48 – Ginny übernimmt

 

Ginny traf sich am folgenden Mittwoch wieder im Geheimraum mit den Unbestechlichen. Offiziell durfte sie London zwar nicht verlassen, da sie aber disapparierte und niemand überprüfen konnte, wohin, stand das Verbot praktisch nur auf dem Papier.

Roy begrüßte sie: „Ich habe Harry gesehen.“

„Wie das?“, fragte Ginny mit großen Augen.

„Ich war in Gestalt einer Möwe in Askaban.“

„Als Animagus?“

Roy nickte. „Ich habe Harry beim Hofgang gesehen, er hat mir gut gefallen. Die Dementoren konnten ihm wohl nicht viel anhaben.“

„Das dachte ich mir schon“, meinte Ginny gelassen. „Als Auror hat er gelernt, bei Bedarf jedes Glücksgefühl so in seiner Seele einzuschließen, dass Dementoren es nicht absaugen können. Waren noch andere Gefangene auf dem Hof?“

„Nicht, als ich dort war.“

„Es ist nie mehr als einer gleichzeitig auf dem Hof“, meldete sich nun Julian zu Wort. „Die Gefangenen werden strikt voneinander isoliert, es gibt nicht einmal einen gemeinsamen Hofgang. Du hast Riesenglück gehabt, Harry zu sehen. Hofgang hat jeder Gefangene in Askaban nur einmal pro Woche.“

Julian war am Wochenende bei seinem Großvater gewesen und hatte eine Reihe detaillierter Pläne der Festung mitgebracht, die Rodolphus, der vierzehn Jahre lang dort inhaftiert gewesen war, aus dem Gedächtnis gezeichnet hatte.

Roy warf einen prüfenden Blick darauf. Der Plan der äußeren Anlagen entsprach in der Tat genau dem, was er selbst vor Ort vorgefunden hatte, Rodolphus musste ein hervorragendes Gedächtnis haben. Bauliche Veränderungen hatte es in Askaban seit Rodolphus‘ Ausbruch 1996 allem Anschein nach nicht gegeben.

Wichtiger waren die Pläne der drei Untergeschosse, in denen sich die Zellentrakte befanden. Die Tür, durch die Harry vom Innenhof aus hatte gehen müssen, führte zu einer Wendeltreppe, die den einzigen Zugang zu den Zellengeschossen darstellte. Alle drei Geschosse waren gleich aufgebaut: Von der Wendeltreppe aus durchquerte man zunächst den Wachraum der Dementoren, von dem aus eine Tür zum Hauptgang führte, der rund siebzig Meter lang war und von acht ebenso langen Nebengängen gekreuzt wurde, an denen die Zellen lagen, vierzig in jedem Nebengang, dreihundertzwanzig pro Geschoss, neunhundertsechzig insgesamt. Der Grundriss der Untergeschosse ragte zu allen Seiten über den der Burg hinaus.

Die Zellen waren winzig – etwa zweieinhalb Meter breit, dreieinhalb Meter tief – und boten gerade noch Platz für eine Pritsche, eine Toilette, eine Waschgelegenheit, einen kleinen Tisch und einen Stuhl.

„Meine Güte, was für Löcher“, murmelte Arabella betroffen. „Wie hält einer das aus?“

„Was Harry angeht“, erwiderte Ginny, „so war der Verschlag, in dem er als Kind bei seiner Muggel-Pflegefamilie hausen musste, noch viel kleiner. Gegen so etwas ist er abgehärtet.“

„Wir werden über die Wendeltreppe eindringen müssen“, überlegte Orpheus. „Dabei schicken wir unsere Patroni voraus. Ich sehe ein Problem: Wenn wir die Patroni hinunterschicken, werden die Dementoren flüchten und dabei tief in die Gänge hineingetrieben. Dann sammelt sich eine Horde Dementoren in den Zellentrakten, direkt bei den Gefangenen. Es wird schwer sein, dann noch an die Zellen heranzukommen.“

„Nicht, wenn wir es geschickt anstellen“, wandte Julian ein. „Mein Großvater hat mir erzählt, dass immer zuerst die Zellen im ersten Untergeschoss belegt werden. Wenn die voll sind, kommt das zweite und dann erst das tiefste Untergeschoss an die Reihe. Da im Moment nicht allzu viele Gefangene in Askaban sind, brauchen wir die Dementoren nur ins unterste Geschoss zu treiben und haben dann in den beiden oberen Etagen freien Zugang zu den Zellen.“

„Und wenn es nicht anders geht, müssen wir die Dementoren eben töten“, fügte Roy hinzu.

„Kann man das denn?“, wollte Albus wissen. „Ich meine, die sind doch schon mehr tot als lebendig, aber das bisschen Leben in Ihnen wird durch Schwarze Magie aufrechterhalten.“

„Mit den Giftzähnen des Basilisken kann man es“, entgegnete Roy. „Harry hat sie mir noch im Dezember anvertraut, damit sie bei einer Hausdurchsuchung nicht gefunden werden können. Sie liegen im Labor. Wir werden uns damit bewaffnen.“

„Schön und gut“, meinte Ginny, „dieses Problem ist also lösbar. Aber wie kommen wir hinein?“

„Eins nach dem anderen“, antwortete Roy. „Ich schlage vor, vom Ende her zu denken und uns dann zu den Voraussetzungen vorzufressen. Wir holen also die Gefangenen aus den Zellen. Wir müssen Besen dabeihaben, und zwar Besen, die schneller sind als die der Auroren…“

„Feuerblitze!“, rief Julian. „Wir nehmen die Slytherin-Quidditchbesen. Falls wir mehr brauchen, werden die Malfoys sich schon nicht lumpen lassen…“

„Die Fluchtroute führt unter dem Schutz unserer Patroni und zusätzlicher Schildzauber senkrecht nach oben“, nahm Roy die Planung wieder auf, „bis wir die Schutzglocke verlassen haben und uns unsichtbar machen können. Was, wenn die Auroren mit ihren Besen aufsteigen, um uns an der Flucht zu hindern?“

„Wir holen sie von den Besen runter“, schlug Ares vor. „Bevor einer mit seinem Besen aufsteigen kann, gibt es immer einen kritischen Moment, in dem er praktisch auf dem Präsentierteller sitzt. Wenn wir genug Leute auf dem Burgturm haben…“

„Und wo nehmen wir die her?“, unterbrach ihn Ginny.

„Ich habe meinen Vater noch nicht kontaktieren können, weil er tagelang im Ministerium festgehalten wurde, aber ich bleibe dabei, dass er eine Handvoll alte Todesser auftreiben könnte, vorausgesetzt, deren Kameraden werden ebenfalls befreit.“

„Wie viele Todesser sitzen denn noch ein?“

„Rund ein Dutzend“, antwortete Ares. „Wenn wir für alle zu befreienden Gefangenen Zauberstäbe mitbringen – die werden nicht perfekt sein, aber irgendwie werden sie schon damit zaubern können –, sind wir etwa vierzig Leute, geschützt von Patroni und Schildzaubern, und wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Waghalsig, aber machbar, vor allem wenn man bedenkt, dass die Auroren, die zum Dienst in Askaban abgestellt werden, nicht die Besten und Hellsten sein dürften, eher die, die man anderswo nicht brauchen kann.“

„Ja, aber es können um die zweihundert sein, vielleicht sogar mehr, wenn die Mannschaften bis dahin verstärkt werden“, gab Roy zu bedenken. „Dagegen stehen wir, die Weasleys und eventuell die Todesser, vorausgesetzt, dein Vater kann sie wirklich überreden mitzumachen. Fünfundzwanzig bis dreißig Leute, von denen die Hälfte unten im Zellentrakt damit beschäftigt sein wird, die Gefangenen zu befreien. Bleiben etwa fünfzehn, die zweihundert Auroren und obendrein diejenigen Dementoren in Schach halten müssen, die nicht im Zellentrakt, sondern oben in der Burg sind.“

„Dementoren kann man mit Patroni vertreiben, die sind nur gegen Wehrlose stark“, meinte Ares.

„Bleiben immer noch die Auroren“, überlegte Roy. „Wir müssen sie außer Gefecht setzen.“ Er grübelte, dann grinste er. „Und ich glaube, ich weiß auch, wie…“

Ginny hob fragend die Brauen. Roy fuhr fort: „Falls die Auroren alarmiert werden, beschießen wir ihre Türme und die Unterkunft mit peruanischem Finsternispulver. Dann sind sie praktisch blind. Wir aber können sie sehen, und zwar mit dem Calorate-Zauber. Die wenigen, die in es der allgemeinen Verwirrung und Dunkelheit schaffen, auf ihre Besen zu steigen, schalten wir dann gezielt mit Schockzaubern aus. – Ich gehe doch davon aus“, wandte er sich an Ginny, „dass die ehrwürdige Firma Weasleys zauberhafte Zauberscherze uns dieses Pulver zur Verfügung stellen kann?“

Ginny lachte. „Tonnenweise, wenn nötig!“

„Schön. Bleibt die Sache mit den Patroni. Wie viele aus deiner Familie schaffen einen Patronus, Ginny?“

Ginny dachte kurz nach und meinte dann: „Alle außer James und Victoire.“

„Dann werden wir James und Victoire darin ausbilden“, entschied Roy. „In einer Burg voller Dementoren können wir gar nicht genug Patroni haben. In die Planung der Aktion würde ich sie aber nicht einbinden. Überhaupt sollte die weitere Planung auf Ginny und mich beschränkt bleiben. Seid ihr einverstanden?“

Alle nickten, nur Albus sah etwas zweifelnd drein.

„Äh, Mama…“ fragte er zögernd, „traust du dir das wirklich zu? Ich meine, du musst praktisch Papa vertreten…“

Er verstummte, denn Ginny warf ihm einen vernichtenden Blick zu und schwieg ihn schier endlose zehn Sekunden lang an, in denen er zusehends zu schrumpfen glaubte.

„Vierhundertfünfzig zu hundertvierzig“, knurrte sie schließlich.

„Äh, wie?“

„Am Ende meiner fünften Klasse hatten wir das Entscheidungsspiel gegen Ravenclaw um den Quidditchpokal und mussten mit dreihundert Punkten Unterschied gewinnen. Ich war eigentlich Jäger, musste aber Sucher spielen, weil unser Sucher – dein Vater – sich Nachsitzen bei Snape eingehandelt hatte.“ Sie machte eine Kunstpause. „Mit vierhundertfünfzig zu hundertvierzig haben wir die Ravenclaws vom Platz gefegt. Glaub mir, mein Sohn, ich kann deinen Vater vertreten, wenn es sein muss!“

Gegen dieses Argument war kein Einwand möglich.

„Okay, okay…“, murmelte Albus kleinlaut. „Äh, sollten wir vielleicht auch Scorpius den Patronus beibringen?“, schlug Albus vor. „Ich habe mit Scorpius in den Ferien alle möglichen Verteidigungszauber geübt, er ist ziemlich gut…“

Scorpius wird nicht mitmachen!“, schnitt seine Mutter ihm das Wort ab. „Ich glaube nicht, dass außer dir noch ein Erstklässler einen Patronus zustandebringt. Und ich werde ganz bestimmt nicht anderer Leute Kinder in eine so gefährliche Aktion hineinziehen. Ich könnte Astoria Malfoy nicht unter die Augen treten, wenn ihrem einzigen Sohn dabei etwas zustieße. Bei dir und James ist es etwas Anderes, es geht um euren Vater, und deine Freunde hier sind volljährig oder fast volljährig.“

Da Albus ziemlich enttäuscht dreinblickte, schlug Roy vor:

„Zeig ihm trotzdem alles, was du selbst gelernt hast, Al, schaden kann es auf keinen Fall. Du wirst ihm aber nichts über die Befreiungsaktion sagen, hörst du?“

Ginny sah ihn misstrauisch an, widersprach aber nicht, und Albus nickte erleichtert. Er war froh, etwas tun zu können.

„Können wir den Geheimraum benutzen?“, fragte Albus. „Ich meine, wir sollten nicht gesehen werden, und wenn wir es hier nicht machen können, müssen wir in den Raum der Wünsche im siebten Stock.“

Roy schien etwas unsicher, er blickte in die Runde.

Arabella nickte: „Wir wollten ihn, wenn das hier vorbei ist, doch ohnehin in die Gruppe aufnehmen. Ich halte ihn für intelligent und verschwiegen.“

„Er hat mich auch schon gefragt, ob er mitmachen kann“, fügte Albus hinzu.

Da niemand widersprach, sagte Roy: „Dann machen wir ihn quasi offiziell zum Kandidaten. Er sollte aber ruhig wissen, dass es eine besondere Auszeichnung ist, als Einziger unseren Geheimraum zu kennen.“

„Was ist mit den anderen Slytherins?“, wollte Ares nun wissen. „Sollten wir von denen nicht auch ein paar rekrutieren?“

Roy überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. „Die Anzahl der Mitwisser ist jetzt schon bedenklich groß. Ich unterstelle niemandem, dass er ein Verräter ist, aber Jeder könnte sich verplappern oder sich verdächtig machen. Wenn ich es mir recht überlege, sollten wir auch darauf verzichten, die Todesser einzubinden, außer deinem Vater, wenn er mitmachen möchte, und Julians Großvater.“

„Bist du sicher, dass wir dann genug Leute haben?“, wandte Ares ein.

„Wir und die Weasleys, einschließlich James und Victoire, sind zusammen sechzehn Personen. Wenn wir die Todesser an Bord nehmen, sind wir gezwungen, statt einem Gefangenen mehr als ein Dutzend zu befreien, was wesentlich länger dauert, und haben viel mehr Mitwisser, die wir nicht kennen, die wahrscheinlich vom Ministerium überwacht werden, und von denen Jeder das Unternehmen auffliegen lassen kann. Außerdem möchte ich deinen Vater, der ebenfalls das Ministerium auf dem Hals hat, nicht unnötig gefährden. Das Finsternispulver sollte ausreichen, unsere zahlenmäßige Unterlegenheit zu kompensieren.“

„Nächster Punkt“, übernahm Ginny nun die Gesprächsführung. „Wie kommen wir unbemerkt hinein?“

„Wir schalten zunächst die Auroren aus, die über der Festung patrouillieren“, antwortete Roy. „Sie sind zwar unsichtbar, können aber mit Calorate sichtbar gemacht werden und sind daher leicht zu überrumpeln. Dann gehen wir im Sturzflug hinunter.“

„Dabei wird man uns sehen“, wandte Arabella ein.

„Nicht bei Neumond.“

„Und wann ist das?“

„Die nächsten beiden Neumonde sind am 15. Februar und am 17. März.“

„Also in ziemlich genau einem beziehungsweise zwei Monaten“, überlegte Ginny. „Bis Mitte Februar sollten wir wissen, wie unsere Aussichten stehen, Harry im Prozess freizubekommen, und ob wir ihn gewaltsam herausholen müssen oder nicht. Solange wir es aber nicht wissen, stimmen wir alle Vorbereitungen auf den 15. Februar ab.“

„Wie steht es mit der Alternative“, fragte Arabella, „Harry aus dem Gerichtssaal zu befreien?“

„Aussichtslos“, antwortete Ginny. „Ich habe es mit meinem Vater gründlich durchgesprochen. Bei wichtigen Gerichtsverhandlungen wird das Ministerium bewacht wie eine Festung, und zwar sowohl von Dementoren als auch von Auroren. Schon sämtliche Eingangsbereiche sind dann so gut wie unpassierbar, und es bilden sich lange Schlangen von Ministerialbeamten, die zu ihrem Arbeitsplatz wollen. Das ist der Unterschied zu Askaban, das unter freiem Himmel liegt und deshalb gegen ein Eindringen von oben nie vollständig abgeriegelt werden kann. Im Ministerium werden Gitter mit engen Durchlässen angebracht. Jeder, der hineinwill, wird auf alles überprüft, auch auf Vielsaft und Ähnliches. Die Schutzglocke, die sonst nur in der unmittelbaren Umgebung der Ministerin gilt, wird auf das ganze Gebäude ausgedehnt, sodass auch kein Unsichtbarkeitszauber funktioniert, und selbst wenn man die Kontrollen passiert hat, halten überall Sicherheitsleute Wache, vor allem natürlich im Gerichtstrakt und besonders vor dem Gerichtssaal. Man müsste sich den Weg Korridor für Korridor freikämpfen, und zwar gegen wirkliche Profis, und selbst wenn man es in den Gerichtssaal schafft, kommt man an Harry nicht heran, weil die Dementoren darauf vorbereitet sind, jederzeit den Dauerportschlüssel zu verwenden, der für solche Fälle bereitsteht und sie mit dem Gefangenen direkt nach Askaban bringt. Da er auf demselben Wege zur Verhandlung gebracht wird, ist auch eine Befreiung auf dem Transport nicht möglich.“

„Sie befördern die Gefangenen per Portschlüssel?“ Roy runzelte die Stirn. „Ich dachte, Apparieren und Portschlüssel funktionieren nicht in Askaban?“

„Diese speziellen schon“, meldete sich Julian, „wenn sie von denselben Leuten verzaubert werden, die auch die Schutzzauber ausgeführt haben. Ich nehme an, es ist wie mit unserem Geheimraum: Da McGonagall die Schutzzauber für Hogwarts eingerichtet hat, war sie, aber eben nur sie, auch in der Lage, diesen Raum davon auszunehmen.“

„Dann brauchen wir den Plan einer Befreiung aus dem Ministerium also gar nicht weiterzuverfolgen?“, fragte Roy.

„So ist es“, bestätigte Ginny. „Es muss Askaban sein.“

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