8 – Die Unbestechlichen

 

Albus legte die Hand auf den Schlangenkopf und wurde von der Kobra mit dem schon vertrauten „Guten Tag, Albus“ empfangen. Wenn andere dabei waren, überließ er es ihnen, die Tür zu öffnen, damit sie ihn nicht Parsel sprechen hörten. Da er heute aber allein war, antwortete er freundlich:

„Guten Tag, wie heißt du eigentlich?“

„Cassiopeia“, antwortete sie.

„Bist du wirklich eine echte Schlange, die nur verzaubert ist?“

„Gewiss.“

„Und langweilst du dich nicht als Türverzierung? Ich stelle mir das schrecklich öde vor.“

„Ach weißt du, wir Schlangen sind von Natur aus ziemlich faul, wir bewegen uns eigentlich nur, wenn wir Hunger haben, uns verteidigen oder unsere Brut schützen müssen. Als Türschmuck habe ich keinen Hunger und keine Brut, und bedroht werde ich auch nicht. Ich habe es besser als eine nicht verzauberte, normal lebende Kobra. Ich brauche mich überhaupt nicht zu bewegen. Außerdem würde ich das Wetter auf eurer verregneten Insel nicht gut vertragen.“

„Und wenn dich jemand loszaubern würde?“

„Das kann nur der Erbe des Zauberers, der mich vor langer Zeit verhext hat. Eines Tages, so ist es prophezeit, wenn der magischen Welt der Untergang droht, wird dieser Erbe meiner bedürfen, und er wird drei Mal meinen Namen rufen, und ich werde ihn hören, wo immer er sein mag, und zu ihm kommen.“

„Und bis dahin musst du ein Leben als Türschmuck führen?“ Albus war entsetzt.

„Wie schon gesagt“, antwortete Cassiopeia etwas ungehalten, „ich habe keinen Grund zur Klage, denn langweilen kann ich mich nicht. Ich kann höchstens zu viel Stress haben, zum Beispiel, wenn allzu neugierige Erstklässler meinen Mittagsschlaf mit ihren indiskreten Fragen stören.“

„Oh Verzeihung, Cassiopeia. Dann wünsche ich dir jetzt angenehme Ruhe.“

Er drückte die Tür auf und betrat den Gemeinschaftsraum.

Die Sessel im Gemeinschaftsraum waren nur spärlich besetzt, die meisten Schüler genossen draußen das anhaltende Ministerwetter. Auch Scorpius war noch nicht zu sehen. Roy saß mit Julian, Arabella und zwei anderen Jungs in bequemen Sesseln um einen kleinen Tisch herum. Sie schienen immer noch über die Ereignisse des Vormittags zu diskutieren. Albus ging gerade an ihnen vorbei, um nach Scorpius zu suchen, da hörte er einen der Jungs sagen:

„An uns vorbeizumüssen, war für sie nach den Gryffindors bestimmt eine kalte Dusche. Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen. Ich sag’s ja nicht gerne, aber“, – er lachte ein wenig verlegen –, „bevor sie diese furchtbare Rede hielt, machte sie auf mich eigentlich einen ziemlich sympathischen Eindruck.“ Er konnte nur Hermine meinen.

„Dieser Eindruck war auch vollkommen richtig!“, rutschte es Albus laut heraus.

Die Großen blickten auf. Roy und Julian, deren Sessel mit dem Rücken zu ihm standen, lugten neugierig um die Sessellehne herum.

„Ach du bist’s, Al!“, rief Roy.

Albus errötete. „Ich wollte mich nicht einmischen und auch nicht stören.“ Er machte Anstalten, weiterzugehen, da rief Arabella ihm freundlich zu:

„Du störst nicht, und du kannst dich ruhig zu uns setzen, wenn du möchtest.“

Ja, warum eigentlich nicht?

Danke, äh…“ Er kannte ihr Gesicht, aber nicht ihren Namen.

„Arabella“, stellte Roy sie vor, „Arabella Wolfe. Und weil wir gerade dabei sind: Orpheus Malagan“, – es war der Junge, der gerade gesagt hatte, dass er Hermine sympathisch fand, was Albus seinerseits für ihn einnahm. Ein für einen Fünfzehnjährigen eher schmächtiger Junge mit strubbeligem schwarzem Schopf und dunklen Augen. „Ares Macnair.“ Ares war ein drahtiger Typ mit hellbraunem Haar. Um seinen Mund schien immer ein gewisses Grinsen zu spielen. Sein Gesicht hatte etwas Verwegenes, Piratenhaftes. „Julian kennst du schon, und dich braucht man ja niemandem mehr vorzustellen. Setz dich.“ Albus setzte sich auf den einen Sessel, der noch frei war.

„Du meinst also, sie ist nicht so schlimm wie ihre Reden?“, fragte Orpheus.

„Ich kenne sie anders.“

Albus war selber verwirrt über das, was er heute gesehen, gehört und vor allem gespürt hatte. Hermine schien mit einem Mal zwei oder sogar drei Gesichter zu haben, aber nichts würde ihn davon abbringen, dass seine Hermine die wirkliche war.

„Eines muss man ihr lassen“, warf Roy ein, „sie kämpft mit offenem Visier.“

„Das beeindruckt mich nicht besonders“, schaltete Ares, leicht mürrisch, sich ein. „Wer mächtig ist und es mit lauter Machtlosen zu tun hat, kann leicht das Visier hochklappen.“

„Auch ein Mächtiger will aber nicht, dass etwas ins Auge geht, deswegen lassen sie das Visier normalerweise geschlossen, sie aber hat es heute riskiert. Sie hätte es nicht nötig gehabt, sich auf eine Debatte einzulassen, und hat es trotzdem getan. Jeder Muggelpolitiker in ihrer Lage wäre erst einmal in einer Wolke aus Floskeln und Phrasen abgetaucht und hätte einen endlosen Monolog über Gott und die Welt gehalten, nur um nicht Stellung nehmen zu müssen. Sie aber hat sich gestellt.“

Albus tat es gut, Roy so respektvoll von ihr sprechen zu hören.

„Sie will ihre Zuhörer überzeugen“, meinte Julian in nachdenklichem Ton. „Sie ist von ihrer Sache so felsenfest überzeugt, dass sie glaubt, es müsse ein Kinderspiel sein, auch jeden anderen zu überzeugen. Zumal sie ja praktisch nie auf Widerspruch oder gar Widerstand stößt.“

„Tja, und wenn es dann doch geschieht, zeigt sich die Kehrseite dieser felsenfesten Überzeugung“, seufzte Roy. „Weil sie glaubt erkannt zu haben, was das Gute ist, kann sie in jedem, der ihr widerspricht, und zwar grundsätzlich und nicht nur im Detail widerspricht, nur das fleischgewordene Böse sehen. Das Wort ‚Säuberungen‘ ist ihr nicht spontan eingefallen, es stand im Redemanuskript.“

„Ich weiß nicht, warum gerade dieses Wort dich so beunruhigt.“ Orpheus, der sich zuletzt ein wenig gefläzt hatte, richtete sich in seinem Sessel auf. „Damit sagt sie im Grunde nur, was wir schon wissen, nämlich dass sie die Zauberergemeinschaft als eine Art Chor betrachtet, der harmonisch klingen und deshalb von allen Misstönen gereinigt werden soll.“

„Nein, Orpheus, nicht von den Misstönen, sondern von den Misstönenden. Hermie…ne Granger-Weasley“, korrigierte Roy sich gerade noch nach einem Blick auf Albus, „kommt aus der Muggelwelt und denkt in deren Begriffen. Wenn ein Muggelpolitiker von ‚Säuberungen‘ spricht, meint er nicht die Beseitigung von Ideen, sondern von Menschen. ‚Ethnische Säuberung‘ heißt so viel wie Massenmord, ‚Parteisäuberung‘ heißt mindestens massenhaften Hinauswurf, war aber in vielen Ländern auch gleichbedeutend mit Erschießung von Abweichlern.“

„Übertreibst du deinen Pessimismus nicht ein bisschen?“ Erstmals ergriff Arabella das Wort. „Umbringen wird sie uns doch wohl nicht.“

„Nicht, solange ihr andere Mittel zur Verfügung stehen“, entgegnete Roy düster. „Wenn die erschöpft sind… Hm. Ich schätze, sie wird erst einmal versuchen, uns hinauszuwerfen.“

„Aus Hogwarts?“, entfuhr es dem erschrockenen Albus.

„Zunächst aus Hogwarts, dann aus der ganzen Zauberergemeinschaft. Und nicht nur uns, sondern alle, die so denken und reden wie wir. Ihr habt es ja gehört: Wer ihre Politik der Verschmelzung mit der Muggelwelt nicht mitmacht, ‚tritt das Erbe der Todesser an‘, ist damit ein ‚Todfeind der Zauberergemeinschaft‘ und bekommt ‚die ganze Härte des Gesetzes zu spüren‘. Und müssten diese Gesetze erst noch eigens geschrieben werden.“

„Trotzdem“, widersprach Arabella, „du interpretierst in diese wenigen Worte viel zu viel hinein.“

„Ich glaube, Roy hat recht“, sagte Albus mit etwas schüchterner Stimme. Fünf Augenpaare sahen ihn unter erstaunt hochgezogenen Brauen an. Auch Roys Freunde wussten, dass Albus normalerweise nichts auf seine Tante kommen ließ. Wahrscheinlich wunderten sie sich auch, dass der Jüngste in ihrer Runde sich an der Diskussion beteiligte.

„Ich habe dir vorhin noch nicht erzählt, was sie zu Mister Higrave gesagt hat“, sagte Albus, zu Roy gewandt. Ihm war nicht ganz wohl dabei, es auszuplaudern, aber Hermine hatte es schließlich nicht ihm persönlich anvertraut, und Albus fand, Roy und seine Freunde hätten ein Recht, es zu erfahren:

„Sie wollte alles wissen, was über dich in den Akten steht. Und dann sagte sie noch, sie will wissen, was es sonst noch an Todessern in Slytherin gibt. Sie hat wirklich ‚Todesser‘ gesagt. Und dann sagte sie, und zwar wörtlich: ‚Diese Pest müssen wir ausrotten‘.“

Langes, entsetztes Schweigen antwortete ihm.

„Puh!“ Ares fand als erster seine Sprache wieder. „Ihre Rede war schon eine Kriegserklärung, aber das…“

„Und du bist sicher, dass sie es so gesagt hat?“, fragte Arabella in einem Ton, als hoffe sie, Albus werde mit „April, April!“, antworten.

„Ganz sicher. Leider.“

„Danke, dass du uns das erzählt hast, Albus. Ist dir bestimmt nicht leichtgefallen, was?“, fragte Roy.

„Nein“, sagte Albus leise.

Die Tür zum Gemeinschaftsraum ging auf, und herein kam Scorpius, der Albus fröhlich zuwinkte.

„Steht deine Zusage wegen Schach noch?“, fragte er.

„Na klar“, antwortete Albus und erhob sich. „Entschuldigt bitte, ich bin verabredet.“

„Kein Problem“, erwiderte Roy stellvertretend für die Runde. „Viel Spaß euch zwei. Und danke nochmal“, fügte er gedämpft hinzu.

Albus und Scorpius holten ein Brett und die verzauberten Figuren aus einem Regal und setzten sich etwas abseits, wo sie in Ruhe spielen konnten, an einen der niedrigen Tische.

„Tja. Was unternehmen wir?“, fragte Macnair in die Runde, nachdem die beiden Jüngeren sich in ihr Spiel vertieft hatten. Er fragte es so leise, dass Albus es mit Sicherheit nicht hören konnte.

„Wir warten erst einmal bis morgen“, entschied Roy. „Dann kommt das Bulletin des Ministeriums heraus, und darin müsste Grangers Redetext zum Nachlesen abgedruckt sein. Ich will ihn noch einmal genau analysieren. Außerdem werden wir dem Tagespropheten entnehmen können, wohin die Reise gehen soll, er ist ja praktisch Hermies Sprachrohr. Dann können wir Entscheidungen treffen.“

„Soll der Kleine dabei sein?“, fragte Julian. „Immerhin weiß er über Hermie vieles, was wichtig sein könnte.“

Roy schüttelte den Kopf. „Für diese Art Kriegsrat ist er zu jung. Außerdem liebt er seine Tante über alles. Er ist heute schon sehr über seinen Schatten gesprungen, und ich möchte ihn nicht noch mehr in Gewissenskonflikte stürzen.“

„Wo treffen wir uns? Hier?“, wollte Macnair wissen.

„Zu unsicher. Wir gehen in unseren Geheimraum. Morgen Abend um halb acht.“

 

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