zu: „Ein Stockwerk unter uns ist ein leeres Klassenzimmer. Dort gehen wir hin.“

Im Klassenzimmer nahm Harry den Umhang endlich ab. Vater und Sohn umarmten einander.

„Was soll der Umhang?“, stellte James die Frage, die ihm die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte. „Hast du Hausverbot?“

„Ich möchte weder den Eindruck erwecken“, antwortete Harry, „dass die Aurorenabteilung in Hogwarts ermittelt…“

„Sollte sie aber. Gründe genug hätte sie“, fiel James ihm frech ins Wort.

„…noch möchte ich deine Mitschüler neidisch machen, die vielleicht auch ganz gerne einmal Besuch von ihren Eltern bekämen. Du wirst niemandem erzählen, dass ich hier war, und erst recht nicht, worüber wir gesprochen haben.“

„Zu Befehl, Sir!“, sagte James mit einer Ironie, die seinem Vater nicht gefallen wollte.

„Was war das heute Morgen für eine Aktion gegen die Slytherins?“

„Cool, was? Hermine war gestern noch bei uns und hat uns gesagt, wir sollen den Slytherins so lange zusetzen, bis sie entweder den Schwanz einziehen oder ihre Maske fallen lassen.“

„Was für eine Maske?“, fragte Harry verwundert.

„Na, ihre Heuchelei vom neuen Slytherin. Sie hat gesagt, wir sollen so viel Druck wie möglich aufbauen. Die einen sollen aus Angst ihr Maul halten…“

James!“

„…die anderen so provoziert werden, dass sie sich den Todesser raushängen lassen und man gegen sie vorgehen kann. Das mit dem Einschüchtern funktioniert schon.“ Er grinste selbstgefällig. „Die trauen sich nur noch im Rudel aus ihrem Loch.“

Harry konnte kaum glauben, dass diese Worte aus dem Mund seines eigenen Sohnes kamen. Und doch kam ihm diese miese, fiese Art unangenehm vertraut vor. Richtig, damals in Snapes Denkarium hatte er in dessen Erinnerungen geforscht und seinen eigenen Vater James als Fünfzehnjährigen erlebt, wie er Snape aus purer Gehässigkeit demütigte.

„Was soll das heißen?“, fragte er. „Sich den Todesser raushängen lassen?“

Hermine meint, unter Druck knicken die einen ein, die anderen, die den harten Kern bilden, werden aggressiv und vielleicht gewalttätig. Und dann“, schloss James triumphierend, „dann haben wir sie!“

„Wer ist wir?“

„Nun ja, alle, die hinter Hermine stehen. Wenn du mich fragst, ist sie einfach genial. Du stehst doch auch hinter ihr?“

Ein leiser Zweifel lag in James‚ Stimme, da sein Vater seine Begeisterung so gar nicht zu teilen schien.

Harry brachte es nicht fertig, die Frage mit „Ja“ zu beantworten. Selbstverständlich stand er hinter Hermine, aber…

„Hinter solchen Methoden stehe ich nicht!“

James sah seinen Vater verblüfft an. „Äh, Papa, es ist eine klare Anweisung der Zaubereiministerin…“

„Anweisung? Sie hat euch keine Anweisungen zu geben!“, konterte Harry aufgebracht. „Das Ministerium hat in Hogwarts überhaupt nichts zu melden!“

James meinte leicht verdattert: „Also, wenn es wegen Al ist, kann ich dich beruhigen. Hermine hat uns, also Rose, Victoire und mir gesagt, wir sollen uns um ihn bemühen, um ihn von seinen Todesserfreunden wegzuziehen. Viel Erfolg hatten wir bis jetzt allerdings nicht. Er meidet uns.“

„Würde ich an seiner Stelle auch tun“, knurrte Harry.

„Auf jeden Fall hat er von uns nichts zu befürchten. Victoire hat ganz klar allen Gryffindors die Anweisung gegeben, die Slytherins in Ruhe zu lassen, wenn Al dabei ist.“

„Victoire?“

„Sie hat als Vertrauensschülerin sozusagen das Kommando übernommen.“

Harry trat ans Fenster und tat so, als sehe er hinaus, obwohl es in der Dunkelheit überhaupt nichts zu sehen gab. Er brauchte einen Moment, sich zu beruhigen, bevor er sich wieder zu seinem Sohn umdrehte.

„Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, wohin das führen kann?“, fragte er eindringlich. „Wenn ihr das weiter in dieser Art eskaliert, gibt es womöglich Tote!“

„Das glaube ich nicht!“

„Ach, das glaubst du nicht? Was weißt denn du schon?“

Einen Moment lang drohte er die Beherrschung zu verlieren. Dann sagte er leise:

Draco und ich hätten uns in einer ähnlichen Situation beinahe umgebracht! Er wäre gestorben, wenn Snape nicht zur Stelle gewesen wäre, um ihn mit einem Gegenzauber zu retten! Könntest du mit so etwas leben? Ich hätte es nicht gekonnt!“

James war etwas blass geworden, aber er erwiderte: „Papa, das ist ein Krieg. Da müssen Opfer gebracht werden.“

„Hast du diesen pathetischen Quatsch etwa auch von Hermine?“

James schluckte. „Sprich bitte nicht so von ihr. Hermine ist das Beste, was der Zaubererwelt je passiert ist, und ich stehe hundertprozentig hinter ihr. Nicht so wie du.“ Und leise fügte er hinzu: „Sei froh, wenn ich das, was ich eben gehört habe, für mich behalte.“

Er wandte sich ab und ging hinaus, während sein Vater ihm fassungslos nachstarrte.

Hatte sein dreizehnjähriger Sohn ihm wirklich soeben gedroht, ihn bei seiner Chefin und Freundin als unsicheren Kantonisten anzuschwärzen?

Hatte er.

Harry zwang sich, zunächst nicht darüber nachzudenken. Er hatte sich selbst einen Auftrag erteilt und würde ihn ausführen. Er musste McGonagall sprechen.

Als er in den Gang einbog, in dem das Büro der Schulleiterin lag, konsultierte er nochmals die Karte des Rumtreibers: Sie war nicht mehr allein, Whiteman war bei ihr. Zwei Lehrer in einer Sitzung – das konnte dauern. Harry beschloss, sich ein wenig im Schloss umzusehen. Aber wo? Zuerst zögernd, dann entschlossen lenkte er seine Schritte in Richtung der Untergeschosse. Insgeheim hoffte er, in der Nähe der Slytherin-Räume Albus zu begegnen, obwohl es für diesen Zeit war, schlafen zu gehen. Ein langes Gespräch würde nicht mehr möglich sein, aber so verstört, wie Albus‚ Brief geklungen hatte, wäre es vielleicht gar keine üble Idee, den Jungen wissen zu lassen, dass sein Vater die Vorgänge in Hogwarts aufmerksam verfolgte.

Im tiefsten Untergeschoss angekommen, schlug er den Weg zum Slytherin-Gemeinschaftsraum ein. Er passierte gerade die Einmündung eines Seitengangs, von dem er wusste, dass er nur Besen- und Abstellkammern beherbergte, da bemerkte er aus den Augenwinkeln in diesem Gang ein leichtes Flimmern, dem ein Anderer keine Beachtung geschenkt hätte. Harry jedoch war in seiner Aurorenausbildung darauf geschult worden, auch die kleinste Merkwürdigkeit wahrzunehmen und ihr nachzugehen. Er sah genauer hin: Kein Zweifel, eine Öffnung war in der Mauer entstanden, wo Sekunden zuvor noch keine gewesen war. Ein Raum der Wünsche? Hier im Kerkergeschoss?

Geschützt von seinem Tarnumhang lehnte Harry sich an die Wand, beobachtete, wie ein vielleicht fünfzehnjähriger Schüler zuerst lugend den Kopf heraussteckte, dann aus der Öffnung trat und Anderen ein Zeichen gab, ihm zu folgen. Drei Jungen und ein Mädchen, alle um die sechzehn, folgten dem ersten nacheinander auf den Gang, darunter auch Roy MacAllister, den Harry von den Bildern im Tagespropheten her wiedererkannte. Das mussten diese „Unbestechlichen“ sein, von denen Hermine erzählt hatte. Die Öffnung schloss sich wieder.

Harry grinste. Er ließ sich von Hermine gerne für seine Ermittlungserfolge, seinen Instinkt und seine Findigkeit loben, war sich aber immer klar darüber, dass er oft einfach unverschämt viel Glück gehabt hatte, fast als ob ihm jemand eine Dauerinjektion Felix Felicis verabreicht hätte. Auch heute war sein Glück ihm offenbar treu.

MacAllister zupfte das Mädchen sachte am Hexenumhang und bedeutete ihm dadurch, stehenzubleiben, während die Anderen zügig in Richtung des Gemeinschaftsraums gingen. Als sie sich an der Ecke zum Hauptgang umdrehten, rief er ihnen zu: „Geht schon einmal, wir kommen gleich!“

Während ihre Schritte langsam verklangen, fragte er das Mädchen – zweifellos Arabella Wolfe –, das mit abweisender Miene neben ihm stand: „Was ist eigentlich heute los mit dir? Du ziehst schon den ganzen Tag ein Gesicht, als hätte ich dir etwas getan.“

„Ach“, sagte sie schnippisch, „da du heute Morgen so eine wunderbare Freundschaft begonnen hast, möchte ich dich nicht mehr als nötig mit meiner Gesellschaft belästigen.“

„Wunderbare Freundschaft?“, fragte Roy verdutzt, dann begriff er. „Ach, du hast gehört, was ich heute Morgen zu Patty gesagt habe…“

„Du darfst sie ruhig Patricia nennen, oder geht ihr schon zu den Kosenamen über?“

„Aber Arrie, der Satz mit der wunderbaren Freundschaft ist doch nur eine Redensart…“

„…die außer dir offenbar niemand kennt, schon gar nicht Pattymausi.“

„Jeder kennt sie… OK, jeder in der Muggelwelt kennt sie. Es ist der Schlusssatz eines sehr berühmten Films.“

„Und du glaubst, dass Patricia jemals einen Muggelfilm gesehen hat?“

Roy wirkte verlegen: „Tut mir leid, daran habe ich gar nicht gedacht…“

„Natürlich nicht“, sagte sie zickig, „du warst ja auch viel zu sehr in die Anbetung deiner Veela versunken, um so etwas wie einen Gedanken zu fassen. Vielleicht solltest du deine neue Flamme öfter ins Muggelkino ausführen, damit sie deine Redensarten nicht als Annäherungsversuche missdeutet. Oder soll sie das vielleicht gerade?“

Arabella versuchte sich zu beherrschen, aber ein leichtes Zittern ihrer Lippen verriet, wie verletzt sie war.

„Arrie.“ Roy sah ihr in die Augen. „Es war kein Annäherungsversuch, okay?“

Ihre abweisenden Züge entspannten sich.

„Okay. Was bleibt mir auch übrig? Also nur rein vorsorglich: Lass dich von ihr nicht einwickeln, ich glaube nicht, dass sie dir guttäte. Selbst wenn irgendwann etwas zwischen euch laufen sollte, wird sie dich nie so lieben wie – wie sie sollte. Und jetzt lass uns gehen.“

Sie gingen an Harry vorbei und bogen in den Hauptgang ein. Harry folgte ihnen. Sie schienen es nicht eilig zu haben, zu den Anderen zu kommen. Schließlich sagte Arabella:

„Deine Argumente gegen das Attentat waren nicht gerade durchschlagend.“

Attentat! Harry zuckte zusammen.

„Sie waren durchschlagend, denn sie haben euch überzeugt.“

„Ja, aber nur, weil wir uns überzeugen lassen wollten.“

„Wie auch immer“, brummte Roy, „das Thema ist vom Tisch.“

„Ich frage mich, warum du so argumentiert hast.“ Sie sah ihn an. „Also was deine wirklichen Motive waren.“

„Die habe ich doch lang und breit dargelegt.“ Roy klang ungeduldig.

„Sag mal“, erwiderte Arabella lächelnd, „wie lange sind wir jetzt Freunde?“

„Seit wir in Hogwarts sind, also fünf Jahre.“

„Und du glaubst immer noch, du kannst deine beste Freundin für dumm verkaufen?“

Roy schwieg.

„Könnte es sein“, fragte sie schließlich, „dass du vor allem deshalb dagegen warst, weil du einem gewissen kleinen Jungen nicht mehr ins Gesicht sehen könntest, wenn du gleichzeitig einen Anschlag auf seine geliebte Tante vorbereiten würdest?“

Harry hörte angestrengt zu, um nur ja kein Wort zu verpassen.

Roy errötete leicht. „Das hat damit überhaupt nichts zu tun!“

„Roy, bitte! Kannst du nicht wenigstens dieses eine Mal zu deinen Gefühlen stehen? Es ist wirklich unübersehbar, dass du an dem kleinen Potter einen Narren gefressen hast.“

„Stimmt“, presste er durch die geschlossenen Zähne hindurch. „Aber auf mein Urteil hat das keinen Einfluss, ein Argument ist es jedenfalls nicht.“

Arabella lachte laut auf. „Natürlich nicht! Unser stahlharter Hausintellektueller kann auf keinen Fall zugeben, das sogar für ihn Gefühle Argumente sind!“ Sie kicherte. „Süüüß!“

Dann wurde sie ernst. „Ich sag dir mal was: Das sind die besten Argumente, die es gibt, denn sie bewahren dich davor, vor lauter Logik deine Seele zu zerstören.“

Roy schwieg, während sie weitergingen.

„Wieso eigentlich ausgerechnet Albus?“, fragte sie schließlich. „Ich meine, er ist wirklich liebenswert, aber das sind Andere auch.“

Sie hatten jetzt die Tür zum Gemeinschaftsraum erreicht.

„Habe ich mich auch schon gefragt.“ Roy blickte zu Boden. „Wahrscheinlich, weil er genau so ist, wie ich mir meinen kleinen Bruder wünschen würde, wenn ich einen hätte.“

„Siehst du?“, strahlte sie. „Sogar du kannst zu deinen Gefühlen stehen, und es tut gar nicht weh.“

Und während sie im Gemeinschaftsraum verschwanden, lächelte ein stolzer Vater unter seinem Tarnumhang.

Harry versuchte nicht, ihnen in den Gemeinschaftsraum zu folgen; ein kurzer Blick auf die Karte hatte ihn belehrt, dass McGonagall jetzt wieder allein in ihrem Büro war, und er beeilte sich, zu ihr zu gelangen. Vor der Tür, hinter der die Treppe zu ihrem Büro lag, vergewisserte er sich, dass er allein im Gang stand, nahm den Tarnumhang ab, hob den Zauberstab und murmelte „Accio Büroglocke“. Anders als Hermine war er in den letzten Jahren ein oder zweimal in Hogwarts gewesen und kannte daher den Zugang. Die Tür öffnete sich, und Harry schlüpfte hinein. Am Ende der Treppe stand die Tür bereits offen.

„Guten Abend, Harry, was für eine Überraschung!“

McGonagall zeigte ein Schmunzeln, dass bei ihr ungefähr so viel zu bedeuten hatte wie bei anderen Menschen ein Freudentanz.

„Guten Abend, Professor McGonagall“, sagte Harry und grüßte kopfnickend auch das Portrait von Professor Dumbledore, der ihm lächelnd zuzwinkerte. „Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, aber ich hatte keine Zeit, mich anzukündigen.“

„Sie kommen niemals ungelegen, Harry, nehmen Sie doch Platz! Wie geht es Ginny?“

„Sie ist sehr beunruhigt. Wir haben heute diesen Brief von Albus bekommen. Beunruhigend sind vor allem die letzten Absätze.“

Harry legte die Rolle auf den Tisch. McGonagall entrollte den Brief, überflog den ersten Teil und las das Ende mit besonderer Aufmerksamkeit. Ihre Miene verdüsterte sich.

„Tja“, sagte sie schließlich, indem sie Harry den Brief zurückreichte, „da kann sich eine Mutter in der Tat Sorgen machen.“

„Sie ist nicht die einzige. Auch die Ministerin ist besorgt, wenn auch aus anderen, teils entgegengesetzten Gründen.“

„Ach ja?“, fragte die Schulleiterin dünnlippig und sah Harry kritisch an.

„Ich bin inoffiziell hier und möchte mir ein persönliches Bild von der Lage in Hogwarts machen. Deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen.“

Es wurde ein langes Gespräch. McGonagall schilderte zunächst die Ereignisse des Vortags und erwähnte auch den Streit, den sie beim Mittagessen mit Hermine gehabt hatte, und von dem Harry noch nichts wusste. Er war bestürzt zu hören, dass Hermine der Schulleiterin den Rücktritt nahegelegt hatte.

„Sie hat sich sehr verändert“, sagte McGonagall traurig. „Als sie Ministerin wurde, freute ich mich sehr darüber. Ich war überzeugt, dass es keine Bessere für dieses Amt geben könne. Gestern aber fiel mir es mir schwer, in ihr noch Spuren des idealistischen jungen Mädchens wiederzuerkennen, das ich einmal gekannt habe. Gewiss, es hat schon manchen gegeben, bei dem Idealismus in Fanatismus umschlug, aber bei ihr hätte ich damit nicht gerechnet. Sie war wie ein anderer Mensch.“

„Sie ist jetzt Ministerin und muss bisweilen energisch auftreten“, versuchte Harry sie zu verteidigen.

Harry“, sagte McGonagall mit leisem Tadel, „Sie dürfen Ihrer alten Lehrerin durchaus ein gewisses Unterscheidungsvermögen zutrauen. Dass sie energisch ist, stört mich überhaupt nicht, ich selbst bin es auch. Was mich stört ist, dass sie Meinungsverschiedenheiten mit Feindschaften verwechselt. Eine gewisse Öffnung gegenüber der Muggelwelt – nun, darüber kann man diskutieren. Aber wie soll eine Diskussion stattfinden, wenn sie jeden Andersdenkenden gleich als Todfeind betrachtet? In einem MacAllister, der durchaus stichhaltige Argumente vorgetragen hat, einen Todesser zu sehen, ist doch abenteuerlich und anachronistisch!“

Harry dachte daran, dass Roy und seine Freunde immerhin ein Attentat auf Hermine erwogen haben mussten, sagte aber nichts. Er fragte nur:

„Was für ein Mensch ist MacAllister, und warum ist er so gegen Hermine?“

„Er stammt aus schwierigen Verhältnissen. Nach Hogwarts zu kommen, war für ihn eine Erlösung, genau wie für Sie damals. In der Muggelwelt hätte er kaum Tritt fassen können. Hier hat er festen Boden unter den Füßen gefunden, genau wie Sie. Seine Opposition gegen das Ministerium rührt meines Erachtens daher, dass er fürchtet, diesen festen Boden wieder zu verlieren.“

„Ich verstehe. Und seine Freunde, die sogenannten ‚Unbestechlichen‘?“

„Lestrange opponiert gegen seinen Vater und idealisiert deshalb seine Großeltern, Malagan ist ein Querkopf, Macnair hasst die Regierung, weil sie seine Familie schikaniert“, – Harry errötete leicht –, „und Miss Wolfe ist mit allen befreundet. Das ist sein engster Kreis. Ganz ehrlich, Harry, ein Regime nach Art von Voldemort werden sie schon deshalb nicht anstreben, weil kein Mensch einen Staat errichtet, in dem er selbst nicht leben wollen würde.“

Sie kamen nun auf die Feindseligkeit zwischen den Gryffindors und den anderen Häusern einerseits, den Slytherins andererseits zu sprechen. McGonagall war – zutreffenderweise, wie Harry nun wusste – überzeugt, dass die Ministerin persönlich die Gryffindors aufgehetzt hatte, und bestätigte, dass Albus‚ Schilderung korrekt und nicht etwa übersensibel war. Die Stimmung war wirklich pogromartig gewesen, und die Gryffindors hatten den ganzen Tag über hartnäckig Reibereien anzuzetteln versucht.

Als Harry McGonagalls Büro verließ, war es bereits weit nach Mitternacht.

14 – Nächtliche Begegnung

 

Harry hätte jetzt hinausgehen und außerhalb des Geländes disapparieren können und sollen – Ginny wartete bestimmt –, aber er konnte nicht anders: Er führte den Zauberstab an seine Schläfe und flüsterte: „Oculi felis“. Der Katzenaugenzauber war eine Spezialität, die die Auroren geheimhielten, denn er verschaffte ihnen in der Dunkelheit die Überlegenheit über jeden Gegner. Harry konnte nun durch die dunkelsten Gänge gehen und sah auch ohne das Licht seines Zauberstabs genug.

Er begann, durchs Schloss zu wandern. Jeder einzelne Stein dieses Gemäuers war für ihn mit Erinnerungen verknüpft, schönen, aufregenden, schmerzlichen. Hier hatte er Ginny in den Armen von Dean Thomas gesehen, in diesem Gang im siebten Stock hatten sie im Raum der Wünsche als Dumbledores Armee trainiert, und hier… hier war Fred gestorben. Es war fast zwanzig Jahre her, aber es war eine jener Wunden, die kaum heilen können: Es war praktisch unmöglich, George zu treffen, ohne daran zu denken, dass der andere fehlte. George hatte den Humor, den er mit seinem Bruder geteilt hatte, nie verloren, aber dieser Humor hatte seitdem oft etwas Bitteres.

Nur weg hier! Harry ging mit schnellen Schritten auf die nächste Einmündung eines Gangs zu und bog um die Ecke. Wahrscheinlich hatte er seine Schritte nicht genug gedämpft, denn kaum war er in diesem Gang ein paar Schritte gegangen, da flüsterte hinter ihm jemand „Lumos“, und ein Zauberstab flammte auf.

Harry war dazu ausgebildet worden, bei Gefahr sofort auf höchste Konzentration umzuschalten. Er blieb stehen und drehte sich schnell und dennoch vorsichtig um, um sich nicht wieder durch ein Geräusch zu verraten. Er sah MacAllister mit erhobenem Zauberstab dastehen, offenbar hatte er als Vertrauensschüler Nachtwache. Ganz schön clever, sich einfach in eine Nische zu drücken, abzuwarten und es anderen zu überlassen, Geräusche zu machen. Harry zog seinen Zauberstab aus dem Umhang.

MacAllister sagte blitzschnell dreimal nacheinander „Disinvisibilis“ und deutete in drei nur geringfügig voneinander abweichende Richtungen. Harry grinste. Hätte er sich eines Unsichtbarkeitszaubers statt eines Tarnumhangs bedient, dann wäre er jetzt sichtbar geworden. MacAllister überlegte kurz. Dann hob er den Zauberstab in die Höhe und sagte: „Calorate“.

Plötzlich verschwand das Licht des Zauberstabs. Harry sah, wie MacAllisters Gestalt sich in einen hellen Lichtfleck verwandelte: Hellgelb leuchtend am Rumpf, rot und teilweise bläulich an Armen und Beinen. Als Harry an sich selbst heruntersah, stellte er fest, dass auch sein Körper hellgelb leuchtete. Ein unbekannter Zauber! Sofort fasste er MacAllisters Umrisse scharf ins Auge, und gerade noch rechtzeitig, denn nun richtete dieser seinen Zauberstab geradewegs auf Harry und rief „Petrificus…“ – „Protego!“, rief Harry, bevor MacAllister aussprechen konnte. Der Erstarrungszauber prallte ab. MacAllister setzte nach: „Accio Tarn…“ – „Expelliarmus!“

MacAllister stürzte zu Boden, sein Zauberstab flog in hohem Bogen aus seiner Hand und blieb etwa drei Meter hinter ihm liegen, während das rote Leuchten, das von ihm ausging, erst in ein Grün, dann in ein immer schwächer werdendes Blau überging.

Einen Moment herrschte Stille.

Dann sagte Roy, während er sich aufrappelte:

„Sie haben gewonnen. Wären Sie jetzt bitte trotzdem so freundlich, mich meinen Zauberstab aufheben zu lassen, damit ich normale Sichtverhältnisse herstellen kann? Sie möchten die Welt doch bestimmt auch nicht den Rest Ihres Lebens in diesen komischen Farben sehen.“

„Heben Sie ihn auf“, antwortete Harry, von dessen Körper immer noch dieses seltsame gelbe Leuchten ausging, „aber lassen Sie sich keine Dummheiten einfallen und richten Sie Ihren Stab vor allem nicht auf mich. Ich bin schneller als Sie.“

„Ich weiß“, sagte Roy, hob den Zauberstab auf, reckte ihn in die Luft und sagte „Discalorate“, worauf das merkwürdige Leuchten verschwand, und gleich darauf „Lumos“. Der Gang vor ihm schien leer zu sein. „Würden Sie jetzt bitte Ihren Tarnumhang abnehmen, Mister Potter?“

Harry war verblüfft. „Wieso nennen Sie mich Potter?“

„Wenn jemand mit Disinvisibilis nicht sichtbar gemacht werden kann, wohl aber mit Calorate, dann muss er einen Tarnumhang benutzen, und der einzige mir bekannte Tarnumhang in England gehört dem Chef der Aurorenabteilung. Außerdem reagieren Sie so schnell, dass schon daran die Aurorenausbildung erkennbar ist. Und schließlich ist Ihre Neigung, nachts unter dem Tarnumhang in Hogwarts herumzuschleichen, an dieser Schule mindestens so legendär wie Ihre Vorliebe für Expelliarmus.“

Harry schälte sich aus dem Tarnumhang. Roy nahm seinen Zauberstab in die linke Hand, ging die wenigen Schritte auf Harry zu, reichte ihm die rechte und sagte:

„Roy MacAllister. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Sir.“

Harry spürte, dass dies keine Floskel war. Er nahm die Hand. „Harry Potter. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“

„Überwiegend Schlechtes, nehme ich an?“ Roy grinste.

„Von meinem Sohn Albus nicht“, erwiderte Harry, und Roys Grinsen ging in ein Lächeln über.

Keiner von beiden bemühte sich, die Neugier zu verbergen, mit der sie einander musterten.

„Sie würden einen guten Auror abgeben“, sagte Harry schließlich.

„Das nenne ich ein Lob aus berufenem Munde“, antwortete Roy sichtlich geschmeichelt. „Leider wird meine Karriere beim gegenwärtigen Stand der Dinge wohl eher nach Askaban führen als in eine Aurorenschule.“

„Tun Sie denn verbotene Dinge?“

„Wenn ich es täte, wären Sie wohl der Letzte, dem ich es auf die Nase binden würde“, erwiderte Roy grinsend. „Nein, ich sage ständig Dinge, die demnächst verboten werden, und ich habe nicht vor, mir das abzugewöhnen.“

Eine Pause trat ein.

„Darf ich Sie fragen, warum Sie den Tarnumhang benutzen, Sir? Professor McGonagall hat doch bestimmt nichts dagegen, dass Sie sich im Schloss frei bewegen?“

„Nein“, sagte Harry, „ich komme gerade von ihr. Aber wenn der Leiter der Aurorenabteilung sich nach einem Tag wie dem heutigen in Hogwarts sehen ließe, würde alle Welt es als Einschüchterungsversuch gegenüber Slytherin auffassen, und das möchte ich vermeiden.“

„Das ist sehr rücksichtsvoll, vielen Dank“, erwiderte Roy höflich.

„Was war das eigentlich für ein Zauber, den Sie eben angewandt haben?“

„Calorate? Den kannten Sie noch nicht, was?“, grinste Roy, nicht ohne Selbstgefälligkeit. „Ich habe ihn letztes Jahr als Facharbeit für Zauberkunst entwickelt. Er verändert die Wahrnehmung aller Personen in einem gewissen Umkreis so, dass ihre Augen statt des normalen sichtbaren Lichts Wärmestrahlung wahrnehmen. Ihr Tarnumhang schirmt nur sichtbares Licht nach innen ab, nicht aber Wärmestrahlung, deshalb konnte ich Sie sehen.“

„Genial! Wie sind Sie darauf gekommen?“, wollte Harry wissen.

„Ich lasse mich von Muggeltechnologie inspirieren, in diesem Fall von Wärmebildkameras. Ich versuche, magische Äquivalente für diese Technologien zu entwickeln. Es ist gewissermaßen ein Hobby von mir.“

„Ein eigenartiges Hobby für jemanden, der gegen die Öffnung zur Muggelwelt ist“, sagte Harry mit mildem Spott.

„Ich sage ja gerade nicht, dass man nichts von ihr lernen kann. Aber übernehmen darf man nur das, was man mit eigenen Mitteln beherrschen kann.“

„Haben Sie noch mehr Zauber dieser Art auf Lager?“

„Klar. Zum Beispiel kann man jede beliebige Flüssigkeit so verzaubern, dass sie, wenn sie fließt, Schall speichert. Ist die Flüssigkeit in einer Wasseruhr, und lässt man sie dann in die untere Kammer fließen, dann wird der aufgezeichnete Ton wiedergegeben. Gesprochene Worte sind dann deutlich zu verstehen. Leider gibt es in unserer Welt wenig Verwendung dafür.“

„Ich hätte schon Verwendung für so etwas“, meinte Harry, der sich eingestehen musste, dass Roy ihm gefiel.

„Ich zeig’s Ihnen gerne.“

„Ich komme darauf zurück“, versprach Harry. Sie gingen nun langsam nebeneinander her, weil Roy seinen Rundgang fortsetzen musste. „Momentan beschäftigt mich allerdings etwas Anderes. Ich bin nicht als Auror hier, sondern als Vater und Bürger, der sich Sorgen macht. Die letzten zwei Tage waren sehr ereignisreich, und ich möchte wissen, was hier in Hogwarts los ist. Und da Sie im Mittelpunkt all der Aufregung stehen, möchte ich vor allem etwas über Sie wissen. Insofern ist mir unsere Begegnung ganz recht.“

„Mir auch“, erwiderte Roy und fügte zu Harrys Überraschung hinzu: „Gerade heute Abend habe ich mit meinen Freunden darüber gesprochen, dass wir Kontakt zu Ihnen aufnehmen sollten.“

„Ja? Warum?“

„Aus zwei Gründen. Zum einen sind Sie ein Gryffindor. Wissen Sie, was die Gryffindors heute Morgen gemacht haben?“

„Ja, Albus hat es mir geschrieben“, gab Harry zu, „und Sie können sich nicht vorstellen, wie peinlich uns das ist – meiner Frau und mir.“

„Ich hätte mich auch sehr gewundert, wenn Sie es gebilligt hätten. Wir vermuten, dass die Ministerin die Gryffindors entsprechend instruiert hat. Wir glauben, dass die Spannungen zwischen den Häusern mit dem Ziel angeheizt werden, Gewalttätigkeiten zu entfesseln, die dann uns in die Schuhe geschoben werden und den direkten Durchgriff des Ministeriums auf Hogwarts legitimieren sollen, eventuell verbunden mit der Ablösung der Schulleiterin. Ich habe allen Slytherins eingeschärft, sich nicht provozieren zu lassen, aber die Nerven liegen blank, ich weiß nicht, wie lange wir es durchhalten. Wir alle, außer den Muggelstämmigen, haben unsere Eltern informiert, um Gegendruck auf das Ministerium und den Tagespropheten aufzubauen und uns dadurch ein wenig Entlastung zu verschaffen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es viel gebracht hat.“

Harry blieb stehen und musterte ihn: „Sie sind ein begabter Stratege, MacAllister. Ja, die Briefe, die noch vor Dienstschluss eingingen, haben im Ministerium allerdings für Unruhe gesorgt, und sie werden ja nicht die letzten sein. Respekt, Sie haben in Ihrer schwierigen Lage alles richtig gemacht.“

Er runzelte die Stirn. „Eines würde ich aber doch gerne wissen: Wieso vertrauen Sie mir eigentlich so weit, dass Sie mir das alles erzählen? Sie haben es ja selbst gesagt: Ich bin ein Gryffindor und obendrein Hermines bester Freund und einer ihrer engster Mitarbeiter.“

„Sie haben Söhne in beiden Häusern und bestimmt kein Interesse an einer weiteren Eskalation. Außerdem hat Albus mir erzählt, dass Sie keine Vorbehalte gegen Slytherin haben. Natürlich können Sie der Ministerin Bericht über unser Gespräch erstatten, aber dann erfährt sie nur, dass wir ihr Spiel durchschauen, und das kann nicht schaden.“

„Ich bin, wie ich schon sagte, privat hier“, sagte Harry, „und werde über unser Gespräch nichts berichten.“

Roy sah erstaunt auf, sagte aber nichts.

„Sie haben mir immer noch nicht die Frage beantwortet, warum Sie und Ihre Freunde Kontakt zu mir aufnehmen wollten“, nahm Harry den Gesprächsfaden wieder auf.

„Der eine Grund ist, dass Sie eine lebende Gryffindor-Legende sind, geradezu ein Star. Wir hoffen, dass Sie dort einen mäßigenden Einfluss ausüben können.“

„Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen, MacAllister. Die heutigen Gryffindors kennen meine Leistungen nur noch aus den Geschichtsbüchern. Ich bin dort schon lange kein Star mehr, das ist jetzt Hermine.“

Roy schluckte.

„Nicht einmal mein eigener Sohn“, fuhr Harry fort, „würde mir in diesem Fall gehorchen, erst recht keiner von den Anderen. Und wenn es stimmt, dass Hermine persönlich die Gryffindors in die Spur gestellt hat, erreiche ich überhaupt nichts, außer dass sie mir vorwerfen wird, ihre Politik zu hintertreiben.“

Wieder horchte Roy auf.

Sie schwiegen, während sie den Rundgang wieder aufnahmen.

„Und der zweite Grund?“, fragte Harry.

„Wir… wir vermuten, dass die Ministerin nicht aus freien Stücken so handelt, wie sie es tut.“

Er schilderte Harry seine und Albus‚ Beobachtungen vom gestrigen Tag.

„Wir befürchten, dass sie unter dem Einfluss eines Unbekannten steht, der sie mit einem Fluch oder sonstigen Zauber belegt hat. Allerdings verstehen wir selbst von Schwarzer Magie nur das, was wir in Verteidigung gegen die dunklen Künste lernen, und das ist entschieden zu wenig, um herauszufinden, ob und um welche Art von Fluch es sich handelt, von einem wirksamen Gegenfluch ganz zu schweigen. Sie aber kennen sich mit diesen Themen nicht nur aus, sondern sind als Leiter der Aurorenabteilung auch zuständig.“

„Ihre Sorge um das Wohl der Ministerin ehrt Sie, MacAllister“, erwiderte Harry, und die Ironie in seiner Stimme war unüberhörbar.

„Aber?“

Harry blieb wieder stehen und sah Roy fest in die Augen.

„Ich glaube, ich sollte Sie mit einigen Dingen konfrontieren, die ich heute gehört habe, und zwar von Ihnen selbst. Ich habe Sie und Ihre Freunde vorhin aus Ihrem – wie soll ich sagen: Raum der Wünsche? – kommen sehen und Ihr Gespräch mit Miss Wolfe – das war sie doch, oder? – mitangehört.“

Roy errötete, sagte aber nichts.

„Ich habe dabei manches gehört, was mir gut gefallen hat. Ich musste Ihrem Gespräch aber auch entnehmen, dass Sie einen Mordanschlag auf Hermine erwogen hatten.“

Roy zögerte kurz. „Das ist richtig“, sagte er schließlich. „Wenn Sie aber Alles gehört haben, wissen Sie auch, dass wir diesen Gedanken verworfen haben.“

„Dass Sie auf die Idee überhaupt gekommen sind, finde ich erschütternd.“

„Das verstehe ich gut, Sir. Nur, mit Verlaub: Es war ein reines Brainstorming. Wir haben erst einmal alle Möglichkeiten durchgespielt, die es theoretisch geben könnte, um mit einer Lage fertigzuwerden, die schließlich nicht wir herbeigeführt haben. Das Thema Attentat ist aber definitiv vom Tisch“, bekräftigte er.

„Sie haben aber doch sicher irgendwelche Entschlüsse gefasst.“

„Erstens den, den Sie schon kennen, nämlich Kontakt zu Ihnen zu suchen. Zweitens herauszufinden, um was für eine Art von Fluch es sich handeln könnte.“

„Warum überlassen Sie das nicht einfach mir und meinen Auroren?“

„Weil wir die Hände nicht in den Schoß legen können. Außerdem: Wenn Ihre Freundin wirklich unter der Kontrolle eines unbekannten Anderen steht, der sie zu einem Verhalten veranlasst, das ihrem Naturell an sich fremd ist, wer sagt uns dann, dass ihre nächste unerwartete Aktion nicht darin besteht, Sie als Chef der Aurorenabteilung abzulösen, sobald sie von Ihren Ermittlungen Wind bekommt?“

Hermine?“, fragte Harry belustigt und hätte am liebsten laut losgelacht.

„Nicht Hermine. Der, der sie kontrolliert.“

Dieses Argument hatte etwas für sich. Es war logisch.

„Sie wollen in die Verbotene Abteilung, um etwas über Eindring- und Kontrollzauber herauszufinden, stimmt’s?“, fragte Harry.

„Sagen wir, ich werde mir meine Informationen dort suchen müssen, wo sie sind. Zumal Sie mir sicher keinen Schnellkurs in Schwarzer Magie geben werden, Sir.“

Harry grinste, überlegte einen Moment und sagte dann:

„Nennen Sie mich bitte Harry. Sie sind ein Freund von Albus, da finde ich den ‚Sir‘ unangemessen.“

„Sehr gerne, Sir, äh… Harry“, erwiderte Roy, der sich sichtlich freute.

„Und wenn Sie nichts finden? Kommen Sie dann auf Ihre Anschlagspläne zurück?“, fragte Harry scheinbar scherzhaft.

„Nein, Harry“, erwiderte Roy ernst. „Ich verspreche es Ihnen. Und Sie wissen, warum.“

Sie gingen schweigend nebeneinander her.

Als sie die Eingangshalle erreichten, fiel Harry noch eine Frage ein:

„Was für ein Raum war das eigentlich, aus dem Sie und Ihre Freunde gestern Abend gekommen sind? Haben Sie etwa den Raum der Wünsche ins Untergeschoss verlegt?“

Roy lachte. „So gut sind wir auch wieder nicht. Nein, es ist ja nicht schwer, einen großen Geheimraum zu erzeugen. Ich habe einfach die Wand einer Besenkammer verdoppelt und ein wenig Zwischenraum gelassen. Diesen Zwischenraum habe ich magisch vergrößert – fertig. Man müsste schon das Innere der Besenkammer nachmessen, um festzustellen, dass sie etwas kleiner ist, als sie sein sollte. Aber wer tut das?“

Harry nickte anerkennend:

„Es ist tatsächlich ganz einfach, trotzdem muss man erst einmal darauf kommen. – Es wird Zeit, mich zu verabschieden, schon fast halb drei. Meine Frau wartet bestimmt auf mich. Ich bin froh, Sie getroffen zu haben. Ehrlich gesagt hatten wir uns wegen Albus‚ Verbindung zu Ihnen Sorgen gemacht.“

„Das kann ich gut verstehen.“

„Ich würde das Gespräch gern fortsetzen“, sagte Harry, „und ich glaube, meine Frau würde Sie auch gern kennenlernen. Wie wär’s, würden Sie uns nächsten Sonntagnachmittag besuchen, vielleicht zusammen mit Mister Lestrange?“

Roy wirkte zuerst verblüfft, aber dann lächelte er.

„Ja natürlich, sehr gerne. Aber wir sitzen doch hier in Hogwarts fest.“

„Ich bin sicher, Professor McGonagall wird Ihnen freigeben, wenn ich sie darum bitte, und bestimmt stellt sie Ihnen auch ihren Kamin für die Reise zur Verfügung.“

„Soll Albus auch mitkommen? Er wäre bestimmt enttäuscht, wenn ich seine Eltern besuchen könnte und er nicht.“

„Natürlich.“

„Und James?“

James nicht. Ich glaube nicht, dass Sie frei reden könnten, wenn ein Gryffindor anwesend wäre. Ich werde Albus auch einschärfen, niemandem von dem Besuch zu erzählen.“

„Okay, Sie haben aber hoffentlich nichts dagegen, dass Julian und ich die anderen aus unserer Gruppe informieren? Sie werden nichts sagen, aber in wichtigen Dingen verschweigen wir einander nichts.“

„Kommt mir bekannt vor“, lächelte Harry. „Kein Problem. Also nächsten Sonntag um drei.“

Sie reichten einander die Hand. Harry schlüpfte wieder unter seinen Tarnumhang und glitt durch einen schmalen Spalt zum Portal hinaus. Roy wartete, bis Harry weit genug weg sein musste, hob den Zauberstab und sagte „Calorate“. Weit entfernt sah er den gelben Lichtfleck das Geländetor durchschreiten und dann plötzlich verschwinden.

Discalorate.“ Roy drehte sich um und machte sich auf den Weg zur Bibliothek.

15 – Ein Fluch?

 

Harry apparierte in seinem Wohnzimmer, um Ginny nicht zu wecken, falls sie schon schlief. Natürlich schlief sie nicht. Als Harry ins Schlafzimmer trat, legte sie das Buch zur Seite, in dem sie gelesen hatte.

„Ich sagte doch, du solltest nicht auf mich warten“, sagte er mit liebevollem Vorwurf, bevor er sie in die Arme nahm und küsste.

„Seit wann halte ich mich an das, was du sagst?“, erwiderte sie grinsend. Sie wartete, bis Harry sich ausgezogen hatte, wieder aus dem Badezimmer zurückkam und sich neben sie legte.

„Nun schieß los,“ sagte sie und kuschelte sich an ihn.

Harry war nach dem langen Tag mit all seinen Aufregungen todmüde, aber er wusste, dass es zwecklos gewesen wäre, sie auf morgen zu vertrösten.

„Also zunächst einmal:“ begann er. „Roy MacAllister ist wirklich und aufrichtig Albus‚ Freund. Ich habe ein Gespräch zwischen ihm und einer Freundin belauscht, und da sagte er…“

Einer Freundin oder seiner Freundin?“, fragte Ginny, die es genau wissen wollte.

„Seiner besten Freundin. Ich glaube, sie stehen zueinander ungefähr so wie Ron und Hermine früher. Beste Freunde, die eigentlich mehr als nur Freundschaft füreinander empfinden, aber den Mund nicht aufbekommen, weil sie ihre Freundschaft nicht riskieren möchten, und sich ihre Gefühle deshalb nur in Form von Eifersuchtsszenen gestehen können.“

„Ich verstehe“, sagte Ginny lächelnd, „und was hat er zu ihr gesagt?“

„Sie fragte ihn, warum er eigentlich an unserem Sohn einen solchen Narren gefressen habe. Weißt du, was er gesagt hat? Er sagte, Albus sei genau so, wie er sich seinen kleinen Bruder wünschen würde, wenn er einen hätte.“

„Och wie goldig!“ Ginny war ganz gerührt. „Und so einen hält Hermine für einen Todesser?“, gluckste sie.

„Ich sage ja, Hermine verrennt sich. Ich habe ihn und Julian Lestrange übrigens für Sonntag Nachmittag zu uns eingeladen. Ich sagte zu ihm, du würdest sie bestimmt auch gern kennenlernen wollen. – Ich hoffe, du hast nichts dagegen“, fügte er hinzu, als sie ihn überrascht ansah.

„Gar nicht“, meinte sie verwundert, „ich verstehe es nur nicht ganz. Wenn du mir sagst, dass er in Ordnung ist, vertraue ich dir doch.“

„Es, äh, war auch nicht ganz der wirkliche Grund“, sagte Harry leicht verlegen. „Ich möchte den Kontakt gern aufrechterhalten, um ihn im Auge zu haben.“

Ginny setzte sich auf und sah ihn fragend an.

„Hermines Todesser-Obsession“, erläuterte Harry, „ist natürlich Quatsch. Er und seine Freunde sind junge Leute, die sich Sorgen um die Zukunft der magischen Welt und damit auch um ihre eigene machen. Nicht zu Unrecht, wenn du mich fragst. Aber ganz so harmlos, wie McGonagall sie sieht, sind sie nun auch wieder nicht. Stell dir vor, sie…“ – er zögerte ein wenig – „sie haben ernsthaft darüber diskutiert, auf Hermine einen Mordanschlag zu verüben.“

„Was?“, flüsterte Ginny mit vor Schreck geweiteten Augen.

„MacAllister hat offenbar sehr vehement dagegen gesprochen, nicht zuletzt aus Rücksicht auf Albus übrigens. Er hat zu seiner Freundin gesagt, das Thema sei endgültig vom Tisch, und sie hat ihm nicht widersprochen.“

„Ja, aber dass sie überhaupt auf so etwas kommen!“

Ginny fiel es schwer, sich zu beruhigen.

„Ich sage ja: So richtig harmlos sind sie nicht. Und das, was sie sich stattdessen ausgedacht haben, klingt freundlicher, hat aber auch seine Tücken.“

„Und was ist das?“

„Sie gehen wie Albus davon aus“, antwortete Harry, „dass Hermine unter einem Fluch steht, durch den sie fremdgesteuert wird, und wollen herausfinden, welcher das ist, und wie man ihn vielleicht durch einen Gegenzauber aufheben kann.“

„Das klingt allerdings viel freundlicher, eigentlich richtig nett“, meinte Ginny. „Das heißt, sie sehen in Hermine jetzt eher eine Art Patientin als einen Feind?“

„Ääh, jein“, sagte Harry gedehnt. „MacAllister hat mir ziemlich offen gesagt, dass er sich über Kontrollzauber informieren wird. Was er nicht gesagt hat – aber er ist viel zu intelligent, es nicht zu wissen: Wenn er nichts findet, was er durch einen Gegenfluch neutralisieren kann – und wir wissen ja gar nicht, ob sie unter einem Fluch steht – wenn er also nichts findet, hat er sich dennoch tief genug in die Schwarze Magie eingearbeitet, um Hermine seinerseits durch einen Fluch zu manipulieren. Und ich sage dir, der Kerl ist hochbegabt! Er hat mir einen Zauber gezeigt, den er selbst entwickelt hat, und der wirklich genieverdächtig ist. Und offenbar hat er noch mehr davon ausgearbeitet. Ich möchte ihn ungern auf der anderen Seite sehen. Bei dem Gedanken, dass er Hermine ins Visier nehmen könnte, auch wenn er sie nicht tötet – das wird er nicht tun, da bin ich sicher –, aber da wird mir trotzdem angst und bange.“

„Ah ja“, meinte Ginny verstehend, „und weil du nicht gegen ihn ermitteln kannst, solange er nichts Verboteneres tut als nachts in der Verbotenen Abteilung zu spionieren, willst du den Kontakt halten, um ihn wenigstens im Blick zu haben und notfalls beeinflussen zu können.“

„So ist es“, bestätigte Harry.

Sie schwiegen eine Weile.

„Wirst du Hermine davon erzählen?“, fragte sie schließlich.

„Um Gottes willen, nein! Ich werde Hermines Paranoia nicht noch anheizen. Du weißt, ich würde jederzeit mein Leben opfern, um ihres zu retten, aber ich finde nicht, dass sie Alles wissen muss.“

„Aber du kannst doch jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, wandte Ginny ein.

„Das habe ich auch nicht vor. Ich werde sämtliche Schutzvorkehrungen für Hermine noch einmal prüfen und gegebenenfalls verschärfen. Selbst wenn unsere Slytherin-Freunde überhaupt nichts unternehmen sollten, hat der Tag mir klargemacht, wie tief die Gräben im Land geworden sind. Wer weiß, wie viele kleine Zirkel es sonst noch gibt, die vielleicht nicht vor einem Anschlag zurückschrecken. Und dann… tja, dann muss ich selber versuchen herauszufinden, unter was für einem Fluch sie steht.“

„Du glaubst auch an einen Fluch?“, fragte sie schaudernd.

„Du hast mich gestern Abend nach meinem Gefühl gefragt. Und mein Gefühl sagt: Ja.“