2 – Schlammblut

Mit vollem Mund zu sprechen ist zwar unfein, aber das interessierte an diesem Abend niemanden. Albus gegenüber saß Jennifer Morgan, das rothaarige Mädchen, das er schon aus dem Zug kannte. „Sag mal“, fragte er sie leicht nuschelnd, „bist du eigentlich mit den Weasleys verwandt?“

Sie lachte. „Du wirst es nicht glauben, aber man kann rote Haare haben, ohne eine Weasley zu sein. Meine Mutter ist eine Hexe, vielleicht haben wir irgendeinen gemeinsamen Vorfahren im Mittelalter, aber ich weiß nichts davon.“

Die meisten Gespräche drehten sich freilich um Bernard Wildfellow.

„Das hat es noch nie gegeben. Schlammblüter hatten wir hier schon öfter“, nuschelte Scorpius, „aber sie konnten wenigstens zaubern“, fügte er hinzu, als er Albus‘ finsteren Blick bemerkte, „und sie waren zum Teil hochbegabt, richtig gute Leute“ – er bemühte sich sichtlich, seinen Fauxpas vergessen zu machen und Albus versöhnlich zu stimmen –, „aber wenn der Sprechende Hut einen zurückweist, muss er wohl völlig talentfrei sein.“

„Kann schon sein“, meinte Albus, „er ist mit einer Sondergenehmigung des Ministeriums hier.“

Scorpius redete genauso, wie Albus es befürchtet hatte, aber er wollte sich nicht gleich am ersten Abend streiten. „Ich muss mal eben“, sagte er, stand auf und ließ sich von einem älteren Schüler den Weg zur Toilette erklären.

Auf dem Rückweg begegnete er Rose. Noch bevor er sie ansprechen konnte, zickte sie ihm ein „Viel Spaß in Slytherin!“ entgegen und rauschte mit beleidigter Miene an ihm vorüber. Völlig verdattert blieb Albus stehen. „Rose!“, rief er ihr hinterher, aber sie ignorierte es.

Er sah zum Gryffindor-Tisch. Sein Blick begegnete dem seines Bruders, der ihn anfunkelte und mit einer Kopfbewegung Richtung Slytherin-Tafel sagte: Mach, dass du zu deinen Slytherins kommst!

Als er nachdenklich und traurig er zu seinem Platz zurückschlich, hörte er Roy MacAllister zu Julian sagen: „Das ist typisch Hermie, einen Muggel per Sondererlass nach Hogwarts zu schicken, nur aus Prinzipienreiterei!“

Offenbar sprach er von Tante Hermine.

„Aber damit tut sie dem Jungen doch keinen Gefallen!“, ereiferte sich Julian. „Der kann doch hier unmöglich zurechtkommen.“

„Hermie will niemandem einen Gefallen tun, sie will ihre Pläne und Prinzipien durchsetzen, und das auf Biegen und Brechen. Dieses Jahr ist es ein Muggel, nächstes Jahr zehn, übernächstes Jahr sind es hundert. Und dann müssen nicht sie mit uns zurechtkommen, sondern wir mit ihnen. Spielt Quidditch, solange ihr es noch könnt, demnächst dürft ihr nur noch Fußball spielen, damit sich die Muggel nicht ‚diskriminiert‘ fühlen.“

Albus ging weiter. Was um alles in der Welt hatte der Sprechende Hut sich nur dabei gedacht, ihn in dieses Haus zu schicken, in dem der eine in diesem abfälligen Ton über Hermine sprach und ein anderer von „Schlammblütern“ redete? Seufzend ließ er sich wieder neben Scorpius Malfoy auf den Stuhl sinken.

Albus“, fragte Scorpius, der ihn aufmerksam musterte, „was ist los, du siehst so bedrückt aus?“ Er klang durchaus teilnahmsvoll.

„Ach“, seufzte Albus, „mein eigener Bruder und meine beste Freundin schneiden mich, weil ich jetzt ein Slytherin bin.“

Scorpius nahm seine Hand und drückte sie kurz. „Die haben sich bestimmt nur geärgert, weil wir uns so gefreut haben. Das vergeht auch wieder. Keine Angst, du verlierst deine Freunde nicht wegen Slytherin, aber du wirst hier viele neue dazugewinnen. Schau dich um: Es gibt hier niemanden, der dich nicht mag.“

Albus wusste, dass Scorpius‚ Vater als Junge ein richtig fieser Angeber gewesen war, und er hätte nie für möglich gehalten, dass ein Malfoy so nett und einfühlsam sein konnte. Jedenfalls waren Scorpius‘ Worte Balsam auf Albus‚ Wunden. Es stimmte ja: Die Slytherins, einschließlich Scorpius, mochten ihn offensichtlich, auch wenn er immer noch nicht so recht wusste, wieso.

Ungeachtet seines angenehmen Wesens war Scorpius durch und durch ein Malfoy, und das nicht nur wegen seiner äußeren Ähnlichkeit mit seinem Vater. Er war stolz auf seine Herkunft aus einer uralten Zaubererdynastie, aber dieser Stolz äußerte sich bei ihm nicht in Form von Arroganz und Angeberei, sondern in seiner Neigung zu großen Worten, die aus dem Mund eines Elfjährigen etwas frühreif, ja geradezu komisch klangen. Er sagte Dinge wie: „Wir werden dem Haus Slytherin zur Ehre gereichen.“ Albus musste sein Grinsen unterdrücken, aber ihm war nicht entgangen, dass Scorpius von ihnen beiden schon als „Wir“ sprach, und als Albus sich im Stillen fragte, ob er wohl ein guter Freund werden könne, war die Antwort, die er sich selbst gab, ein wenn auch noch zögerndes „Ja“.

Nachdem das Festmahl beendet war, trat Professor McGonagall wieder ans Rednerpult, um die Lehrer vorzustellen: Neville Longbottom, Hauslehrer von Gryffindor, unterrichtete Kräuterkunde, Rubeus Hagrid Pflege magischer Geschöpfe, der Slytherin-Hauslehrer Charles Whiteman Zaubertränke, Cuthbert Binns, der einzige Geist im Kollegium, Geschichte der Zauberei. An dieser Stelle ging ein leises, aber unüberhörbares Stöhnen durch die Reihen, denn Binns‘ Unterricht war berüchtigt langweilig, aber da er als Geist nicht alterte, würde er wohl niemals pensioniert werden. Ernie Macmillan war Hauslehrer von Hufflepuff. Er unterrichtete Verwandlung. Hauslehrer von Ravenclaw war nach wie vor und ungeachtet seines biblischen Alters der kleinwüchsige Professor Flitwick, Lehrer für Zauberkunst. Lehrer für Wahrsagen war der Zentaur Firenze.

„Zwei Neuzugänge darf ich Ihnen in diesem Jahr vorstellen, die beide freundlicherweise vom Ministerium freigestellt wurden“, fuhr McGonagall fort. „Zum einen Professor Gracchus Barclay aus der Aurorenabteilung für Verteidigung gegen die dunklen Künste, zum anderen Professor Meredith Richardson, die bisher in der Abteilung für Beziehungen zur nichtmagischen Welt tätig war und Muggelkunde unterrichten wird.“

Beide Lehrer standen auf und verbeugten sich, während die Schüler klatschten. Bezeichnenderweise war der Beifall der Gryffindors besonders laut, während sich die Slytherins mehr einen Höflichkeitsapplaus abrangen. Es war bekannt, dass beide Professoren in den achtziger Jahren in Gryffindor ausgebildet worden waren.

Die Schulleiterin beendete ihre Rede mit den üblichen Ermahnungen: Sie schärfte den Schülern ein, dass mutwilliges Zaubern verboten war, Schadenzauber gegen Andere mit dem Ausschluss aus Hogwarts geahndet wurde und kein Schüler ohne Aufforderung und Begleitung durch einen Lehrer den Verbotenen Wald betreten durfte. Zum Schluss wies sie darauf hin, dass die Auswahltrainings für die Quidditchmannschaften der einzelnen Häuser an den kommenden beiden Tagen stattfinden würden.

Nach der Rede sammelten sich zunächst die Erstklässler der vier Häuser in Reihen, um von ihren Vertrauensschülern in die Gemeinschaftsräume geführt zu werden. Der der Slytherins lag tief in den Untergeschossen des Schlosses.

„Der Eingang zu unserem Gemeinschaftsraum“, erklärte Patricia, als sie vor der Tür standen, „wird durch einen Zauber geschützt. Dieses Relief“ – sie wies auf eine riesige Steinplatte, auf der das Relief einer Kobra eingemeißelt war, von der nur der Kopf mit dem markanten Nackenschild deutlich aus der Platte herausragte – „ist ein Körperspeicher, der jeden wiedererkennt, der ihn schon einmal berührt hat. Jeder von euch wird zur magischen Identifikation seine Hand auf den Kopf der Kobra legen. Der Zauber, den ich dann ausübe, weist euch der Schlange gegenüber als Mitglieder des Hauses Slytherin aus, sodass ihr ab dann jederzeit Zutritt habt.“

„Ist das neu?“, fragte Scorpius vorwitzig. „Mein Vater hat mir nichts davon erzählt.“

„Diese Platte mitsamt dem Relief ist uralt“, erwiderte Patricia. „Manche behaupten, sie sei noch von Salazar Slytherin persönlich angefertigt und verzaubert worden. Sie bildete bis in die vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts den Eingang zu unseren Räumen und wurde dann im Zuge eines Umbaus entfernt. Nach der Schlacht um Hogwarts wurde sie in den Überresten des Raums der Wünsche unversehrt wiedergefunden und wieder hier eingebaut. Dein Vater konnte sie also nicht kennen. – Albus“, sagte sie und lächelte ihm zu, „du darfst anfangen“.

Ihm war etwas flau im Magen, der Schlangenkopf sah ziemlich unheimlich aus. Trotzdem gehorchte er, ging nach vorn, legte seine Hand auf den Kopf – und zuckte zusammen:

„Guten Abend, willkommen in Slytherin.“ Die Stimme schien von der Schlange auszugehen. Albus sah sich erschrocken um, aber Patricia beruhigte ihn:

„Das Zischen ist normal, schließlich ist es eine Schlange, wenn auch eine verzauberte.“

Albus war verwirrt, er war sicher, eine Stimme und kein Zischen gehört zu haben. Da aber niemand sonst verwundert wirkte, nickte er nur und legte seine Hand, die schon zurückgezuckt war, wieder fest auf den Schlangenkopf, woraufhin Patricia ihren Zauberstab zückte, ihn senkrecht auf seinen Handrücken stellte und konzentriert die Augen schloss. Nach einem Augenblick wanden sich kleine, leuchtend blaue Schlangen aus der Spitze des Stabs und krochen zunächst über seine Hand, um schließlich im Rachen der Kobra zu verschwinden. Er sah zu Patricia, sie nickte ihm zu, er drückte gegen den Kopf, und die Tür schwang auf.

„Schließ die Tür hinter dir, wenn du drin bist, die anderen müssen auch noch identifiziert werden“, ermahnte ihn Patricia, und Albus tat, wie geheißen.

Der Gemeinschaftsraum war verlassen, da die älteren Schüler noch in der Großen Halle saßen. Sein Vater hatte sich schon einmal hier eingeschlichen, daher wusste er, dass der Slytherin-Gemeinschaftsraum unter dem Wasserspiegel des Sees lag.

Bevor er den Raum näher in Augenschein nehmen konnte, öffnete sich die Tür hinter ihm, und Scorpius trat ein. Auch er war noch nie hier gewesen und sah sich interessiert um. Der riesige, langestreckte Raum stand voller Clubsessel und Sofas mit Beistelltischen, entlang der Wände waren Bücherregale aufgestellt, in regelmäßigen Abständen unterbrochen von kleinen Schreibtischen, und einige hundert schwebende magische Kerzen gleich denen, die sie in der Großen Halle gesehen hatten, tauchten den Raum in ein anheimelndes weiches Licht.

„Die grüne Beleuchtung gibt es auch nicht mehr“, meinte Scorpius, „sehr schön, mein Vater sagt, da sah man immer ein bisschen krank aus.“

Die Abstände zwischen den einzelnen Schülern, die nacheinander hereinkamen, wurden jetzt kürzer, da man ihnen das Verfahren nicht mehr erklären musste, und bald waren alle versammelt. Roy und Patricia traten als letzte ein.

„In einer Viertelstunde geht es in die Heia“, rief Roy. „Bis dahin könnt ihr euch noch ein wenig umsehen.“

Einige der Schüler machten es sich auf den Sesseln bequem, andere blickten sich neugierig um, wieder andere standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich zunächst leise, dann lebhafter. Albus, dem nicht nach einem Gespräch zumute war, ging zu einem der Regale, um sich die Buchtitel anzusehen. Sie schienen ohne erkennbares System kunterbunt nebeneinander zu stehen: Die unvermeidliche „Geschichte Hogwarts‚“ in Prachtausgabe stand direkt neben „Schminktipps für junge Hexen“ und einigen Aurorenkrimis.

„Die gesammelten Werke Lord Voldemorts haben wir natürlich mit Rücksicht auf dich entfernt“, raunte eine Stimme ihm zu. Sie gehörte Roy, der ihm grinsend zuzwinkerte. Albus musste lachen:

„Ist ja gut, ich hab’s begriffen. Du musst mich nicht ständig damit aufziehen.“ Trotzdem fand er Roys Frotzeleien irgendwie angenehmer als die von James, vermutlich weil Roy ihn zwar auf den Arm nehmen, aber nicht wirklich ärgern wollte. „Wenn ich es mir überlege, ist es vielleicht ganz gut, in einem Haus zu sein, in dem man keinen großen Bruder hat.“

„Hat bestimmt Vorteile.“ Roy sah unvermittelt ein wenig bekümmert aus. Bevor Albus jedoch etwas sagen konnte, kam Hor-Hor – Horatios Spitzname hatte sich im Nu eingebürgert – aufgeregt zu Roy geeilt: „Äh, Herr Vertrauensschüler, äh, Sir…“ Offenbar war er unsicher, wie man einen solchen Würdenträger anzusprechen hatte.

„Heb dir den ‚Sir‘ für die Profs auf“, sagte Roy, „und nenn mich beim Vor- oder Nachnamen, wie du willst. Ich heiße Roy MacAllister.“

„Horatio Horn“, erwiderte Hor-Hor artig mit einer angedeuteten Verbeugung, zeigte dann aber sofort anklagend auf einen seiner Mitschüler, der einige Meter entfernt stand. „Der Dünne da hat ‚Schlammblut‘ gesagt.“ Es war Scorpius Malfoy.

Roys Miene verdüsterte sich schlagartig: „Und der mit den Segelohren hat gepetzt“, knurrte er ruppig, wandte sich ab und wollte ihn stehenlassen. Wie aus dem Boden gewachsen stand nun aber Patricia vor ihm:

„Findest du nicht, dass du diesem Vorgang nachgehen solltest?“, fragte sie kühl.

Roy stutzte einen Moment, dann sagte er: „Nö.“

Er versuchte, an ihr vorbeizugehen, doch sie verstellte ihm den Weg. „Wenn du es nicht tust, tue ich es.“ Sie klang giftig.

Roy sah sie einen Moment angewidert an, dann drehte er sich mit einem leisen Seufzen um und ging vorbei an Hor-Hor, der selbstgefällig lächelte, zu Malfoy, dessen Haltung sich bei seinem Nahen straffte. Er hielt den Kopf kerzengerade und sah Roy fest ins Gesicht. Er tat wirklich sein Bestes, Haltung zu bewahren, aber man konnte seine Knie zittern sehen.

„Also, Malfoy?“, fragte Roy, ohne übertriebenes Engagement vorzutäuschen. „Stimmt es, dass du jemanden ‚Schlammblut‘ genannt hast? Wenn ja, wen, warum und in welchem Zusammenhang?“

„Ich habe niemanden so genannt, und ich wollte auch bestimmt niemanden beleidigen. Ich habe nur gesagt, dass ich froh bin, dass es in Slytherin keine – na ja – Schlammblüter gibt.“

Roy sah ihn einen Augenblick lang nachdenklich an und sagte dann, nun doch mit Nachdruck:

Scorpius Malfoy, du bist hier auf einer der weltweit angesehensten Schulen für Hexerei und Zauberei. Hier drückt man sich nicht derart ordinär aus. Sag, was du denkst, aber sag es mit treffenden und angemessenen Worten. Wenn du von Muggelstämmigen sprichst, dann nenn sie auch so. Übrigens gibt es Muggelstämmige sehr wohl auch in Slytherin. Ich selbst bin einer davon.“

Und während Scorpius dunkelrot anlief, ging MacAllister schnellen Schrittes davon und tat, als müsse er ganz eilig zu den Jungenschlafsälen. Offenbar versuchte er, Patricia zu entkommen, die sich an seine Fersen heftete, ihn kurz vor dem Aufgang zum Jungenschlafsaal einholte und am Arm packte:

„Dir ist klar, dass du das melden musst?“, fragte sie spitz.

„Ach ja?“

„Tu nicht so. Du kennst den Erlass des Zaubereiministeriums zur Bekämpfung diskriminierender Sprache in öffentlichen Einrichtungen.“

„Ich habe Malfoy zurechtgewiesen, das ist mehr als genug für eine solche Lappalie.“

„In dem Erlass“, fuhr Patricia ungerührt fort, „ist eine Reihe ausdrücklich verbotener und meldepflichtiger Ausdrücke aufgeführt, und ‚Schlammblut‘ steht ganz oben auf der Liste.“

„O ja“, antwortete Roy mit grimmiger Ironie, „ich kenne den Erlass unserer wunderbaren Zaubereiministerin, er war eine von Hermies ersten Amtshandlungen.“

„Dann weißt du auch, dass er auch für Hogwarts gilt. Hogwarts wird sogar ausdrücklich genannt.“

„Natürlich, denn sonst wäre er in Hogwarts automatisch ungültig gewesen. Hermie hat sich damit den zweifelhaften Ruhm erworben, als erster Zaubereiminister seit Thicknesse direkt in die Angelegenheiten von Hogwarts hineinzuregieren. Wenn du mich fragst, hat sie damit ihre Kompetenzen weit überschritten.“

„Dich fragt aber keiner, weil du darüber nicht zu befinden hast. Der Erlass regelt ausdrücklich, dass solche Vorfälle der Schulleitung gemeldet werden müssen.“

„Die dann verpflichtet ist, umgehend das Ministerium zu informieren. Und genau deshalb melde ich es nicht.“

„Roy! Was soll man von uns denken, wenn das herauskommt?“

„Man soll denken, dass wir keine Denunzianten sind.“

„Denkt man aber nicht! Man wird sagen, dass Todesser-Gedankengut in Slytherin immer noch geduldet und gedeckt wird!“

„Erstens“, knurrte Roy, „ist ein Schimpfwort, auch wenn es sich gegen muggelstämmige Zauberer richtet, noch kein Todesser-Gedankengut. Zweitens kann man das gedankenlose Geplapper eines Elfjährigen schlecht ‚Gedankengut‘ nennen. Und drittens bin ich nicht bereit, über die Stöckchen von Leuten zu springen, die uns schon gewohnheitsmäßig als ‚Todesser‘ beschimpfen, aber vor Sensibilität kaum laufen können, wenn irgendein dummer Junge ‚Schlammblut‘ sagt.“

„Verstehst du denn nicht? Unsere Kollegen aus den anderen Häusern können vielleicht ein Auge zudrücken, aber wir nicht. An unserem Haus klebt immer noch ein Makel. Slytherin muss sich reinwaschen!“

„Wovon?“ Roy wurde laut. „Von der Schande, tausend Jahre lang die besten Zauberer der Welt hervorgebracht zu haben, ohne die es die Zaubererwelt vermutlich gar nicht mehr gäbe?“

„Nein, aber für das andere. Slytherin muss sich rehabilitieren.“

„Auf Kosten eines kleinen Jungen?“

Patricia, die merkte, dass sie so nicht weiterkam, zog ein anderes Register:

„Roy“, gurrte sie, „sei doch nicht so ein Dickkopf.“ Sie sah ihn aus ihren strahlend blauen Augen an und rückte ihm ganz nahe, bis ihr Gesicht von seinem nur noch Zentimeter entfernt war und er ihren Duft riechen konnte.

Albus, der beiden so unauffällig wie möglich gefolgt war und ihrem Gespräch gespannt gelauscht hatte, sah Roy erröten. Er schien tatsächlich zu schwanken. Ja, dachte Albus, sie muss wirklich Veela-Blut haben.

Dann riss Roy sich zusammen, trat entschlossen einen Schritt zurück und funkelte sie noch grimmiger an als vorher. Offenbar ärgerte er sich darüber, einen Augenblick lang Schwäche gezeigt zu haben. „Nein!“

„Wenn du es nicht meldest“, zischte Patricia und knipste ihren Charme so abrupt ab, wie sie ihn zuvor eingeschaltet hatte, „tue ich es. Dein dummer Trotz ändert also überhaupt nichts.“

„Er ändert, dass ich mich nicht vor meinem Spiegelbild schämen muss.“

Er hatte genug von diesem Gespräch und rief die Jungs unter den Erstklässlern zusammen, um sie zu ihrem Schlafsaal zu führen, sodass Patricia nichts Anderes übrigblieb, als das gleiche mit den Mädchen zu machen.

„Jeder Jahrgang hat seinen eigenen Schlafsaal, den er während der gesamten Hogwarts-Zeit behält“, erläuterte er, während er seine Schützlinge die kleine Treppe zum Jungenschlaftrakt hinaufführte. „In eurem Saal war also letztes Jahr noch die Siebte untergebracht. Jeder findet sein Bett dort, wo sein Gepäck steht. Ihr könnt tauschen, wenn ihr wollt, aber nicht mehr heute Abend.“

Albus betrat als einer der ersten den Saal, in dessen Ausstattung naturgemäß die Farben Grün und Silber dominierten. Jeder Schüler hatte ein Himmelbett, dessen grüne Vorhänge noch offen waren, aber auf allen vier Seiten zugezogen werden konnten und mit der silbernen Slytherin-Schlange geschmückt waren.

Er fand seinen Koffer sofort, zog Schlafanzug und Waschzeug heraus, machte sich schnell bettfertig und begann schon, seine Vorhänge zuzuziehen, während einige seiner Kameraden noch zum Waschraum trotteten und Roy, der am ersten Abend dabeibleiben musste, damit die Erstklässler sich jederzeit mit Fragen an ihn wenden konnten, sie mit stoischer Miene beaufsichtigte. Irgendwie cool, so ein Himmelbett, fand Albus, wenn die Vorhänge zu sind und man im Handumdrehen sein eigenes Reich hat.

Das Bett nebenan gehörte Scorpius. „Äh, Roy?“, hörte Albus ihn schüchtern fragen.

„Ja, was gibt’s?“

„Bist du sehr sauer auf mich?“

„Nein, wieso?“, fragte Roy und klang verdutzt.

„Na ja, wegen des Ausdrucks vorhin.“

„Lass gut sein.“

„Du bist nicht beleidigt?“

„Nein. Du hast niemanden beleidigen wollen, und bei der Beleidigung kommt es auf die Absicht an. Im Übrigen musste ich mir früher an der Muggelschule noch ganz andere Sachen anhören, ich bin also abgehärtet.“

Eine kleine Pause trat ein.

„War trotzdem irgendwie blöd von mir zu sagen, ich will keine – Muggelstämmigen um mich haben, was?“, fragte Malfoy.

„Irgendwie schon“, bestätigte Roy. Nach einem Moment fügte er allerdings hinzu: „Es war aber nicht so blöd, wie es sich anhört. Weißt du, ich bin froh, dass ich hier sein kann, aber die magische Welt könnte auch ohne muggelstämmige Zauberer ganz gut existieren. Jeden Muggel mit irgendwelchen magischen Fähigkeiten oder sogar ohne solche Fähigkeiten in die magische Welt hereinzulassen, wäre dagegen das Ende der Zaubererwelt. Die Aufnahme von Muggel-Zauberern muss daher die Ausnahme von der Regel sein und bleiben. Du hattest also ein klein bisschen Recht im Unrecht. Oder umgekehrt.“

„Kann man ein bisschen Recht haben?“, fragte Scorpius verwundert. „Mein Vater sagt immer, etwas ist entweder richtig oder falsch, und dazwischen gibt es nichts.“

„Meistens stimmt das ja auch aber…“

Er schien nach Worten zu suchen. Albus hörte die letzten Schüler aus dem Waschraum kommen und in ihren Betten verschwinden.

„Nehmen wir an,“ sagte Roy, „du würdest im Wald auf ein Tier treffen, von dem du nicht weißt, ob es gefährlich ist oder nicht. Was wäre klüger: Es für gefährlich oder für ungefährlich zu halten?“

„Es für gefährlich zu halten“, antwortete Scorpius spontan.

„Ja, aber 99 von hundert Tieren im Wald sind doch ganz ungefährlich.“

„Sicher, aber wenn ich es für gefährlich halte, obwohl es das nicht ist, laufe ich nur einmal umsonst davon“, sagte Scorpius. „Wenn ich es aber für ungefährlich halte, und es ist in Wirklichkeit gefährlich, werde ich gefressen.“

„Genau. Du würdest in 99 Fällen danebenliegen, hättest aber in diesem Irrtum trotzdem mehr recht als einer, der in diesen 99 Fällen richtig lag. Das meinte ich mit ‚Recht im Unrecht haben‘. So, jetzt haben wir aber genug philosophiert für die vorgerückte Stunde. Schlaf jetzt schön.“

„Noch etwas, bitte!“ Scorpius‚ Stimme zitterte, als er leise fragte: „Stimmt es, dass das ans Ministerium gemeldet wird?“

Roy seufzte. „Das ist zumindest die Vorschrift.“

„Wenn mein Vater das hört, reißt er mir den Kopf ab! Er sagt immer, wenn wir so etwas sagen, fällt es auf ihn zurück, und er hätte es schon schwer genug im Ministerium, weil die Ministerin ihn von früher her nicht besonders mag.“

Dazu hat er ja auch einiges beigetragen, dachte Albus.

„Nicht alles, was ans Ministerium geht, landet auf dem Schreibtisch deines Vaters. Es wird wohl bei irgendeinem Sachbearbeiter landen und dann abgeheftet“, versuchte Roy ihn zu beruhigen.

„Ja, aber vielleicht liest die Ministerin es ja doch – wo es ihr doch so wichtig ist, sonst hätte sie Hogwarts doch nicht extra erwähnt? Du selber sagst doch, dass das ganz ungewöhnlich ist. Und dann hält sie es meinem Vater unter die Nase. Außerdem sagt mein Vater immer, das Ministerium vergisst nie etwas, weil alles in den Akten steht. Was ist, wenn ich einmal dort arbeiten will, und dann zieht irgendeiner diese Akte raus?“ Wirkliche Furcht sprach aus ihm.

Eine Pause entstand. Roy schien es schwer zu fallen, eine Antwort zu finden, die zugleich ehrlich und beruhigend war.

„Du bist elf Jahre alt, bis du im Ministerium arbeitest, vergeht noch sehr viel Zeit. Akten werden aufbewahrt, ja, aber die meisten verstauben im Keller. Und dann vergiss nicht: Auch im Ministerium gibt es Slytherins. Sie werden dich nicht hängenlassen.“

„Ich weiß nicht“, sagte Scorpius leise. „Ich glaube, Patricia würde mich schon hängenlassen.“

„Aber die anderen nicht.“

„Du würdest mich nicht im Stich lassen, stimmt’s?“

„Nein“, bestätigte Roy. „Dich nicht, und auch keinen anderen von euch. – Und jetzt mach dir keine Gedanken mehr um etwas, was wahrscheinlich nie wieder eine Rolle spielen wird. Gute Nacht!“

Albus hörte Roy zur Tür gehen und dann noch einmal gedämpft, um die bereits Schlafenden nicht zu wecken, in den Raum sagen: „Gute Nacht allerseits!“

„Gute Nacht“, antworteten zwei oder drei Stimmen. Dann zog Roy die Tür hinter sich zu.

Im Gegensatz zu den anderen Erstklässlern hatte Albus den halben Nachmittag im Zug verschlafen, und während die anderen sofort einschliefen, war seine Aufregung immer noch größer als seine Müdigkeit. Es war vermutlich der ereignisreichste und verwirrendste Tag seit seiner Geburt gewesen. Zuerst dieser Alptraum im Zug, der ihm selbst jetzt noch eine Gänsehaut bereitete. Dann der Schock, tatsächlich nach Slytherin zu kommen. Dann die Überraschung, dass die Slytherins sich darüber freuten, und dies fast ein bisschen zu sehr. Dann die Bekanntschaft mit Roy, der sich mit seinen Todesserwitzen zwar über Albus‘ Vorurteile über Slytherin lustig machte, dessen Ansichten aber trotzdem irgendwie – seltsam waren. Ein bisschen war Roy ihm sogar unheimlich, auch wenn Albus sich eingestehen musste, dass er ihn andererseits auch mochte. Aber die kalte Verachtung wiederum, mit der er Tante Hermine „Hermie“ genannt hatte, hatte ihm einen Stich versetzt.

Albus liebte und vergötterte Hermine, so lange er zurückdenken konnte. Schon als Kleinkind hatte er sich gern auf ihrem Schoß eingekuschelt. Sie war diejenige, zu der er ging, wenn er etwas angestellt hatte, was er sich nicht traute seinen Eltern zu beichten, und dann ging sie mit ihm zu ihnen und gab ihm dadurch den Mut, seine kleinen Schandtaten zu gestehen. Sie hatte immer Rat und Trost für ihn gehabt, wenn er ihn brauchte. Sie war seine beste Freundin und der klügste Mensch, den Albus kannte. Kein Wunder, dass sie Ministerin war, wer sollte es denn sonst sein? Roy aber sprach von ihr wie von stinkendem Schleim.

Dabei kannte er sie doch gar nicht, höchstens ihre Erlasse, und die konnten – so viel wusste er – durchaus von irgendeinem Mitarbeiter stammen. Dieser Petz-Erlass, über den Roy sich so aufregte, war bestimmt nicht von ihr. Bestimmt war es Onkel Percy gewesen, der ihr im Ministerium zuarbeitete. Dem sah so etwas ähnlich!

Bis heute Abend war er felsenfest überzeugt gewesen, dass die Gryffindors die Guten und die Slytherins die Bösen waren. Jetzt war er selber ein Slytherin. War es vielleicht genau umgekehrt, und die Gryffindors waren die Bösen? Oder gab es in Slytherin etwas Gutes im Bösen, so wie Roy ja auch fand, man könne Recht im Unrecht haben? Oder gab es gar nicht „die Bösen“, höchstens hüben und drüben einzelne Böse? Geht es vielleicht gar nicht um Gut oder Böse, sondern um Wir oder Sie, und jede Gruppe verteufelt die andere nur deshalb, weil sie eben die andere ist? Albus konnte nicht schlafen, seine Gedanken fuhren mit ihm Achterbahn.

Tante Hermine hatte ihm einmal den Rat gegeben: Wenn ich verwirrt bin und meine Gedanken sich sinnlos im Kreis drehen, greife ich zur Feder und schreibe sie auf, dann sortieren sie sich von selbst. Schreiben! Albus fuhr im Bett auf. Er musste ja noch seinen Eltern schreiben, sonst würden sie es von James erfahren. Das durfte nicht sein! Seine Eule musste unbedingt früher zu Hause eintreffen als die seines Bruders. Er musste ihnen jetzt schreiben, auf der Stelle, und morgen ganz früh in die Eulerei gehen.

Er hängte seinen Oberkörper aus dem Bett und fingerte seinen Zauberstab, einen Bogen Pergament, ein Buch als Schreibunterlage und – einen Kugelschreiber aus seinem Koffer. Den Kugelschreiber hatte er von Opa Arthur geschenkt bekommen. Manchmal waren diese Muggelsachen ja wirklich praktisch, mit einem Kugelschreiber lief er jedenfalls nicht Gefahr, sein Bett mit Tinte zu beklecksen. Er legte die ganze Beute auf seinen Schoß, hob den Zauberstab und flüsterte: „Lumos.“

An der Spitze seines Zauberstabs erglomm ein schwacher Schimmer, gerade richtig zum Schreiben. Albus hielt inne. Zum ersten Mal hatte er in Hogwarts gezaubert.

 

Liebe Mama, lieber Papa,

es ist wirklich passiert: Der Sprechende Hut hat mich nach Slytherin geschickt. Ich hoffe, ihr seid nicht zu sehr geschockt. Ich war es zuerst schon, weil ich dachte, hier sitzen lauter Schwarzmagier und Todesser. Aber eigentlich sind sie sehr nett, sie haben sich jedenfalls sehr gefreut, dass ich zu ihnen kam. Sie haben sogar derart gejubelt, dass es mir schon fast peinlich war. Schlimm ist nur, dass den ganzen Abend keiner der Gryffindors mehr mit mir geredet hat, nicht einmal James und Rose. Ich hoffe, die kriegen sich wieder ein.

Scorpius Malfoy ist auch hier (natürlich!), und er hat sich gleich in die Nesseln gesetzt, weil er Schlammblut gesagt hat, allerdings zu niemand Bestimmtem. Die Vertrauensschüler haben sich gezankt, ob sie das melden müssen. Der Junge (Roy MacAllister) sagte nein, das Mädchen (Patricia Higrave) sagte ja. Es ist nämlich verboten, so etwas zu sagen, und muss sogar ans Ministerium gemeldet werden, weil Tante Hermine es so bestimmt hat. Deswegen wollte Roy es nicht. Ich glaube, er mag Tante Hermine nicht besonders, weil er solche Erlasse schlecht findet. Außerdem kennt er sie ja gar nicht persönlich, für ihn ist sie nur eine abgehobene Politikerin in London, und auf die kann man leicht sauer sein. Sonst ist er eigentlich ein cooler Typ.

Stellt euch vor, der Sprechende Hut hat sich bei einem Schüler geweigert, ihn einem Haus zuzuweisen, er wollte ihn in die Muggelwelt zurückschicken. Er ist der Sohn des Muggel-Premierministers, Bernie Wildfellow heißt er. Ich glaube, der Hut wollte ihn nicht, weil er nicht zaubern kann. Jedenfalls hat er mir unterwegs erzählt, dass er mit einer Sondergenehmigung von Tante Hermine nach Hogwarts geschickt wurde und ohne ihre Zauberer gar nicht durch die Absperrung zum Gleis gekommen wäre. Das müsste aber doch jeder Zauberer schaffen, auch als Kind, oder? Professor McGonagall hat ihn dann zu den Hufflepuffs geschickt.

Noch etwas: In den Eingang zum Slytherin-Gemeinschaftsraum ist eine verzauberte Kobra eingemeißelt, und ich könnte schwören, dass sie etwas zu mir gesagt hat. Die anderen haben sie aber nur zischen gehört. Papa, du bist doch Parselmund. Bin ich das vielleicht auch?

Es ist jetzt sehr spät, ich schreibe euch so bald wie möglich wieder.

Alles Liebe

Euer Albus

 

Das Schreiben hatte ihn ermüdet und ihm gutgetan, es war ein bisschen so, als wären seine Eltern bei ihm. Er verstaute den Brief und die Schreibutensilien wieder in seinem Koffer, legte sich hin und schlief sofort ein.

 

***

 

Noch ein anderer Slytherin konnte in dieser Nacht nur schwer einschlafen, nämlich Roy. Nachdem er den Schlafsaal der Kleinen verlassen hatte, verzichtete er darauf, in den Gemeinschaftsraum zu gehen, wo die anderen älteren Schüler, die inzwischen nachgekommen waren, bei einem Krug Butterbier den Abend ausklingen ließen, und legte sich sofort ins Bett.

Er war fest entschlossen, den Tag abzuhaken, aber wann immer er die Augen schloss, klang Scorpius Malfoys zitternde Stimme ihm im Ohr:

Stimmt es, dass das ans Ministerium gemeldet wird?

Roy wälzte sich herum.

So weit ist es gekommen, dass schon die Elfjährigen Angst haben, ihr Leben zu verpfuschen, wenn sie etwas sagen, was dieser Frau nicht in den Kram passt. So weit ist es gekommen, dass tausend Jahre Selbstbestimmung, auf die Hogwarts immer so stolz war, mit einem Federstrich beseitigt werden, weil die Ministerin glaubt, sie hätte anderer Leute Kinder zu erziehen. Es wird nicht bei diesem Erlass bleiben, das wäre ganz unlogisch. Zuerst bricht sie den Kindern das Rückgrat – der logische erste Schritt. Dann wird sie ihnen ein Korsett anbieten, von dem sie ein Leben lang abhängig sind. Und wozu? Um Todesser zu bekämpfen?

Roy schnaubte.

Eine Regierung, die wirkliche Feinde hat, richtet Kanonen nicht auf Spatzen. Die spart ihre Munition. Ein Ministerium, das Kinder einschüchtert, hat viel mehr und vor allem etwas völlig Anderes im Sinn.

Er wälzte sich wieder herum.

Hogwarts ist der Ort, an dem praktisch alle Zauberer und Hexen Großbritanniens erzogen werden. Wenn das Ministerium sich in Hogwarts einmischt, dann heißt das: Sie sollen anders erzogen werden als bisher, anders denken als ihre Vorfahren. Was bisher galt, soll nicht mehr gelten. Aber das, was bisher galt – das ist genau das, was die magische Welt seit tausend Jahren am Leben hält. Garantiert wird Hermies famose Liste immer länger werden, und dabei steht im Erlass ausdrücklich, dass sie nicht vollständig und abschließend ist. Alles, was man als „diskriminierend“ auffassen könnte, ist in Wirklichkeit jetzt schon verboten, auch wenn es nicht auf der Liste steht. Es ist nur eine Frage der Zeit und der bösartigen Phantasie, alles Mögliche als diskriminierend zu werten. Niemand wird sich nicht mehr trauen zu sagen, was er denkt, und wenn es hundertmal die Wahrheit ist, weil irgendein Ministeriumsjurist einen Dreh finden wird, es als „diskriminierend“ und als „Hassrede“ hinzustellen. Man wird also lieber ganz schweigen. Warum will sie Schweigen erzwingen? Auf Hermies Liste stehen fast nur Ausdrücke, die sich gegen Muggel und muggelstämmige Zauberer richten. Warum müssen die durch ein regelrechtes Umerziehungsprogramm geschützt werden? Warum dieser Aufwand?

Roy setzte sich auf.

Weil wir sehr viel mehr mit ihnen zu tun bekommen sollen als bisher. Hermie hat in ihrem ersten Jahr als Ministerin viele Andeutungen gemacht, und alle laufen auf dasselbe hinaus wie dieser Erlass: Die magische Welt soll mit der Muggelwelt verschmolzen werden. Das heißt: Sie soll zerstört werden.

Roy traute es der Ministerin ohne Weiteres zu. Er stammte wie sie aus der Muggelwelt, aber anders als sie kam er nicht aus begütertem Hause und behüteten Verhältnissen. Da, wo er herkam, fuhr man seine Töchter nicht nachmittags zum Klavierunterricht und finanzierte seinen Kindern keine sündhaft teuren Schulen und Universitäten. Er kam aus der Trostlosigkeit und der Gewalt der Armenviertel. Für ihn war Hogwarts die Rettung vor einem Leben gewesen, das er sonst vielleicht überwiegend im Gefängnis verbracht hätte. Sie dagegen hätte bei den Muggeln eine ebenso glänzende Karriere gemacht wie in der Zaubererwelt.

Sie braucht die magische Welt nicht. Sie verliert nichts, wenn sie zerbricht. Im Gegenteil, sie ist dann ganz oben. Ganz oben in Muggelwelt, aus der sie kommt und die immer ihre wirkliche Heimat bleiben wird. Dann trinkt sie Tee mit der Queen. Sie liebt die Zaubererwelt nicht, sie benutzt sie nur. Und weil diese Welt nicht so will wie sie, greift sie sie an und führt den Angriff gegen ihren schwächsten Punkt: gegen ihre Kinder!

Roy spürte Tränen der Wut seine Augen füllen. Er, dessen Familie allein aus seiner Mutter bestand, hatte in der magischen Welt seine Heimat, in Hogwarts sein Zuhause, in den Slytherins seine Familie gefunden. In ihnen, und gerade in den jüngeren, sah er Brüder und Schwestern, und sie spürten es, spürten es durch seine schroffe Art hindurch. Deshalb war er Vertrauensschüler. An seinen Slytherins durfte niemand, niemand sich vergreifen, schon gar nicht dieses Monstrum von einer Ministerin, diese Verräterin, dieses, dieses – in ohnmächtigem Zorn ballte er beide Fäuste und zischte es in die Dunkelheit – „dieses Schlammblut!“

 

Ein Gedanke zu „2 – Schlammblut

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