60 – Generalprobe

Es war Dienstag, der 28. Februar, die Befreier saßen in Rockwood Castle beim Abendessen.

Drei Wochen lang hatten sie jede Einzelheit ihrer Aktion wieder und wieder geübt, bis sie jedes Manöver, jeden Handgriff blitzschnell im Schlaf beherrschten. Für heute Abend nun hatte Roy die große Generalprobe angesetzt. Morgen würde der Prozess gegen Harry beginnen. Selbst wenn Hermine ihn noch am selben Tag zum Tode verurteilen sollte: Seine Befreier würden bereitstehen! Alle loderten vor Vorfreude.

Als sie gegessen hatten, betrat Blubber den Rittersaal, verteilte mit einem eleganten Schwebezauber die Abendausgabe des Tagespropheten und brachte dadurch die lebhaften Gespräche an der Tafel abrupt zum Verstummen:

 

REFORM DES ZAUBERGAMOTS

Ministerin Granger ernennt neue Mitglieder

London, 28. Februar. Zaubereiministerin Hermine Granger hat im Wege einer Notverordnung den Zaubergamot reformiert und von bisher 78 auf 234 Mitglieder aufgestockt. Die Ministerin begründete ihren lang erwarteten, zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch überraschenden Schritt mit der Notwendigkeit, das oberste beschlussfassende und rechtsprechende Gremium der Magischen Welt Großbritanniens, dessen letzte Reform 228 Jahre zurückliegt, zu modernisieren und an neue Gegebenheiten anzupassen, insbesondere eine breitere Repräsentation der magischen Gemeinschaft zu ermöglichen.

Der Gamot, der Neumitglieder bisher kooptiert, das heißt selbst ausgewählt hat, habe sich, so die Ministerin, zu einem elitären Gremium entwickelt, von dem weite Teile der Hexen- und Zauberergemeinschaft faktisch ausgeschlossen seien. Die Ernennung von 156 neuen Mitgliedern aus allen Schichten der Hexen- und Zauberergemeinschaft entspreche insofern dem demokratischen Gedanken, von dem das Ministerium sich leiten lasse.

In Zukunft, so sieht das neue Gesetz vor, werden zwei Drittel aller Sitze im Gamot vom Ministerium, das restliche Drittel weiterhin vom Gamot selbst besetzt. Das Gesetz tritt sofort in Kraft, der Gamot tagt daher ab 1. März in seiner neuen Zusammensetzung.

 

„Damit“, sagte Victoire, die als eine der ersten ihre Fassung wiedergewann, „ist der neue Gamot auch für den Prozess gegen Harry zuständig, und Greengrass‘ Verteidigungsstrategie hängt in der Luft! Hermine hat ihr einfach den Boden entzogen! Und natürlich tut der Tagesprophet so, als sei ihm dieser Zusammenhang nicht geläufig!“

Roy lächelte bitter. „Hast du etwas Anderes erwartet, als dass Hermine noch im letzten Moment ein As aus dem Ärmel zieht? Auch die Begründung ist ganz ihr Stil: Sie redet von Demokratie und meint damit, dass sie selbst Alles unter Kontrolle hat! Und was den Tagespropheten angeht: Wundert dich das noch?“

„Weasley will sie wohl auch nicht mehr heißen“, meinte Rose pikiert. „Heiße ich selbst jetzt eigentlich noch so, oder muss ich damit rechnen, dass meine Mutter mich in ‚Granger‘ umbenennt?“

„Keine Angst, Rose, das ist gesetzlich nicht möglich“, versuchte Victoire sie zu beruhigen, aber Rose antwortete mit einem verächtlichen Schnauben:

„Per Notverordnung ist in diesem Land offenbar Alles möglich.“

„Ist doch egal, Rose“, warf James lässig dazwischen, der es selbst jetzt nicht lassen konnte, seinen kleinen Bruder aufzuzwicken. „In ein paar Jahren heißt du doch sowieso Potter, oder?“

Während Roses Gesicht eine Farbe annahm, die der einer Rose tatsächlich ziemlich nahekam, funkelte Albus seinen Bruder an: „Vorausgesetzt, meine Schwiegermutter lässt mir meinen Kopf.“

James grinste noch breiter: „Dann aber schon, stimmt’s?“

Nun lief auch Albus rot an. Womit hatte er nur diesen Bruder verdient?

„Wie dem auch sei“, würgte Roy das Geplänkel ab, „mit dem neuen Gamot fertigzuwerden ist das Problem des Anwalts. Wir hier planen ohnehin unter der Voraussetzung, dass es zu einem Todesurteil kommt, für uns ändert sich also nichts, außer dass sich jetzt niemand mehr Illusionen darüber machen kann, dass Harrys, Arabellas, Julians, Orpheus‘ und Ares‘ Leben von ihrer gewaltsamen Befreiung abhängt. Das sollte für uns alle Grund genug sein, bei der heutigen Generalprobe unser Bestes zu geben. Es ist jetzt halb acht. Die Jüngsten nehmen jetzt ihre Alterungstränke, in genau einer Stunde treffen wir uns im Innenhof.“

 

Bisher waren Albus, James, Rose, Scorpius und Bernie ohne Alterungstrank ausgekommen, aber Roy hatte entschieden, dass sie beim echten Angriff auf Askaban körperlich kräftiger sein mussten als normalerweise – man musste auf Alles vorbereitet sein, auch auf den Fall, dass das Unternehmen nicht nach Plan lief. Deshalb sollten sie sich schon für die Generalprobe sieben Jahre älter machen, als sie waren.

Sie nahmen die Alterungstränke auf ihren Zimmern. Als Albus auf den Korridor hinaustrat, sah er James, Scorpius und Bernie sich unter Roys belustigtem Grinsen wie Pfauen vor Spiegeln drehen, die sie wohl eigens herbeigezaubert hatten.

„Boah, fühlt sich das gut an!“, schwärmte Bernie mit Bassstimme, während er seine Oberarme betastete.

Auch Scorpius war mit seinen Einsneunzig sichtlich zufrieden, obwohl er immer noch schlank bis hager war und nicht Bernies Muskelpakete vorzuweisen hatte.

Richtig verliebt in sein Spiegelbild war allerdings James, der ganz verzückt posierte und sich an sich selbst kaum sattsehen konnte (Er sieht aber auch wirklich verdammt gut aus!, gestand Albus sich ein.), bis ihm das Wichtigste einfiel. Er schenkte seinem Spiegelbild noch einmal ein selbstgefälliges Grinsen und meinte: „So, jetzt gehe ich zu Victoire!“

Albus lachte schallend mit den anderen mit, bis er sich zufällig umdrehte und sich Rose gegenübersah, die eben aus Ihrem Zimmer gekommen war.

Sie war bildschön.

Albus fühlte seine Knie weich werden und merkte kaum, dass Rose ihn mindestens so fasziniert anstarrte wie er sie. Er, der offenbar die Neigung der Weasley-Männer zu hohem Wuchs geerbt hatte, sah seinem Vater immer noch ähnlich, wirkte aber stattlicher und markanter als Harry.

Als Rose freilich bemerkte, dass auch James‘, Scorpius‘ und Bernies Blicke an ihr hingen und auf ihrem Körper herunterwanderten, wurde sie rot, machte auf dem Absatz kehrt und rannte in ihr Zimmer zurück.

„Was müsst ihr sie so anstarren?“, stauchte Roy die drei zusammen. „Seht ihr nicht, dass es ihr peinlich ist?“

„Muss es nicht“, fand James, „sie sieht toll aus!“

„Sie ist erst elf!“, schnauzte Roy. „Victoire kann mit so etwas umgehen, aber Rose noch nicht! In Zukunft benehmt ihr euch wie Gentlemen!“

Etwas kleinlaut trotteten sie von dannen.

 

„Uhren auf Punkt Mitternacht stellen“, kommandierte Roy um halb neun, als sie alle im Innenhof der Burg standen. Macnair hatte von seinem Ausflug in die Muggelwelt einen Satz mechanischer Armbanduhren mitgebracht, Elektronik hätte magisch gestört werden können. „Jetzt Uhren starten und fertigmachen zum Disapparieren.“

Bernie hielt sich an Roy fest, Scorpius an Albus, Rose an Victoire, James an Draco.

„Zum Treffpunkt disapparieren!“, befahl Roy, und alle verschwanden, um fünfzehn Meilen weiter westlich an einem Ort wiederaufzutauchen, der eine Klippe etwas nördlich von Branness repräsentieren sollte.

Scorpius beobachtete Albus, wie er sich in eine Fliege verwandelte und in Roys Möwenschnabel kroch. Dann hob er den Daumen. „Er ist drin.“ Roy schloss den Schnabel. Victoire zauberte alle Anwesenden unsichtbar und führte dann den Calorate-Zauber aus, damit sie einander sehen konnten.

Die Möwe hob ab. Da die Feuerblitze deutlich schneller waren als sie, ließen die Zurückbleibenden dem Vorauskommando zehn Minuten Vorsprung. Dann schwangen sie sich auf ihre Besen und flogen Richtung Rockwood Castle, das von den Elfen mit einer ähnlichen Schutzglocke versehen worden war, wie sie auch über Askaban lag.

In einer Höhe von etwas mehr als einer Meile über der Burg kreisten Lucius, Astoria und Narzissa Malfoy, die die Aurorenpatrouille über Askaban darstellten. Roy und Rodolphus hatten einige Nächte zuvor das Verhalten der wirklichen Askaban-Patrouille studiert und herausgefunden, dass die Auroren keinen Calorate-Zauber benutzten, sonst hätten sie Rodolphus trotz seines Unsichtbarkeitszaubers sehen müssen – Roy war als Möwe zur Absicherung mitgeflogen.

Sie wussten, dass die Ablösung alle zwei Stunden stattfand, auch um Mitternacht. Um diese Zeit war daher – laut Übungsszenario – die gegenwärtige Patrouille aufgestiegen. Die drei Malfoys waren unsichtbar, konnten auch einander nicht sehen, flogen, um nicht zusammenzustoßen, in unterschiedlichen Höhen und riefen einander, ganz wie die echten Auroren, in regelmäßigen Abständen Losungsworte zu: „Bei“ – „Merlins“ – „Bart“.

Jeweils zwei der Verfolger setzten sich unsichtbar hinter die Aurorendarsteller. Dann gab Macnair mit einer Handbewegung das Startzeichen. Die Malfoys wurden mit einem Petrificuszauber gelähmt und mit einem Schwebezauber in der Luft gehalten, ihre Besen gestoppt. Dann band man sie magisch aneinander und hängte sie an Bernies zum Muggelbesen umgebauten Feuerblitz. Macnair sah auf die Uhr. Halb eins. Er zog seinen Zauberspiegel heraus.

 

Roy war zu dieser Zeit längst auf dem Fenstersims vor dem geräumigen „Speisesaal“ der Baracke gelandet, die von den Elfen als „Aurorenunterkunft“ hergerichtet worden war. Die Möwe war jetzt sichtbar, da sie sich innerhalb der Schutzglocke befand. Roy öffnete das Fenster mit einem stillen Alohomora und hüpfte in den dunklen Raum. Er ließ Albus heraus, und beide nahmen wieder menschliche Gestalt an. Alles lief ab, wie sie es Dutzende Male geübt hatten: Roy beschwor eine Schlange und duplizierte sie zehn Mal: zwei Schlangen, vier, acht, sechzehn, zweiunddreißig, vierundsechzig, hundertachtundzwanzig, zweihundertsechsundfünfzig, fünfhundertzwölf, eintausendvierundzwanzig.

Nach jeder Verdopplung befahl Albus den neuen Schlangen auf Parsel: „Bleibt liegen, rührt euch nicht, und gebt keinen Laut von euch!“ Bei den Übungen hatte er die Schlangen anfangs gefragt, ob sie ihn verstehen konnten, und beide – vor allem Roy, der kein Parsel verstand – waren zusammengezuckt, so ohrenbetäubend war das bestätigende Zischen von über tausend Schlangen gleichzeitig gewesen. Das hätte ganz Askaban aufgeweckt, sie mussten still bleiben. Roy ließ seinen Zauberstab mehrfach über die Schlangen gleiten, um sie magisch zu wärmen. Schlangen sind wechselwarme Tiere, ihnen durfte nicht zu kalt werden.

„Hört her“, zischte Albus auf Parsel. „Wir werden Einige von euch gleich durch die Luft fliegen und auf Türmen landen lassen. Dort ist jeweils ein Elf. Tut ihnen nichts, aber nehmt ihnen ihre Besen und die Stäbe weg, die sie in der Hand halten, dann schmiegt ihr euch an sie und wärmt euch an ihnen. Sollten sie zu fliehen versuchen, schlingt ihr euch um ihre Beine. Die anderen Schlangen, die wir nicht schweben lassen, kriechen durch die Tür da vorne, sobald ich sie öffne. Verteilt euch auf die ganze Baracke und macht mit den Elfen dort dasselbe wie mit denen auf den Türmen.“

Für die Übung war es gut, dass die Elfen, die die Auroren darstellen sollten, von Natur aus keine Angst vor Schlangen hatten – mit ihren Zauberkräften hätten sie sie jederzeit verschwinden lassen können. Die Übung war nicht ganz realistisch, weil die Malfoys bei weitem nicht so viele Elfen beschäftigten, wie Auroren und Dementoren in Askaban stationiert waren, aber zur Übung der Abläufe musste es genügen.

„Ihr werdet jetzt gleich anders sehen als bisher“, fuhr Albus fort. „Alles, was Ihr hell seht, ist auch warm. Dort sollt ihr euch ankuscheln, nur bei uns nicht. – Calorate.“

Einen Moment später fühlte Roy den Zauberspiegel an seinem rechten Handgelenk vibrieren.

„Ja?“

„Bereit“, hörte er Macnair flüstern.

„Fertigmachen zum Sturzflug!“, erwiderte Roy. Oben hob Macnair die Hand. Roy zählte herunter:

„Zehn – neun – acht – sieben – sechs“, – oben spreizte Macnair die rechte Hand und ließ dann mit jeder Zahl einen Finger verschwinden –, „fünf – vier – drei – zwo – eins – go!“ Macnair senkte den Daumen und gab Draco und den Black Snakes damit das Zeichen zum Sturzflug.

Nun spreizte Lestrange ebenfalls die rechte Hand und zählte fünf Sekunden herunter. Auch sein Kommandotrupp, bestehend aus ihm selbst, James und Victoire, stürzte sich in die Tiefe.

Unterdessen hatten Roy und Albus die von ihnen aus sichtbaren Türme in Finsternis getaucht und schleuderten jetzt Schlangen hinterher. Sie hatten es so oft geübt, dass sie dazu kaum länger brauchten als die beiden Kommandotrupps für ihren Sturzflug. Zum Schluss öffnete Albus die Tür zu den Aurorenschlafsälen, feuerte peruanisches Finsternispulver hinein und schickte die verbliebenen Schlangen los. Er und Roy sprangen aus dem Fenster, wo Draco sie mit zwei Besen empfing, und schossen zur Burg hinauf.

Der erste Alarmruf der Auroren ertönte im selben Moment, als Rodolphus die Tür zum Zellentrakt mit einem Sprengzauber zerfetzte, Roy und Albus im Innenhof landeten, alle fünf ihre Patroni beschworen und diesen hinterher in den Zellentrakt eindrangen. Die Dementoren-Elfen wurden ins tiefste Untergeschoss getrieben, bis auf zwei, die von den Patroni in Schach gehalten wurden und nun nach einer Namensliste die Türen zu den Zellen der Gefangenen öffnen mussten. Letztere mussten mangels Übungspersonals durch Puppen dargestellt werden. Als alle Befreiten im Hof standen, stießen Macnairs Todesser vom Turm herab zu ihnen, und Roy gab Rose und Scorpius per Zauberspiegel das Zeichen, ihren Beobachtungsposten hoch oben über der Burg zu verlassen. Jeder Befreier nahm einen Gefangenen auf seinen Besen, und sie schossen westwärts in die Nacht, bis sie die Schutzzone verließen und wieder unsichtbar wurden, dann schwenkten sie nach Norden. Das Wasser eines Weihers, der die Nordsee darstellte, ließen sie magisch gefrieren, um auf dem Eis festen Stand zu haben, und disapparierten zurück nach Rockwood Castle. Roy blieb einen Moment zurück, um auf Bernie zu warten, der die Malfoys sicher und sanft auf dem Burggelände abgesetzt hatte und nach einer Minute eintraf.

Als Roy und Bernie als Letzte in Rockwood apparierten und Roy mit erhobenem Daumen „Übungsende!“ rief, brachen Alle in erleichterten Jubel aus, fielen einander in die Arme und klatschten sich ab – sogar die Gryffindors und die Black Snakes! –, und selbst die Elfen hatten Mühe, ihren distanzierten Habitus zu wahren.

„Genau so muss es im Ernstfall laufen!“, rief Roy. „Schluss für heute. Jetzt noch einen Schlummertrunk und dann ab ins Bett! Ab morgen müssen wir jederzeit bereit zum Ausrücken sein!“

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