29 – Schockzauber

 

Am letzten Mittwoch im Oktober saßen Roy und Julian kurz nach neun im Gemeinschaftsraum bei einer Partie Zauberschach zusammen.

„Ich sehe dich gar nicht mehr mit Patricia flirten“, meinte Julian, während er einen Springer auf Roys schwarzfeldrigen Läufer losließ. „Läuft da nichts mehr, oder seid ihr nur diskreter geworden?“

Roys Bauer zerrte den Reiter vom Pferd.

„Ich habe es beendet“, sagte Roy, während Julians wackerer Ritter mit der Mistgabel des Bauern im Hintern vom Brett floh.

„Wie hat sie es aufgenommen?“

„Schlechter, als ich dachte. Ich meine, außer ein bisschen Flirten war ja zwischen uns so gut wie nichts vorgefallen, und ich fand mich eigentlich recht taktvoll.“

Julian zog zweifelnd die Brauen hoch. „Was hast du denn gesagt?“

„Dass ich über uns nachgedacht habe, dass mir klargeworden ist, dass das mit uns über kurz oder lang scheitern muss, weil von vornherein feststeht, dass ich sie nie heiraten kann, und dass sie mir für ein bloßes Abenteuer zu kostbar und zu schade ist.“

„Donnerwetter, hätte ich dir ehrlich gesagt gar nicht zugetraut“, grinste Julian, der ein ausgewiesener Experte in der delikaten Kunst des stilvollen Beendens von Beziehungen war. „Eigentlich hast du ihr jeden Grund gegeben, sich geschmeichelt zu fühlen.“

„Dachte ich auch, aber sie war ziemlich gekränkt“, meinte Roy etwas bekümmert.

„Wahrscheinlich fühlt sie sich blamiert. Immerhin redete die ganze Schule darüber, dass ihr beiden…“

Julian konnte nicht weitersprechen, da plötzlich die Tür zum Gemeinschaftsraum aufging und Whiteman eintrat. Die Schüler blickten auf: Das Erscheinen des Hauslehrers im Gemeinschaftsraum bedeutete selten etwas Gutes.

Whiteman winkte sofort Roy und Patricia, die mit einigen Freundinnen beisammengesessen hatte, energisch zu sich heran.

„Holen Sie sofort alle Schülerinnen und Schüler aus dem Bett. Sie sollen sich im Gemeinschaftsraum einfinden, und zwar mit ihren Zauberstäben!“

„Darf man fragen, warum?“, wollte Roy wissen. „Ich meine, gerade die Jüngeren brauchen Ihren Schlaf und…“

„Gehen Sie davon aus, dass ich solche Anweisungen nicht ohne Grund erteile, Mister MacAllister!“, herrschte Whiteman ihn an. „Tun Sie, was ich Ihnen sage!“

Da Widerspruch zwecklos war, holten die beiden Vertrauensschüler ihre Schützlinge aus den Betten. Einige Minuten später standen die Slytherins vollzählig im Gemeinschaftsraum.

„Jeder von Ihnen wird jetzt seinen Zauberstab mit einem Namensschild kennzeichnen und mir dann aushändigen!“, befahl Whiteman. Als sich protestierendes Gemurmel erhob, fügte er hinzu: „Den Grund erfahren Sie gleich.“

Gehorsam zauberten die Schüler sich Namensschilder und befestigten sie an den Stäben. Whiteman sammelte die Stäbe ein. Dann sagte er:

„David Bancroft aus dem Haus Hufflepuff ist soeben ohnmächtig aufgefunden worden. Man hat ihn mit einem Schockzauber belegt. Es handelt sich um den vierten Angriff auf einen muggelstämmigen Schüler innerhalb von zehn Tagen, wenn man die drei Petrificus-Angriffe der letzten Tage mitzählt. Letztere konnte man noch als üble Schülerstreiche abtun, aber der Schockzauber ist eine Grenzüberschreitung, die die Schulleitung zu energischen Maßnahmen zwingt! Die Schulleiterin hat Professor Gracchus Barclay, der, wie Sie wissen, ein erfahrener Auror ist, mit den Ermittlungen betraut. Er hat angeordnet, alle Zauberstäbe sämtlicher Hogwarts-Schüler sofort einzuziehen. Die Lehrer werden sie überprüfen. Wer nichts damit zu tun hat, bekommt morgen seinen Zauberstab zurück. Der Täter aber kann mit dem Schulverweis rechnen. Gute Nacht!“

Während die Schüler ebenso verwirrt wie lautstark miteinander zu diskutieren begannen, zogen die Unbestechlichen sich in eine Ecke zurück. Auch Albus hatte sich zu ihnen gesellt.

„Was wollen sie denn überprüfen?“, fragte er verunsichert, als er die finsteren Mienen seiner Freunde sah.

Priori incantatem“, sagte Roy knapp. „Schon einmal gehört?“

„Nö.“

„Das heißt“, erläuterte Roy, „sie werden die letzten Zauber des jeweiligen Stabes sichtbar machen. Sie suchen nach Zauberstäben, mit denen zuletzt Schockzauber ausgeführt wurden. Na, klingelt was?“

Albus‘ Eingeweide schienen sich jäh zu verknoten. In der heutigen DA-Stunde hatten sie noch einmal alles rekapituliert und geübt, was sie in den vergangenen Wochen gelernt hatten, und die letzte Viertelstunde hatten sie just damit zugebracht, sich gegenseitig zu schocken.

„Ja, aber können sie dann nicht auch sehen, gegen wen der Zauber sich richtete?“, fragte er, noch ein wenig hoffnungsvoll.

„Das geht nur beim Todesfluch, sonst nicht“, knurrte Roy.

„Ja, aber wir können doch bezeugen, dass wir uns nur gegenseitig geschockt haben und nicht irgendeinen Hufflepuff. Mein Vater sagt, Barclay sei ein sehr anständiger und fairer Ermittler, und gerade deshalb habe Hermine ihn nach Hogwarts abgeschoben.“

„Immerhin ein Hoffnungsschimmer“, sagte Roy. „Trotzdem: Wenn der Täter schlau genug war, einen Zweitstab zu benutzen, oder wenn er ein Lehrer ist oder ein Unbekannter, der von außen in die Schule eingedrungen ist…“

„…sind unsere Stäbe wahrscheinlich die einzigen, mit denen zuletzt jemand geschockt wurde“, ergänzte Orpheus. „Barclay mag gutwillig sein, aber er ist ein Gryffindor, das Opfer ist muggelstämmig, und wir sind Slytherins, noch dazu die, die das Ministerium ohnehin schon im Visier hat. Er wird uns verdächtigen, uns gegenseitig falsche Alibis zu geben. Zumindest wird er uns intensiv verhören, das ist sogar seine Pflicht. Er wird wissen wollen, warum wir einander schocken…“

„Dann sagen wir, wir haben eine inoffizielle Arbeitsgemeinschaft zur Übung der Verteidigung gegen die dunklen Künste gegründet. Stimmt ja auch irgendwo“, warf Ares ein.

„Könnte gehen“, gab Orpheus zu, „aber er wird auch wissen wollen, wo wir es gemacht haben, und allein schon wegen der Bücher, die wir dort lagern, würde ich würde ungern unseren Geheimraum preisgeben. Stellt euch mal vor, wie das aussieht: Eine Gruppe Slytherins, die für Teile der Öffentlichkeit als Todesser gelten, sind die einzigen Verdächtigen bei einem muggelfeindlichen Überfall und lagern dann auch noch haufenweise Literatur über Schwarze Magie.“

„Wir brauchen den Geheimraum nicht zu verraten“, meldete sich nun Julian zu Wort. „Wir sagen, wir hätten es im Raum der Wünsche getan.“

„Barclay wird ziemlich schnell dahinterkommen, dass keiner von uns dessen genaue Lage kennt und weiß, wie man hineinkommt“, wandte Roy ein.

„Oh doch“, grinste Julian verschmitzt, „ich weiß es. Wisst ihr“ – er grinste noch ein bisschen breiter – „wenn man mit einer Freundin ungestört sein möchte…“

„Hätten wir uns ja denken können“, unterbrach ihn Arabella. „Verschone uns bitte mit deinen Liebesabenteuern, wir haben vermutlich nicht mehr viel Zeit, weil sie die Slytherin-Stäbe zuerst untersuchen werden! Wo ist er genau und wie kommt man hinein? Bitte mit möglichst vielen Einzelheiten, Barclay wird uns danach fragen!“

Julian beschrieb es ihnen.

„Gut“, sagte Roy. „Ansonsten bleiben wir so nahe wie möglich an der Wahrheit, damit wir uns nicht in Widersprüche verstricken. Wir werden wahrheitsgemäß alle Zauber beschreiben, die wir geübt haben. Im Übrigen werden wir keinerlei politische Gründe für unser Training angeben, es geht nur um Selbstverteidigung! Ach ja, eins noch: McGonagall ziehen wir nicht hinein, und Harrys Beteiligung muss um jeden Preis verschwiegen werden, klar?“

Alle nickten.

Sie hatten ihre Absprachen gerade noch rechtzeitig getroffen, denn schon wieder stand Whiteman in der Tür, diesmal mit zornfunkelndem Blick:

„MacAllister! Lestrange! Wolfe! Malagan! Macnair! Potter! Sofort mitkommen!“

Unter den entsetzten Blicken ihrer Mitschüler folgten die Unbestechlichen, die selbst keine Miene verzogen – sogar Albus hatte sich bereits ihren stoischen Stil angewöhnt, wenn es um ernste Dinge ging – ihrem Hauslehrer auf den Gang vor dem Gemeinschaftsraum.

Während Whiteman sie schnellen Schrittes ins Erdgeschoss führte, berührte Roy Albus an der Schulter, und raunte ihm, als er zu ihm aufblickte, zu: „Keine Sorge!“

„Ruhe!“, rief Whiteman. „Sie werden bis auf Weiteres nicht miteinander sprechen!“

Albus, dem in Wirklichkeit die Knie zitterten, versuchte Roy einen möglichst zuversichtlichen Blick zuzuwerfen, den dieser mit einem zufriedenen Schmunzeln quittierte.

In der Eingangshalle angekommen, konnten sie einen kurzen Blick in die Große Halle erhaschen, in der offenbar alle Lehrer damit beschäftigt waren, im Akkordtempo Zauberstäbe zu prüfen. Whiteman allerdings führte sie zu dem Nebenraum, in dem McGonagall erst vor ein paar Wochen – die, so schien es Albus, Ewigkeiten zurücklagen – die neu eingetroffenen Erstklässler empfangen hatte. Hinter der offenen Tür sah man Gracchus Barclay sitzen, der hier offenbar sein provisorisches Büro eingerichtet hatte.

„Gracchus, ich habe alle sechs dabei“, rief Whiteman seinem Kollegen zu.

„Vielen Dank, Charles, ich werde sie einzeln vernehmen. Schicken Sie mir zuerst Potter herein, und achten Sie darauf, dass die anderen sich inzwischen nicht absprechen können.“

Whiteman gab Albus einen Wink.

Albus trat ein, schloss die Tür hinter sich, sah Barclay freimütig ins Gesicht und sagte:

„Guten Abend, Sir!“

Selbstverständlich hatte er Angst, aber er hatte sich von Scorpius ein wenig von dessen aristokratischem Habitus abgeguckt und gelernt, wie wichtig es war, in jeder Lage Haltung zu bewahren, auch und gerade, wenn man Ärger mit Lehrern hatte. Außerdem wusste er von seinem Vater, worauf Auroren bei Verhören achteten. Je deutlicher er zeigte, dass er sich nichts vorzuwerfen hatte, desto besser.

„Guten Abend, Potter!“, erwiderte Barclay seinen Gruß. „Setzen Sie sich.“

Barclay hatte mit zwei Schulbänken eine Art Schreibtisch improvisiert, an dessen einer Seite er selbst saß, während Albus auf der anderen Platz nahm.

Gracchus Barclay war ein in Ehren ergrauter, väterlich wirkender, allerdings auch – das wusste Albus – fähiger und scharfsinniger Ermittlungsbeamter, der auf Hermines ausdrücklichen Wunsch hin nach Hogwarts abkommandiert – Harry sagte: abgeschoben – worden war. Sein Vater hatte sich im Sommer sehr darüber geärgert, weil Barclay in der Aurorenabteilung schwer ersetzbar war.

Er schien es nicht eilig zu haben, das Verhör zu beginnen, sondern sah Albus lange und durchdringend an, während dieser seinem Blick so gelassen standhielt, wie er unter den gegebenen Umständen nur konnte.

Schließlich seufzte er: „Albus, Albus, wer hätte das für möglich gehalten? Ein Potter in dieser Gesellschaft! Was wird Ihr Vater dazu sagen?“

Falls es seine Absicht gewesen war, Albus einzuschüchtern und in die Defensive zu drängen, so war ihm dies misslungen. Albus hob stolz das Kinn.

„Mit Verlaub, Sir“, begann er höflich, aber bestimmt, „es gibt nichts, was ich meinem Vater verheimlichen müsste. Ich bin stolz auf meine Freunde, und keiner von uns hat sich etwas vorzuwerfen!“

Mit einer so forschen Antwort aus dem Mund eines Elfjährigen, den er für das schwächste Glied in der Kette gehalten und deshalb als erstes zum Verhör zitiert hatte, hatte Barclay offenbar nicht gerechnet. Er zog überrascht, aber nicht übelwollend, die Augenbrauen hoch.

„Sie haben also keine Ahnung, warum Sie hier sind?“

„Doch, Sir. Professor Whiteman hat uns gesagt, dass ein Mitschüler von einem Schockzauber getroffen wurde, und dass deshalb alle Zauberstäbe überprüft werden. Wir alle sechs haben heute Abend Schockzauber geübt und uns gegenseitig geschockt. Das mit den Schockzaubern haben Sie bei der Überprüfung der Zauberstäbe sicher herausgefunden, und deshalb vernehmen Sie uns. Das ist Ihre Pflicht.“

„Sie sagen es, Potter“, antwortete Barclay. „Wo waren Sie heute Abend zwischen sieben und acht Uhr?“

„Im Raum der Wünsche im siebten Stock, Sir.“

„Wer war außer Ihnen noch dort?“

„Die fünf Mitschüler, die draußen vor der Tür warten.“

„Sonst niemand?“

„Sonst niemand, Sir.“

„Was haben Sie dort getan?“

„Wir haben in unserer Arbeitsgemeinschaft verschiedene Zauber rekapituliert: Unsichtbarkeitszauber, Schildzauber, Verkleinerungs- und Vergrößerungszauber, Petrificus und zum Schluss eben Schockzauber. Wir haben uns ausschließlich gegenseitig geschockt.“

Barclay sah ihn mitleidig an.

„Potter“, sagte er, „wer soll Ihnen das glauben?“

„Sie, Sir!“, erwiderte Albus, ohne mit der Wimper zu zucken.

Barclay schaute wieder besonders väterlich drein. „Potter“, sagte er, „es ehrt Sie, dass Sie Ihre Freunde schützen möchten, aber wir beide wissen doch, dass es ganz anders war.“

„Es war so, wie ich sage, Sir.“

Barclay ging nicht darauf ein. Er stand auf, trat nahe an Albus heran, beugte sich zu ihm herunter und sagte leise: „Ihre Freunde haben Sie angestiftet, muggelstämmige Mitschüler zu terrorisieren, und weil Sie sich als guter Slytherin erweisen wollten, haben Sie mitgemacht. So war es doch, oder?“

„Nein.“

„Seien Sie doch nicht dumm, Potter! Sie sind erst elf Jahre alt und wurden von älteren Mitschülern zu Dummheiten angestiftet. Man wird Sie bestimmt nicht der Schule verweisen, aber nur, wenn Sie jetzt die Wahrheit sagen.“

„Ich sage die Wahrheit, Sir. Und, entschuldigen Sie bitte, aber ich finde Ihre Theorie ein bisschen, äh, verrückt. Roy MacAllister ist nicht nur selbst muggelstämmig, sondern hat sich auch für Bernie Wildfellow eingesetzt, den einzigen Muggel an der Schule. Und ich selbst habe es auch getan! Es ist doch absurd, uns zu unterstellen, wir würden muggelstämmige Schüler terrorisieren!“

Das Argument war stichhaltig. Barclay, an den Tisch gelehnt, sah nachdenklich zu Albus hinunter.

„Was ist das für eine Arbeitsgemeinschaft?“

„Eine AG zur Verteidigung gegen die dunklen Künste.“

„Aaach?“, fragte Barclay gedehnt. „Und warum weiß ich als Ihr Lehrer in Verteidigung nichts davon?“

„Wir hielten es nicht für erforderlich, Sie zu informieren, Sir. Es ist ja schließlich nichts Verbotenes.“

„Nein, verboten ist es nicht, und als ihr Lehrer müsste ich mich über Ihren Eifer sogar freuen. Ich bin nur zu lange Auror gewesen, um mich nicht zu wundern, wenn jemand Heimlichkeiten hat. Oder wusste außer Ihnen sechs noch jemand von Ihren Übungen?“

„Niemand.“

„Und warum nicht?“

Albus stutzte kurz, dann sagte er: „Wir wollten unter uns bleiben. Wir, äh, wir sind gar nicht auf die Idee gekommen, irgendjemandem davon zu erzählen.“

„So, sooo.“ Barclay fixierte ihn. „Sie waren also im siebten Stock. Sind Sie zusammen dorthin gegangen?“

Jetzt wurde es brenzlig. Das hatten sie nicht besprochen. Er durfte jetzt nichts sagen, was die anderen nicht bestätigen würden. So nahe wie möglich an der Wahrheit bleiben, hatte Roy gesagt. Er selbst war heute, wie immer, allein zum Geheimraum gegangen, und genau so musste er auch zum Raum der Wünsche gelangt sein…

„Ich bin allein hochgegangen, Sir.“

„Auf welchem Weg?“

Albus versuchte sich seinen Schreck über die Frage nicht anmerken zu lassen. Er war noch keine zwei Monate in Hogwarts und noch nie im siebten Stock gewesen, er kannte den Weg schlicht nicht…

Ein Pochen an der Tür rettete ihn für den Moment über seine Verlegenheit hinweg.

„Herein!“, rief Barclay.

Herein kam Professor McGonagall. „Wir haben alle Zauberstäbe überprüft. Es wurden keine weiteren verdächtigen Stäbe gefunden.“

„Danke, Minerva, dann sind die sechs also nach wie vor unsere Hauptverdächtigen“, sagte Barclay. „Unser Mister Potter hier behauptet, sie hätten eine Arbeitsgemeinschaft zur Verteidigung gegen die dunklen Künste gegründet.“

„Ja, ich weiß von dieser Arbeitsgemeinschaft“, sagte McGonagall gleichmütig.

Albus erschrak. Sie hatten doch vereinbart, McGonagall herauszuhalten! Alle Unbestechlichen würden steif und fest behaupten, sie hätten niemandem etwas davon gesagt. Barclay würde sich wundern, warum sie leugneten, McGonagall informiert zu haben…

„Richtig“, rief er dazwischen, „das hatte ich vergessen, Sir! Ich hatte mit Professor McGonagall darüber gesprochen.“ Er versuchte, das „Ich“ so deutlich wie möglich zu betonen, um der Schulleiterin einen Wink zu geben, nicht etwa zu behaupten, einer der anderen oder gar die ganze Gruppe hätte sie informiert. Während Barclay sich wieder Albus zuwandte, sah dieser, wie McGonagall ganz kurz ihren Falkenblick bekam, bevor ihre Züge sich wieder entspannten.

„Das fällt Ihnen jetzt ein, Potter?“, fragte er misstrauisch.

„Tut mir leid, Sir, es war ein beiläufiges Gespräch, daher hatte ich nicht mehr daran gedacht.“

Barclay sah zweifelnd zur Schulleiterin, die Albus‘ Angaben mit einem knappen Nicken bestätigte.

„Gut“, wandte er sich wieder Albus zu. „Wir waren bei Ihrem Weg in den siebten Stock stehengeblieben. Wie sind Sie genau zum Raum der Wünsche gekommen?“

„Das weiß ich leider nicht mehr, weil ich mich unterwegs verlaufen habe. Ich hatte vergessen, mir den Weg beschreiben zu lassen. Glücklicherweise war ich früh losgegangen. Ich bin so lange nach oben gegangen, bis ich im siebten Stock war, und dort irrte ich so lange herum, bis ich bei Barnabas dem Bekloppten ankam. Den Weg könnte ich beim besten Willen nicht mehr rekonstruieren.“

„Sie hätten aber doch jemanden fragen können.“

„Ja, sicher, aber es wäre mir peinlich gewesen, ich… äh, ich wollte nicht der dumme Erstklässler sein, der keine Ahnung hat.“

„Wie oft trifft sich Ihre AG?“, wollte Barclay wissen.

„Dreimal wöchentlich, montags, mittwochs und freitags.“

„Immer im Raum der Wünsche?“

„Ja, Sir.“

„Seit wann?“

„Seit Ende September.“

„Sie waren also schon ein Dutzend Mal dort und wollen den Weg immer noch nicht kennen?“

„Ich bin sonst immer mit einem der anderen gegangen, da musste ich mir den Weg nicht merken.“

„Mit wem?“, fragte Barclay, und Albus merkte, wie ihm heiß wurde.

„Mit Roy MacAllister, Sir“, sagte er nach kurzem Zögern. „Manchmal waren auch andere dabei, aber ich weiß nicht mehr genau, wer und wann.“

„Nein?“

„Ich habe darüber nicht Buch geführt“, sagte Albus etwas frech, aber mit Unschuldsmiene. So waren die Angaben unbestimmt genug, dass sich die Unbestechlichen nicht in Widersprüche verwickeln würden.

„Ich kann dann wohl hier nichts mehr tun, Gracchus“, sagte die Schulleiterin. „Bis später dann!“

„Ja, danke, bis dann!“ Und während McGonagall den Raum verließ, wandte sich Barclay wieder Albus zu. Der Rest des Verhörs war kurz. Barclay fragte ihn, wo er zu den Zeitpunkten gewesen war, zu denen andere Muggelstämmige mit dem Petrificus belegt worden waren. Glücklicherweise hatte Albus für diese Zeitpunkte Alibis, weil er mit Scorpius, Jennifer oder Bernie zusammengewesen war.

„Gut“, sagte Barclay schließlich. „Sie können dann gehen, Potter. Schicken Sie mir MacAllister herein.“

Albus ging hinaus: „Roy“, sagte er, „du bist dran!“

Als Roy hineinging, wandte McGonagall, die bis dahin mit Whiteman geplaudert hatte, sich Albus zu:

„Potter, Sie gehen jetzt schlafen, es ist schon nach elf, viel zu spät für Sie!“

„Bitte, Professor McGonagall“, erwiderte er. „Ich bin viel zu aufgeregt, um jetzt zu schlafen, und wenn Sie erlauben, möchte ich gern bei meinen Freunden bleiben.“

Zu seiner eigenen Überraschung gab die sonst so gestrenge Schulleiterin nach. „Also schön, ausnahmsweise. Aber ich warne Sie, Potter! Wenn Sie morgen im Unterricht einschlafen…“

„Ich verpasse ihm morgen früh einen Aufmunterungszauber“, hakte Ares ein. „Dann wird es schon gehen.“

„Trotzdem müssen Sie sich abseits von denen halten, die noch nicht befragt wurden“, sagte Whiteman dienstbeflissen.

Die übrigen Verhöre erfolgten nun Schlag auf Schlag, während die beiden Lehrer sich weiter unterhielten und nach und nach all ihre Kollegen hinzutraten; nur Richardson fehlte.

Kurz vor zwölf trat Barclay mit Ares, den er als letzten befragt hatte, vor die Tür und erstattete McGonagall Bericht:

„Sie waren es nicht. Ihre Alibis für heute und die anderen Tatzeitpunkte sind glaubwürdig beziehungsweise überprüfbar, Bancroft ist nur von einem, allerhöchstens zwei Schockzaubern getroffen worden, nicht von sechs, und sie hatten kein Motiv…“

„…aber mein volles Vertrauen“, lächelte McGonagall. „Ich hatte mit nichts anderem gerechnet, wollte aber Ihre Ermittlungen nicht beeinflussen.“

„Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los“, sagte Barclay misstrauisch, während er den Unbestechlichen nacheinander ihre Zauberstäbe zurückgab, „dass Sie mir irgendetwas verschweigen. Ich glaube nur nicht, dass es der Angriff auf Bancroft ist.“

Er wandte sich wieder seinen Kollegen und der Schulleiterin zu. „Im Übrigen sind wir jetzt genauso schlau wie vorher. Vielleicht hat jemand einen zweiten Zauberstab, aber den kann er in diesem riesigen Gebäude überall versteckt haben, Zeit genug hatte er ja. Außerdem habe ich einen Fehler gemacht, beim nächsten Mal werden wir zunächst die Stäbe der Lehrer überprüfen.“

„Sie glauben doch nicht im Ernst…“ wollte Whiteman sich empören.

„Ich glaube gar nichts“, versetzte Barclay trocken, „nur hätte man es bei systematischem Vorgehen zuerst tun sollen, während wir es jetzt nicht mehr prüfen können, weil die vielen Priori incantetem alle vorherigen Zauber verdrängt haben. Wo ist eigentlich Meredith?“

In diesem Moment öffnete sich das Portal, und als hätte sie auf ihr Stichwort gewartet, betrat Meredith Richardson mit leicht gerötetem Gesicht die Eingangshalle.

„Meredith, wo sind Sie gewesen?“, rief Barclay ihr entgegen.

„Ich war nur ein wenig spazieren“, antwortete die Angesprochene beschwingt.

„Keine gute Idee um diese Zeit und unter diesen Umständen“, sagte Barclay mit leichtem Tadel. „Für einen, der muggelstämmige Schüler angreift, könnte auch die Muggelkundelehrerin ein attraktives Ziel sein.“

„Ich hoffe doch, dass ich immer ein attraktives Ziel bin“, erwiderte Richardson schelmisch und mit einem gewissen glücklichen Lächeln, das Barclay in letzter Zeit öfter an ihr bemerkt hatte. Wird wohl verliebt sein…

„So, die Schüler gehen aber jetzt schlafen!“, befahl Whiteman. Die Unbestechlichen trotteten davon.

„Blöde Sache“, brummte Roy, als sie außer Hörweite waren.

„Wieso“, fragte Albus, „wir sind doch entlastet?“

„Schon, aber Barclay weiß jetzt, dass es diese Gruppe gibt, wann und wo sie sich trifft, und dass du fest dazugehörst – das ist ungewöhnlich, weil du so viel jünger bist als wir. Und er hat einen unbestimmten Verdacht gegen uns. Hoffentlich schreibt er keinen Bericht ans Ministerium. In jedem Fall werden wir höllisch aufpassen müssen!“

„Wer Bancroft wohl geschockt hat? Vielleicht wieder einer von den Gryffindors?“, brummte Julian.

„Na, jedenfalls nicht James Potter“, gluckste Roy. „Der Heuler, den er von seiner Mutter bekommen hat, dürfte ihm die Lust an solchen Abenteuern ausgetrieben haben.“

Alle kicherten. Der Heuler, den Ginny – in bester Weasley-Tradition – ihrem Ältesten geschickt hatte, war wahrhaftig nicht von Pappe gewesen und hatte James noch mehr zum Gespött der Schule gemacht, als er es nach seinen Schmierereien ohnehin gewesen war.

„Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendein anderer Gryffindor die Blamage wiederholen möchte“, fügte Orpheus hinzu.

„Aber wer kann es sonst gewesen sein?“, fragte Albus.

„Vielleicht sollte man nicht fragen, wer es war, sondern wer dahintersteckt“, grübelte Orpheus. „Angriffe auf Muggelstämmige passen derart gut ins Konzept des Ministeriums, dass ich den Urheber dort vermuten würde.“

False Flag…“ murmelte Roy.

„Wie?“

„Ein Angriff unter Falscher Flagge, bei dem jemand anderes als der wirkliche Urheber verdächtigt wird, gehört zu den üblichen Schweinereien von Geheimdiensten. Und seit Neuestem haben wir ja einen Geheimdienst…“

„Anderson?“, fragte Albus.

„Jedenfalls kennt der bestimmt Mittel und Wege, die Schutzzauber zu umgehen und in Hogwarts einzudringen, mit oder ohne Hermines Wissen. Sollte der Tagesprophet das Thema morgen hochziehen, können wir fast sicher sein, dass das Ministerium verwickelt ist.“

Roy blieb stehen. Sie waren nur noch wenige Meter vom Gemeinschaftsraum entfernt.

„Zuerst die Schmierereien“, sagte er düster. „Dann dreimal Petrificus. Dann ein Schockzauber…“

„Eine Klimax“, warf Orpheus ein. „Sie steigern sich. Jemand möchte eine Serie konstruieren, und beim nächsten Mal…“ Er hielt inne.

„…könnte es bereits ein Unverzeihlicher sein“, schloss Roy den Gedanken ab.

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