47 – Askaban

 

Am Morgen des folgenden Samstags apparierte Roy unsichtbar im kleinen Fischerhafen von Branness, in dem gerade die Kutter entladen wurden, die von ihrer nächtlichen Fangfahrt zurückkehrten. Zahllose Möwen kreisten um die Boote, um sich den einen oder anderen Fisch zu schnappen.

Roy wartete, bis das Treiben sich etwas gelegt hatte und die meisten Fischer die Pier verlassen hatten, um sich in einem Pub aufzuwärmen oder nach Hause zu gehen. Dann bestieg er, immer noch unsichtbar, eines der verlassenen Boote, auf dessen Reling einige Silbermöwen es sich bequem gemacht hatten. Er suchte sich eine aus, die ihm besonders kräftig zu sein schien, und richtete den Zauberstab auf sie:

Petrificus totalus“, murmelte er und fing gleich darauf die Möwe auf, die aufs Deck zu fallen drohte. Er legte sie behutsam auf die Planken.

Wäre einer der Fischer in diesem Moment zurückgekehrt, so hätte er sich zweifellos über die leuchtend blauen Lichtstreifen gewundert, die etwa eine Minute lang über das Gefieder der Möwe pulsierten.

Roy hob den Petrificus-Zauber wieder auf. Die Möwe sah sich einen Augenblick lang verdattert um, dann breitete sie die Flügel aus und beeilte sich, gehörigen Abstand zu diesem unheimlichen Kutter zu gewinnen, auf dem so seltsame Dinge geschahen. Sie ließ sich in einiger Entfernung auf der Mastspitze eines Segelbootes nieder und begann ausgiebig ihr Gefieder zu putzen.

Auf dem Deck des Kutters tauchte nun wie aus dem Nichts eine weitere Möwe auf, die ebenfalls ihre Schwingen ausbreitete und unter dem wolkenlosen Morgenhimmel in östlicher Richtung davonflog.

 

Roy hatte in der Nacht nach der letzten Lagebesprechung wieder einmal die Verbotene Abteilung besucht und sich über Animagus-Zauber kundig gemacht. Dass es verboten war, sich ohne ausdrückliche Genehmigung des Ministeriums zum Animagus zu machen, kümmerte ihn wenig: So ziemlich alles, was er in den letzten drei oder vier Monaten getan hatte, war verboten. Allerdings schien die Verwandlung in einen Animagus knifflig und nicht ganz ungefährlich zu sein. Daher hatte er noch am Freitagabend Minerva McGonagall – einen gemeldeten und zugelassenen Katzen-Animagus – in ihrem Büro aufgesucht, sie in seinen Plan eingeweiht und um Hilfe gebeten.

McGonagall hatte ihm eine ganze Reihe wichtiger Tipps gegeben, ohne die sein Vorhaben in der Tat gescheitert wäre. Dann hatte sie ihn ernst und eindringlich ermahnt:

„Dass ich Ihnen das alles sage, MacAllister, dürfen Sie als erstrangigen Vertrauensbeweis ansehen! Ich täte es trotzdem nicht, wenn es nicht um Harry ginge und Sie nicht der Einzige wären, dem ich zutraue, seinen Kopf zu retten.“

„Das ehrt mich, Frau Professor. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Ach, und weil ich schon einmal hier bin: Wir werden demnächst, so Gott will, einen neuen Zaubereiminister brauchen, eine Person von untadeligem…“

„Man ist bereits an mich herangetreten“, unterbrach ihn die Schulleiterin, „und ich habe zugesagt, dass die Ablösung der Ministerin nicht am Fehlen einer Gegenkandidatin scheitern wird.“

Sie erhob sich.

„Das braucht aber nicht Ihr Problem zu sein, MacAllister, darum kümmern sich Leute, die strategisch günstiger platziert sind als Sie. Konzentrieren Sie sich darauf, Harry herauszuholen, falls er verurteilt wird.“

„Natürlich, Frau Professor. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

„Ich Ihnen auch.“

Roy war schon an der Tür, da rief McGonagall noch einmal:

„MacAllister?“

„Ja?“ Roy drehte sich um. Zum ersten Mal nahm er in dem sonst so strengen Gesicht der Schulleiterin so etwas wie einen mütterlichen Zug wahr.

„Passen Sie gut auf sich auf.“

„Das werde ich tun. Ich verspreche es Ihnen.“

 

Roy gewann schnell an Höhe. Da er keinen Kompass benutzen konnte, wollte er einen möglichst großen Sichtradius haben, um nicht womöglich an der Gefängnisinsel vorbeizufliegen. In der Ferne gewahrte er einen Punkt, der nach einer Insel aussah. Er ging in einen langen Sinkflug über und konnte nach und nach Einzelheiten ausmachen: In der Mitte der fast kreisrunden Insel, die vielleicht vierhundert Meter Durchmesser hatte, erhob sich eine alte Burg mit einem hohen Turm. Die Inselküste war mit einer etwa vier Mauer hohen Mauer befestigt.

Nun, da er Askaban gefunden hatte, gab Roy der Versuchung nach, es den anderen Möwen gleichzutun und ein wenig mit dem Wind zu spielen. Selbst für einen Zauberer, der es gewohnt war, zur Fortbewegung Besen zu benutzen, war es ein einzigartiges Vergnügen, aus eigener Kraft fliegen zu können. Er ließ sich vom starken Seewind nach oben tragen, kippte zur Seite, setzte zu einem kleinen Sturzflug an, kreiste in weiten Spiralen wieder nach oben, blieb in der Luft stehen, sauste wieder nach unten, schoss knapp über die Wellen und zog wieder hoch.

Er hätte stundenlang so weitermachen können. Wenn das alles vorbei ist, dachte er, werde ich es einmal nur zum Spaß machen. Jetzt aber hatte er Wichtigeres zu tun. Er flog auf die Spitze des Burgturms und ließ sich dort nieder. Von dort würde er einen guten Überblick haben.

Roy putzte sein Gefieder – als Möwe konnte er nicht anders –, dann sah er sich um: Die äußere Mauer war von zwölf Wachtürmen gesäumt, unter deren Dächern sich Fenster befanden, die der Besatzung einen Rundumblick erlaubten. Zwischen der Mauer und der Burg erstreckte sich ringsum eine über hundertfünfzig Meter breite, unbebaute, aber gepflasterte Fläche. Man hatte sorgfältig darauf geachtet, dass keinerlei Hindernisse den Blick verstellten. Wer immer versuchte, diese Fläche zu überqueren, musste von den Besatzungen der Wachtürme und der Burg gesehen werden.  Auf der Westseite war die Mauer von einem großen Wassertor unterbrochen, das von zwei Türmen begrenzt war. Eine Art Kanal führte durch das – momentan allerdings verschlossene – Tor hindurch und ragte rund dreißig Meter auf das Gefängnisgelände, wo er an einer Anlegestelle endete. Etwas nördlich vom Tor schmiegte sich ein etwa zweihundert Meter langes und acht Meter breites flaches Steingebäude an die Mauer. Seine Fenster waren, anders als sämtliche Fenster der Burg, nicht vergittert.

Roy stieß sich von der Zinne ab, flog zu einem der Wachtürme und umkreiste ihn. Das Innere lag in einem Halbdunkel, das er, der im strahlenden Sonnenschein seine Kreise zog, nicht durchdringen konnte. Er ließ sich auf der Schattenseite auf einem der Außensimse der nicht verglasten Fenster nieder, ließ seinen Augen einen Moment Zeit, sich anzupassen, und spähte hinein. Zwei Auroren, erkennbar an ihren dunkelblauen Umhängen, schoben hier Wache – keine Dementoren, die verrichteten offensichtlich nur in der Burg ihren Dienst. Vermutlich sollte die breite Freifläche nicht nur die Gefangenen am Ausbruch hindern, sondern auch die Dementoren auf Abstand zu den Auroren halten.

Roy vergewisserte sich an einigen anderen Türmen, dass je zwei Auroren die Standardbesatzung eines Turms darstellten, dann nahm er das flache Steingebäude in Augenschein. Offenbar handelte es sich um die Unterkunft der Auroren, von denen er einige in ihren Etagenbetten schlafen sehen konnte. Am Ende des Gebäudes befanden sich eine Großküche und der geräumige Speisesaal. Nachdem er durch mehrere Fenster gespäht hatte, rechnete Roy sich aus, dass die Unterkunft für etwa vierhundert Personen ausreichen musste. Da die ständige Besetzung der zwölf Wachtürme mit je zwei Auroren in drei Acht-Stunden-Schichten täglich nicht mehr als zweiundsiebzig Beamte erforderte, dürfte die Normalbesatzung, selbst wenn man großzügig Küchen- und Verwaltungspersonal und eine Reserve an zusätzlichen Beamten im Bereitschaftsdienst hinzurechnete, kaum mehr als zweihundert Auroren betragen, von denen die meisten sich in ihrer Unterkunft aufhielten. Das Ministerium hielt aber Kapazitäten für eine doppelt so große Aurorenbesatzung bereit. Damit würde man rechnen müssen.

Roy umkreiste nun die Burg. Obwohl alle Fenster vergittert waren, gab es anscheinend keine oberirdischen Zellen, denn hinter allen Fenstern, durch die er spähte, konnte er Dementoren wahrnehmen, keine Gefangenen. Obwohl sie ihm sehr nahekamen, spürte er nichts von der Kälte, die sie sonst bei dem Versuch verströmten, alle Glücksgefühle aus Menschen herauszusaugen. Gegen Tiere wirkte ihre Macht offenbar nicht.

Roy sah vom Sims eines der Burgfenster aus drei Auroren auf ihre Besen steigen und steil nach oben fliegen. Nach oben? dachte er. Was wollen sie denn dort? Er folgte ihnen in einem gewissen Abstand viele hundert Meter hoch, während die Burg unter ihnen immer kleiner wurde. Als sie schon fast den Rand der Schutzglocke erreicht haben mussten, blieben die Auroren in der Luft stehen. Sie schienen auf irgendetwas zu warten.

Wie aus dem Nichts erschienen nun über ihnen drei weitere Auroren auf Besen. Sie machten bei ihren Kollegen kurz Halt, während Roy näher heranflog. „Keine besonderen Vorkommnisse“, hörte er einen der soeben aufgetauchten Auroren sagen. Besonders scharfsinnig schienen sie nicht zu sein, sonst hätten sie sich wohl gefragt, was eine Silbermöwe in fast einer Meile Höhe zu suchen hatte. Die Auroren klatschten sich ab, dann stiegen diejenigen, die Roy verfolgt hatte, weiter und verschwanden plötzlich, während die anderen sich zur Burg hinuntersinken ließen. Roy wurde klar, dass er eine Wachablösung beobachtet hatte. Offenbar kreisten je drei Auroren unsichtbar über der Festung, um etwaige Angreifer schon von weitem sehen und gegebenenfalls abwehren zu können, ohne selbst von ihnen gesehen zu werden.

Er ließ sich nun in weiten Kreisen wieder sinken und landete auf dem Turm, um die Burg selbst in Augenschein zu nehmen. Tief unter sich sah er einen quadratischen Innenhof mit etwa zwanzig Metern Seitenlänge. Die Mauern der ihn umgebenden Burg ragten so weit in die Höhe, dass kaum Licht hineinfiel. Dennoch konnte Roy einen Gefangenen ausmachen, der, bewacht von Dementoren, in diesem Hof im Kreis umherging. Roy wurde neugierig, stieß sich erneut ab und kreiste nach unten in den Innenhof, wo er sich auf einem etwa mannshohen Mauervorsprung niederließ.

Der Gefangene war Harry. Er war unverletzt und wirkte keineswegs unglücklich oder verzweifelt, eher konzentriert in sich gekehrt, fast wie ein meditierender tibetischer Mönch. Als Harry den Mauervorsprung fast erreicht hatte, stieß Roy den Kontaktruf der Silbermöwen aus. Harry blickte auf und schien sich zu wundern, anscheinend verirrten sich nur selten Möwen in den dunklen Hof. Der Gefangene, der seinen Schritt fortsetzte, und die Möwe sahen einander unverwandt an. Roy ließ erneut den Kontaktschrei ertönen, und auf Harrys Gesicht erschien einen Moment lang ein Schmunzeln.

Ein Dementor, der an der Tür wartete, die anscheinend zum Zellentrakt führte, winkte den Gefangenen zu sich heran. Offenbar war der Hofgang beendet. Roy flog los, umkreiste Harry zwei Mal, wobei er wieder den Silbermöwenschrei ausstieß, und stieg dann in spiralförmigem Flug in den Himmel. Bevor Harry wieder in dem finsteren Gebäude verschwinden musste, sah er noch einmal nach oben und blickte der Möwe nach. Er lächelte.

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