57 – Nächtliches Abenteuer

 

Roy stand im langen, von Fackeln erleuchteten Hauptkorridor des ersten Untergeschosses von Askaban.

„Hol sie“, knurrte er den Dementor an, den sein Patronus in eine Ecke getrieben hatte. Er rief den Patronus zurück, um dem Dementor, dessen Gesicht unter einer Kapuze verborgen war, etwas Platz zu lassen. Dieser zog einen Schlüsselbund aus seinem schwarzen Umhang, schwebte, bewacht von dem silbernen Bären, den Hauptgang entlang und verschwand in einem Seitenkorridor. Roy hörte Schlüssel rasseln, dann schritten sie ihm auch schon bedächtig entgegen: Julian, Ares, Orpheus, Harry und Ginny.

Arabella fehlte.

„Hol mir den Dementor!“, rief er dem Patronus zu.

Der Bär verschwand mit einem wuchtigen und doch eleganten Satz und kam sogleich wieder. Den Dementor trieb er vor sich her. Roy zog den Basilisken-Giftzahn aus der Scheide.

„Wo ist Arabella, du Scheusal? Ich bring dich um, wenn du es mir nicht sagst!“

Er hob den Giftzahn, bereit, zuzustoßen.

„Du bringst mich auch um, wenn ich es dir sage“, erwiderte der Dementor rätselhaft mit einer heiseren, irgendwie leeren Stimme. „Sie ist in Zelle zweiundzwanzig.“

„Führ mich hin.“

Der Dementor ging voran, wurde aber immer langsamer.

„Beeil dich!“

„Du solltest es nicht eilig haben“, sprach der Dementor wieder in Rätseln. Vor einer Zelle, über der „XXII“ prangte, blieben sie stehen. Der Dementor fummelte umständlich an seinem Schlüsselbund herum.

„Mach endlich auf!“

Der Dementor ließ ein höhnisches Lachen hören. „Wie du willst“, sagte er, riss die Tür mit einem plötzlichen Schwung auf und röchelte:

„Du kommst zu spät, Schlammblut!“

Auf der rohen Pritsche lag, nur noch am blonden Haar erkennbar, die halbverweste Leiche Arabellas.

Mit einem Schrei der Qual fuhr Roy hoch. Er brauchte einen Moment, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er war nicht in Askaban, er war in Rockwood Castle. Das Gefühl der Erleichterung, das man normalerweise nach dem Erwachen aus einem Alptraum hat, wollte sich trotzdem nicht einstellen.

Er war in Rockwood Castle. Arabella war in Askaban.

Roy sah auf die Uhr. Kurz nach zwei. Es war fürwahr nicht der erste Alptraum dieser Nacht gewesen, aber der schlimmste. Er würde heute nicht mehr schlafen.

Roy stand auf und ging an das winzige Fenster in der meterdicken Burgmauer. Die Fensterscharniere protestierten mit einem hässlichen Quietschen gegen das erste Öffnen seit langer Zeit. Roy sog die kalte Nachtluft ein. Der Mond wurde von schnell dahineilenden Wolken abwechselnd verborgen und enthüllt. Eine stürmische Nacht.

Die Dementoren haben Arabella! Die Dementoren haben Arabella! Er musste etwas unternehmen, sofort und egal, was!

Er zog sich warm an. Ob man von hier disapparieren konnte? Er würde es einfach versuchen…

Einen Moment später stand er an der Pier von Branness. Wenn es schon in Wales, wo Rockwood Castle lag, stürmisch war, so herrschte hier an der schottischen Nordseeküste fast schon ein Orkan, dazu wolkenbruchartiger Regen!

Roy war ganz allein im Hafen. Die Fischkutter, die doch sonst um diese Zeit zum Auslaufen klargemacht wurden, zerrten heftig an ihren Tauen und Ankerketten, als wollten sie die Abwesenheit ihrer Herren zur Flucht benutzen. Die Fischer von Branness hatten offenbar festgestellt, dass dies keine Nacht war, die man auf hoher See verbringen sollte.

Roy nahm wieder die Gestalt einer Silbermöwe an, stieß sich ab und wurde sofort vom Nordoststurm erfasst. Er wandte sich gegen den Wind und gewann an Höhe. Da Askaban in östlicher Richtung lag, würde er gegen starken Seitenwind ankämpfen und dabei noch darauf achten müssen, an der Insel nicht vorbeizufliegen. Ein Muggelgefängnis mit seiner flutlichtartigen Beleuchtung wäre um diese Zeit so wenig zu verfehlen gewesen wie ein vollbesetztes Fußballstadion, Askaban aber lag wie fast alle Gebäude der magischen Welt nachts unter Fackelschein. Roy führte stumm den Calorate-Zauber aus. Weit draußen in östlicher Richtung war ein Fleck mehr zu ahnen als zu sehen, der geringfügig heller als die kalte Nordsee ringsum war.

Er versuchte verzweifelt, auf den nur für ihn sichtbaren, nicht völlig dunklen Fleck zuzufliegen, ohne vom Sturm davongeweht zu werden. Hatte er die Strecke bei seinem ersten Besuch in Askaban an einem freundlichen Vormittag in kaum einer Viertelstunde zurückgelegt, so musste er sich diesmal jeden Meter einzeln vorankämpfen. Gewiss wusste er, dass das, was er hier tat, verrückt war, aber allein die ungeheure Kraft, die er dazu aufwenden musste, verscheuchte das Gefühl ohnmächtiger Angst, das ihn aus seinem Zimmer in Rockwood vertrieben hatte.

Nach über einer Stunde hatte er es schließlich geschafft: In einem letzten Kraftakt flog er über den Innenhof des Gefängnisses und ließ sich eher hineinplumpsen als noch zu fliegen. Er landete in einer Pfütze.

Hier unten war es beinahe windstill, und der Regen hatte nachgelassen. Roy wurde sich bewusst, dass er weder nass war noch fror. Das Gefieder eines Seevogels war wirklich eine einzigartige Bekleidung. Ich sollte, überlegte er, einen Zauber entwickeln, mit dem sich die Menschen ein solches Gefieder wachsen lassen können, dann brauchen sie keinen Mantel mehr. Aber erst, wenn das hier alles vorbei ist…

Sehen konnte man – mit oder ohne Calorate-Zauber – überhaupt nichts. Nur oben ließen sich Wolken wenigstens ahnen. Roy brauchte nichts zu sehen. Er war in Arabellas Nähe.

„Arabella!“, schrie er aus Leibeskräften, freilich auf Möwisch, was für einen Menschen nur wie irgendein Möwenruf geklungen hätte, wenn auch wie ein besonders verzweifelter.

„Arabella!“

Natürlich konnte sie ihn nicht hören, er selbst hatte die Grundrisse von Askaban studiert – in die Zellentrakte drang bestimmt kein Laut.

„Arabella!“

Es war ihm egal, ob die Auroren oder Dementoren sich wunderten, dass um diese Uhrzeit eine Möwe schrie. Wenn sie es überhaupt registrierten – und besonders aufgeweckt waren die hiesigen Auroren ja nicht, von den Dementoren ganz zu schweigen –, würden sie glauben, eine Silbermöwe zu hören, die sich den Flügel gebrochen hatte und nun vor Schmerz schrie.

Und im Grunde ist es ja auch genau so, dachte Roy.

„Arabella!“, schrie er weiter in die Nacht, immer wieder.

Nach einer Weile gab er es auf. Entweder hatte Arabella ihn – aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz – hören können, dann würde sie im Gegensatz zu den Auroren wissen, was der Ruf einer Silbermöwe mitten in der Nacht zu bedeuten hatte. Oder sie konnte es nicht hören, dann war es sinnlos, noch mehr Kräfte zu verpulvern. Seine Flügel schmerzten von dem anstrengenden Flug. Ich muss ihr irgendein Zeichen hinterlassen, aber dazu muss ich etwas sehen. Am besten, ich ruhe ein wenig aus. Er steckte den Kopf ins Gefieder und schlief ein.

Es war kein langer Schlaf, aber als er erwachte, fühlte er sich ein wenig erholt. Der Himmel über ihm war jetzt etwas heller, obwohl es noch nicht Tag war. Als er in dem schwachen Dämmerlicht die Umrisse eines Steins ausmachen konnte, kam ihm eine Idee. Er hob den Stein mit dem Schnabel an und trug ihn an den Fuß jenes Mauervorsprungs, auf dem er gesessen hatte, als Harry beim Hofgang seine Runden drehte. Dann rupfte er sich fünf seiner silberfarbenen Schwungfedern aus, legte sie leicht fächerförmig nebeneinander und beschwerte ihre Kiele mit dem Stein, der heller war als der Untergrund. Mit ein bisschen Phantasie konnte man das Gebilde als Darstellung einer Bärentatze deuten. Dementoren sahen schlecht, Auroren würden den Innenhof nur im Notfall betreten und auch dann kaum die richtigen Schlüsse ziehen. Die Gefangenen aber mussten auf ihrem Hofgang daran vorbeikommen. Arabella, Julian, Orpheus, Ares – sie alle würden wissen, was eine Bärentatze, dargestellt mit Hilfe von Möwenfedern, zu bedeuten hatte. Er schämte sich ein bisschen, dass er die ganze Zeit kaum an die drei anderen Unbestechlichen gedacht hatte, erst recht nicht an die Potters und Weasleys, aber die Sorge um Arabella hatte alles Andere verdrängt. Jetzt würden auch sie erkennen können, dass er hier gewesen war.

Er musste zurück, in Rockwood Castle würde man sich wundern, wenn er nicht zum Frühstück da war. Er breitete die Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Da der Sturm etwas nachgelassen hatte, er jetzt bessere Sicht hatte und auch nicht unbedingt darauf angewiesen war, in Branness zu landen, konnte er sich etwas mehr vom Wind treiben lassen als beim Hinflug, trotzdem war es immer noch anstrengend. Nach etwa einer halben Stunde Flug ließ er sich auf einem Felsen ein paar Meilen südlich des Fischerdorfs nieder. Es war nicht mehr stürmisch, regnete aber so heftig, dass er in den wenigen Sekunden zwischen seiner Rückverwandlung in einen Menschen und dem Disapparieren bis auf die Haut durchnässt wurde.

Gleich darauf stand er wieder in seinem Zimmer in Rockwood Castle. Es war halb sieben, und er hatte einen Bärenhunger. Die Anderen würden noch schlafen, aber die Hauselfen waren bestimmt schon in der Burgküche am Werk. Ohne sich umzuziehen, schlüpfte er aus seinem Zimmer – und lief geradewegs Albus in die Arme.

„Roy!“ Albus war entsetzt, als er seinen Freund vor sich stehen sah: klatschnass, bleich, übernächtigt und vor Entkräftung zitternd. „Woher kommst du? Wo bist du gewesen?“

„In Askaban“, brummte Roy und wollte sich an Albus vorbeischieben, aber der hielt ihn fest.

„Wozu das denn?“

„Um ihr nahe zu sein.“

„Roy, das hat doch keinen Sinn, sie kann dich doch weder gesehen noch gehört haben!“, rief Albus leicht verzweifelt.

„Hat sie auch nicht, aber ich konnte nicht anders.“

„Roy!“ Angst zitterte in Albus‘ Stimme. „Du darfst jetzt nicht kopflos werden! Das Leben meiner Eltern hängt davon ab, und auch das von Arabella und unseren Freunden, dass du deinen kühlen Verstand behältst. Tu das, was du am besten kannst: Nachdenken! Du hilfst niemandem, wenn du deine Kraft in sinnlosen und gefährlichen Aktionen verpulverst und dich in Askaban herumtreibst!“

„Ich habe auf dem Innenhof ein Zeichen hinterlassen, das nur die Gefangenen deuten können. Sie sollen wissen, dass ich sie befreien werde!“

„Aber Roy, das weiß Arabella doch auch so, und die Anderen auch.“

„Woher sollen sie wissen, dass ich auf freiem Fuß bin?“, fragte Roy in einer plötzlichen Eingebung. „Du hast Julian doch gehört, sie haben untereinander keinen Kontakt, und da sie bewusstlos aus Hogwarts hinausgeschafft wurden, können sie nicht wissen, dass ich frei bin, ich könnte ebenso gut, wie sie, in Askaban sitzen, ohne dass sie mich je zu Gesicht bekommen würden. Es war wichtig, ihnen zu sagen, dass das nicht der Fall ist, und dass ich an ihrer Befreiung arbeite, um ihnen Zuversicht einzuflößen.“

„Ach so!“ Albus atmete auf. „Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? So verstehe ich es doch, und jetzt, wo du es so erklärst, finde ich, du hast recht. Entschuldige bitte, dass ich einen Moment dachte, du hättest völlig den Kopf verloren.“

„Kein Problem. Kommst du mit in die Küche? Ich habe Hunger.“

„Gern. Aber zuerst… du gestattest?“ Albus zog seinen Zauberstab, zauberte Roy trocken und verpasste ihm einen Aufmunterungszauber. Dann gingen sie hinunter Richtung Küche.

Auf dem Weg zur Küche ging Roy im Stillen hart mit sich ins Gericht: Dass es sinnvoll gewesen war, ein Zeichen zu hinterlassen, stimmte zwar, war ihm aber erst während des Gesprächs mit Albus eingefallen, eigentlich war es eine Ausrede. Albus hatte recht gehabt, er hatte völlig den Kopf verloren! Roy schämte sich, Albus, der ihn brauchte, ihn bewunderte und auf ihn baute, derart verunsichert zu haben. Er selbst hatte ihm, als Harry verhaftet wurde, eingeschärft: Wir sind Slytherins! Wenn wir einen Schlag einstecken müssen, halten wir den Kopf gerade, verziehen keine Miene, bleiben auf beiden Beinen stehen und lassen uns von nichts und niemandem niederstrecken, verstanden? Und nun flatterte er selbst mit der Panik eines aufgescheuchten Huhns herum! Das würde ihm nicht noch einmal passieren!

Sie brauchten gar nicht bis zur Küche zu gehen: Kaum hatten die Elfen bemerkt, dass zwei ihrer Gäste bereits auf den Beinen waren, zauberten sie ein üppiges Frühstücksbuffet in den Rittersaal. Die beiden Freunde ließen sich nieder, und während Albus sich mit einem Toast und einem Rührei begnügte, fraß Roy sich durch das Buffet und trank dazu etliche Tassen eines – nach britischen Maßstäben – extra starken Kaffees.

Alsbald trudelten nach und nach auch die Anderen ein, die es ebenfalls nicht mehr im Bett gehalten hatte. Roy erzählte von seinem nächtlichen Ausflug und stellte ihn so dar, als sei er eine von Anfang an wohldurchdachte Aktion gewesen. Da niemand von ihm etwas Anderes als wohldurchdachte Aktionen erwartete, glaubten sie ihm.

„Sehr gut“, lobte Macnair. „Auf diese Weise hast du ihnen Bescheid gegeben, ohne tage- oder wochenlang darauf warten zu müssen, dass jeder einzelne Gefangene seinen Hofgang absolviert. Womöglich wären dann selbst diese unterbelichteten Dementoren darauf gekommen, dass mit dieser Möwe etwas nicht stimmt. Außerdem wirst du hier gebraucht.“

„Ich weiß“, sagte Roy, der es dabei vermied, von seinem Teller aufzusehen.

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