18 – Bei Potters zum Tee

 

Am Sonntagnachmittag um kurz vor drei warteten Roy und Albus in dem Korridor vor McGonagalls Büro, durch dessen Kamin sie zu den Potters reisen wollten, auf Julian.

„Wo er nur bleibt?“, wunderte sich Albus.

„Er sagte, er wolle noch etwas Wichtiges holen, was auch immer es sein mag – ach, da kommt er ja.“

Julian eilte mit schnellen Schritten auf sie zu. Unter seinem Umhang verbarg er etwas, das ziemlich groß, aber nicht schwer zu sein schien. Als er bei den beiden ankam, zog er einen riesigen Blumenstrauß hervor.

„Oh, peinlich, daran hatte ich gar nicht gedacht“, meinte Roy verlegen.

„War mir klar“, grinste Julian. „Macht aber nichts, der Strauß ist natürlich von uns beiden.“

Julians Blumen waren überirdisch schön und ähnelten keiner Blumenart, die Roy oder Albus je gesehen hätten. Beide versenkten sich einen Moment in den Anblick dieser überwältigenden Pracht. Schließlich riss Roy sich davon los:

„Wo hast du die denn her?“, fragte er bewundernd.

„Ach, Helen Witherspoon hat mir einen kleinen Blumenzauber gezeigt, mit dem du ganz normale Wiesenblumen dazu kriegst, die herrlichsten Formen anzunehmen.“

„Ich verstehe“, meinte Roy.

Helen, eine Ravenclaw, war ein As in Kräuterkunde und Longbottoms Lieblingsschülerin. Sie war ein wenig unscheinbar, aber wie die meisten Mädchen in Hogwarts (sogar die Gryffindors, diese natürlich nur hinter vorgehaltener Hand) schwärmte sie für Julian.

„Und vermutlich hast du ihrer Hilfsbereitschaft mit deinen blauen Strahlern kräftig nachgeholfen.“

In der Tat verfügte Julian über die Gabe, seine ohnehin beeindruckenden blauen Augen wie Scheinwerfer leuchten zu lassen, wenn er besonders charmant sein wollte.

„Nun ja“, grinste Julian, „wenn man’s kann…“

Er betätigte die Büroglocke, und kurz darauf standen sie im Büro von Professor McGonagall und bedankten sich dafür, McGonagalls Kamin für die Reise benutzen zu dürfen. Albus stieg als erster in die grünen Flammen. Die beiden Großen ließen ihm eine Minute Zeit, seine Eltern zu begrüßen und sie beide anzukündigen, dann stiegen auch sie in den Kamin und verschwanden. McGonagall, die den Blumenstrauß gesehen hatte, schüttelte lächelnd den Kopf.

„Das sind meine Freunde Roy MacAllister und Julian Lestrange“, stellte Albus die beiden mit einem gewissen Stolz seiner Mutter vor, als sie aus dem Kamin der Potters stiegen. Beide reichten ihr mit einer leichten Verbeugung und einer höflichen Begrüßung die Hand, dann zog Julian den Blumenstrauß aus dem Umhang.

„Ach, sind die schön!“ Ginny war ganz entzückt. „Wo haben Sie die denn her?“

„Selbstgezaubert, Madam“, erwiderte Julian und ließ seine Augen ein wenig leuchten. „Wir dachten, für Sie sollte es etwas Besonderes sein.“

Roy warf Julian einen zweifelnden Blick zu. Trägst du nicht ein bisschen dick auf? Aber Ginny, die immer noch hingerissen war, lächelte durchaus geschmeichelt.

„Dann hole ich mal eben eine Vase. Nehmen Sie schon einmal Platz, mein Mann kommt auch gleich. Ach ja, und ich heiße Ginny. Meine Güte, was für herrliche Blumen…“

Während sie entschwand, Albus seinem Vater entgegeneilte und sie beide es sich auf dem Sofa bequem machten, raunte Roy seinem Freund nicht ohne Neid zu:

„Gibt es eigentlich irgendeine Frau, die du nicht um den Finger wickelst?“

„Gibt es!“, flüsterte Julian zurück. „McGonagall.“ Beide glucksten. „Und natürlich Arabella“, fügte Julian süffisant hinzu, während Roy leicht errötete.

Harry, Albus und Ginny kamen gleichzeitig wieder ins Wohnzimmer. Ginny dirigierte mit ihrem Zauberstab die Vase, ein Teeservice und eine Kuchenplatte mit dem Geschick eines altgedienten Jongleurs so, dass alles unfallfrei seinen Platz fand. Die Teekanne füllte selbständig die Tassen, während Albus Julian und Harry einander vorstellte.

Als sie saßen, herrschte einen Moment lang Schweigen, das schließlich von Harry unterbrochen wurde:

„Sagen Sie“, richtete er die Frage an Roy und Julian gleichzeitig, „wie kommt es eigentlich, dass Bernard Wildfellow jetzt ein Slytherin ist – wo er doch mit den Slytherins… Probleme gehabt haben soll?“

Roy und Julian schauten verblüfft drein. „Was für Probleme?“

„Na ja“, sagte Harry irritiert, „er soll gemobbt worden sein?“

„Aber doch nicht von uns“, protestierte Roy, „sondern von den Hufflepuffs. Hat man ihnen etwas Anderes erzählt?“

„Also, so ganz genau hat man es mir nicht erzählt.“

Hermine hatte nicht ausdrücklich die Slytherins beschuldigt, aber Bernies Misshandlung als Beispiel für die immer noch grassierende Muggelfeindlichkeit in Hogwarts angeführt. Es klang, als seien die Slytherins gemeint, aber direkt behauptet hatte sie es nicht.

Roy warf Albus nun einen verwunderten Blick zu: „Hast du deinen Eltern nicht erzählt, wie es war?“

„Nein“, antwortete Albus und wurde etwas rot. „Ich… ich wollte nicht angeben.“

„Na, dann werde ich einmal ein bisschen für dich angeben, wenn du gestattest.“

Roy wandte sich wieder Harry und Ginny zu: „Eine Horde Hufflepuffs hat Wildfellow verprügelt, und ein Slytherin, nämlich Ihr Sohn“ – er machte eine leichte Verbeugung im Sitzen – „hat ihn herausgehauen. Also, er hat versucht, ihn rauszuhauen, und dabei selber fürchterlich Prügel bezogen. Von den Hufflepuffs. Von McGonagall fünfzig Punkte für moralisch vorbildliches Verhalten.“

„Wirklich?“, fragten Ginny und Harry wie aus einem Mund. Während Harrys Blick zum Portrait seiner Mutter Lily wanderte, die glühend vor Stolz aus ihrem Rahmen strahlte, nahm Ginny ihren Sohn in den Arm, knuddelte und küsste ihn. „Mama, bitte!“ Albus fand solche mütterlichen Gefühlsausbrüche in Gegenwart von Freunden immer peinlich. Die beiden Großen lächelten aber verständnisvoll, Roy sogar – so kam es Albus vor – ein bisschen wehmütig.

„Tja, und Wildfellow“, fuhr Roy fort, „revanchierte sich, indem er demonstrativ auf unsere Seite wechselte, als die anderen Häuser ihre Todesser-Chöre grölten. Da musste ich ihn einfach in Slytherin aufnehmen. Das geht zwar weit über meine Kompetenzen hinaus, aber McGonagall hat es glücklicherweise abgesegnet.“

„Davor warst du aber dagegen!“, erinnerte Albus ihn.

„Davor stand zur Debatte, ihm aus Mitleid gewissermaßen Asyl zu geben“, erwiderte Roy. „Jetzt haben wir ihn aufgenommen, weil er ein Prachtkerl ist und schon deshalb nach Slytherin gehört. – Äh, ich meine…“

Er lief rötlich an. Zu spät war ihm eingefallen, dass seine letzte Bemerkung gegenüber seinen Gryffindor-Gastgebern vielleicht nicht sehr höflich war. „…wie jedes Haus wollen wir natürlich die Besten haben.“

Harry lächelte. „Ist schon gut. Seit Albus in Slytherin ist, habe ich über euer Haus viel nachgedacht.“

„War es wirklich kein Schock für Sie?“, wollte Julian wissen.

„Ein Schock? Nein. Ehrlich gesagt, hatte ich damit gerechnet. Ich habe es jahrzehntelang für mich behalten und es Albus erst neulich am Bahnhof gesagt.“ Er zögerte, aber warum sollte er es nicht erzählen? „Wenn es nach dem Sprechenden Hut gegangen wäre, wäre auch ich damals nach Slytherin gekommen. Die hätten mich auch gerne gehabt, Draco Malfoy hatte mich im Hogwarts-Express geradezu eingeladen. Nur leider auf eine so widerliche und arrogante Art, dass ich den Hut schon deshalb anflehte, mich nicht nach Slytherin zu schicken. Nur deshalb wurde ich zum Gryffindor.“

Eine Pause trat ein.

„Ich frage mich manchmal“, fuhr Harry gedankenverloren fort, „wie alles gekommen wäre, wenn ich auf den Sprechenden Hut vertraut hätte.“

„Du hättest Draco Malfoy ertragen müssen“, warf Ginny ein, „der Hermine ständig als Schlammblut beschimpfte, hast du das schon vergessen?“

„Vielleicht hätte er es nicht getan, wenn Harry ein Slytherin gewesen wäre“, gab Roy zu bedenken. „Ich glaube, es kommt in jedem Haus, und überhaupt in jeder größeren Gruppe von Menschen, immer nur auf ganz wenige an. Neunzig Prozent lassen sich mitziehen. Welchen Charakter die jeweilige Gruppe hat, hängt immer von den ganz wenigen ab, die nicht mit den Wölfen heulen. Wenn ich Albus beobachte und den günstigen Einfluss sehe, den er jetzt schon nicht nur auf Scorpius Malfoy, sondern auf die ganze erste Klasse und sogar darüber hinaus hat…“

„Ich?“, fragte Albus. „Aber ich tue doch gar nichts.“

„Du bist, wie du bist, und das genügt bereits. Du hast schon weitaus mehr bewirkt, als du ahnst“, sagte Roy und tauschte einen kurzen Blick mit Harry. „Was ich sagen wollte: Angenommen, Sie und Draco wären Freunde gewesen, so wie Albus und Scorpius es sind – hätten Dracos Eltern, die ohnehin nur halbherzige Todesser waren, sich auch dann zum zweiten Mal Voldemort angeschlossen? Und wenn sie als eine der führenden Familien der Zaubererwelt es nicht getan hätten: Hätten sie vielleicht andere mit sich gezogen?“

„Möglich“, meinte Harry nachdenklich. „Es wäre jedenfalls eine Antwort auf die Frage, die mich jahrelang beschäftigt hat, nämlich wieso der Sprechende Hut ausgerechnet bei mir auf eine solche Schnapsidee verfallen konnte.“

„Der Sprechende Hut hat keine Schnapsideen“, sagte Roy im Brustton der Überzeugung. „Wenn man Revue passieren lässt, welche Halbblüter und Muggelstämmigen im Laufe der Jahrhunderte nach Slytherin kamen, erkennt man immer dasselbe Muster: Leute, die in der Muggelwelt, aus der sie kamen, nicht zu Hause waren, in Hogwarts nicht etwa ihre zweite, sondern ihre einzige Heimat fanden, und fest entschlossen waren, diese Heimat zu verteidigen. Ich glaube, Sie hätten mindestens so gut nach Slytherin gepasst wie ich selbst.“

„Was Sie ja nicht hätte hindern müssen, sich in ein Gryffindor-Mädchen zu verlieben“, warf Julian ein, dem nicht entgangen war, dass Ginny Roys Überlegungen offenbar ganz und gar nicht sympathisch fand. Jetzt lächelte sie versöhnt.

„Wissen Sie eigentlich“, fragte Roy jetzt, „dass man sich in Hogwarts heute noch hinter vorgehaltener Hand erzählt, Sie seien wahrscheinlich der wahre Erbe von Salazar Slytherin?“

„Ist dieser Quatsch immer noch im Umlauf?“ Harry schüttelte sich vor Lachen. „Nicht zu fassen!“

„Wie ist das denn entstanden?“

„Das kam daher, dass Voldemort den Basilisken freiließ, den Salazar Slytherin vor tausend Jahren in der Kammer des Schreckens eingesperrt hatte. Nur der wahre Erbe Slytherins könne das, hieß es. Ich wurde damals verdächtigt, weil ich der einzige Parselmund an der Schule war. In Wahrheit war das mit dem ‚Erben Slytherins‘ ein Mythos. Slytherin hatte die Kammer des Schreckens so verschlossen, dass nur eine Parselzunge sie öffnen konnte, ich genauso wie Voldemort. Das war alles. Mit irgendwelchen magischen Erbschaften hatte es nichts zu tun. Voldemort war natürlich fasziniert davon und fest überzeugt, selbst der Erbe zu sein.“

„Tja…“ meinte Roy. „Vielleicht waren Sie ja tatsächlich der Erbe Salazars und konnten Ihr Erbe nur deshalb nicht antreten, weil Sie kein Slytherin waren…“

„Ich bitte Sie, Roy, ich war es nicht und wäre es auch als Slytherin nicht gewesen. Salazar Slytherin wollte nur reinblütige Zauberer zulassen…“

„…was den Sprechenden Hut, den ideellen Nachlassverwalter der vier Gründer, aber nicht gehindert hat, Halbblüter und sogar rein Muggelstämmige nach Slytherin zu schicken.“

„Trotzdem entsprach sein Programm genau dem der Todesser tausend Jahre später. Also wenn es jemals einen ‚Erben Slytherins‘ gab, dann war es wirklich Voldemort.“

„Ich fürchte, da muss ich widersprechen“, antwortete Roy und lehnte sich nach vorn: „Dasselbe Programm, angewandt in völlig unterschiedlichen und unvergleichbaren Situationen, ist nicht dasselbe Programm.“

Harry war überrascht. „Wie meinen Sie das?“

„Vor tausend Jahren waren Zaubererwelt und Muggelwelt nicht voneinander getrennt, beide Gemeinschaften lebten in derselben Welt, und in dieser Welt wurden Hexen und Zauberer verfolgt. Es war unabweisbar, die tausend Fäden zu kappen, die Zauberer und Muggel miteinander verbanden. Salazar wollte die Trennung so schnell wie möglich. Unter dieser Voraussetzung, das heißt, um einen sauberen Strich zu ziehen, war es sinnvoll, nur reinblütigen Zauberern Zugang zu gewähren, und alle anderen draußenzulassen. Das war der Hintergrund für das Zerwürfnis mit den anderen Gründern, die die Trennung nicht, jedenfalls nicht so schnell und gründlich wollten. Am Ende hat Slytherin recht behalten: Spätestens seit 1689 sind die Welten getrennt, aber in den Jahrhunderten, die in der Zwischenzeit vertrödelt wurden, wären Hexen und Zauberer beinahe ausgerottet worden.“

Roy machte eine Pause und fuhr dann fort:

„Ganz anders war die Lage, als Voldemort auf der Bildfläche erschien. Unsere Historiker haben viel Tinte vergossen, um die Todesser zu verdammen, aber kaum einer hält es für nötig, die Frage zu stellen oder gar zu beantworten, warum Voldemort Anhänger finden konnte.“

„Klingt so, als ob Sie eine Antwort hätten“, fragte Harry neugierig, nicht spöttisch.

„Ich glaube“, sagte Roy, „dieses ganze Todessertum war im Grunde eine Art Flucht nach vorn. Jeder, der es sehen wollte, konnte im zwanzigsten Jahrhundert sehen, dass die Muggel ihren technischen Vorsprung mit jedem Tag ein wenig mehr ausbauten. Die Muggeltechnologie entwickelte sich viel schneller als die Zauberei, die Muggelzivilisation reifte allmählich zur Bedrohung. In dieser Lage taten die Todesser das genaue Gegenteil von dem, was Salazar Slytherin gefordert hatte. Sie sagten nicht: Wir verteidigen die Trennlinie zwischen magischer und Muggelwelt. Sie sagten: Wir beseitigen die Trennung wieder, wir stellen den Kontakt zwischen magischer und Muggelwelt wieder her, aber so, dass wir, die Zauberer, die Muggel beherrschen, bevor sie uns beherrschen. Die Grenze zwischen zwei Welten sollte durch eine Grenze zwischen oben und unten ersetzt werden, und weil eine solche Diktatur nur von einer Zaubererkaste mit herausragenden magischen Fähigkeiten hätte ausgeübt werden können, verfielen sie auf den Gedanken, eine Art magischer Superrasse zu züchten. Mit den Zielen und Ideen Slytherins hatte das überhaupt nichts zu tun. Es war völlig anachronistisch von den Todessern, sich auf ihn zu berufen. Slytherin wollte nicht die Muggel unterjochen, sondern die Zauberer verteidigen. – Verstehen Sie jetzt, warum ich in Ihnen einen wesentlich legitimeren Erben Slytherins sehen würde als in Voldemort?“

„So habe ich es noch nie gesehen…“ sagte Harry. Meine Güte, mit seinen sechzehn Jahren steckt dieser Kerl manchen Professor in die Tasche!

„Aber wenn der technische Vorsprung der Muggel eine solche Gefahr ist“, sagte Ginny, „– und ich verstehe Sie doch richtig, dass Sie den Todessern zumindest in diesem einen Punkt Recht geben? –, dann ist doch Hermines Politik, von den Muggeln zu lernen, einfach nur vernünftig!“

„Das wäre es in der Tat“, räumte Roy ein, „wenn wir die Mittel hätten, die Muggeltechnologien zu übernehmen und aus eigener Kraft zu beherrschen. Aber daran ist mit nur einigen zehntausend Zauberern nicht zu denken. Selbst große Muggelstaaten sind technologisch nicht autark, eine so kleine Gemeinschaft wie unsere wäre es erst recht nicht. Hermine hat es noch nicht direkt zugegeben, aber um auch nur halbwegs Anschluss an die Muggeltechnologie zu gewinnen, müssten wir die Geheimhaltung gegenüber den Muggeln aufgeben. Wir würden wieder in genau die Muggelwelt zurückkehren, aus der unsere Vorfahren flüchten mussten.“

„Wäre das denn so schlimm?“ Ginny war nicht überzeugt. „Hexenverfolgungen gibt es doch in der Muggelwelt schon lange nicht mehr.“

„Gewiss“, sagte Roy, „aber es gibt sie nur deshalb nicht, weil die Muggel schlicht und einfach nicht glauben, dass so etwas wie Hexerei existiert. In dem Moment, wo die Geheimhaltung aufgegeben wird, fällt dieser günstige Umstand weg.“

„Trotzdem müssten sie uns doch nicht verfolgen. Beide Seiten könnten doch von dem Wissen der jeweils anderen profitieren. Probleme, die mit Zauberei lösbar sind, würden auf magische Weise gelöst, alle anderen auf technischem Weg. Das wäre doch für alle ein Gewinn!“

„Ich fürchte“, meinte Roy höflich, „das ist eine jener Utopien, die in der Theorie wunderbar funktionieren, aber in der Praxis scheitern. Also schön, stellen wir es uns vor: Die Zauberer integrieren sich in die Muggelwelt und können dann auch mit deren Technologien umgehen, wodurch die Muggel ihren Vorsprung verlieren. Zusätzlich könnten wir aber nach wie vor zaubern. Die meisten von uns würden mit ihren Fähigkeiten in der Muggelwelt Karriere machen, an den Schalthebeln der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft säßen immer mehr Zauberer. Klingt gut, was?“

„Ja“, meinte Ginny, „ich sehe jedenfalls nicht, warum wir ein Problem damit haben sollten.“

„Weil die Muggel eins haben werden und sie zweitausendmal zahlreicher sind als wir. Die Erfahrung, was passiert, wenn ein fremdes Volk – und wir wären für die Muggel ein fremdes Volk –, das zahlenmäßig schwach ist, sich als gesellschaftliche Elite etabliert, mussten vor uns nicht nur Juden in Europa machen. Deren Erfahrungen waren besonders grausam, aber grundsätzlich ist die Lage solcher Minderheiten immer prekär: Das gilt oder galt für Chinesen in Südostasien, Inder in Uganda, Weiße in Südafrika und andere mehr. Vielleicht könnte eine kleine Elite der Zauberergemeinschaft sich so unentbehrlich machen, dass sie vor Verfolgungen geschützt wäre. Vielleicht könnte eine solch kleine Elite sich quasi unsichtbar machen und Muggel als Handlanger vorschicken. Aber der große Rest von uns wäre in derselben Lage wie unsere Vorfahren im Mittelalter.“

„Sicher“, Ginny wog den Kopf, „da ist etwas dran. Aber könnten nicht Gesetze uns schützen – also uns und die Muggel? Uns vor Diskriminierung und Verfolgung, die Muggel vor Schadenzauber?“

„Das dürfte ziemlich genau das sein, was Hermie… Verzeihung, Hermine vorschwebt“, erwiderte Roy mit grimmiger Miene. „Ein Staat, dessen innerer Friede nur dadurch gewahrt werden kann, dass eine allmächtige Geheimpolizei jedem Bürger auf den Mund und auf die Finger schaut. Und Sie können sicher sein, dass diese Geheimpolizei genügend Schwarze Magier einkaufen wird, die ihr auch noch sagen, wie sie in die Gedanken der Bürger eindringt. Wahrscheinlich wird dann jeder, der einen politisch unerwünschten Gedanken hat, auf magische Weise zum Selbstmord getrieben.“

„Aber Roy, das ist doch allerschwärzeste Magic Fiction! Das ist doch absurd.“

Nun schaltete Harry sich ein: „Ginny, ich fürchte, das ist nicht absurd. Peter Pettigrew hat vor meinen Augen gegen seinen Willen Selbstmord begangen, als er einmal nicht ganz der willige Handlanger war, den Voldemort brauchte. Ein Staat, der den Willen und die Mittel hätte, diese Art von Schwarzer Magie im großen Stil einzusetzen, wäre tatsächlich die perfekte Diktatur.“

„Aber eine solche Diktatur würde Hermine doch niemals wollen“, wandte Ginny ein.

Roy räusperte sich. „Sie führt aber eine Lage herbei, in der ihr nichts anderes übrigbleiben wird. Außerdem kommt es womöglich gar nicht darauf an, was sie will, weil sie möglicherweise – nicht mehr Herrin ihrer Entschlüsse ist.“

„Sie wollten recherchieren“, griff Harry den Gedanken auf. „Haben Sie denn etwas über einen Fluch gefunden, unter dem sie stehen könnte?“

„Nein, nichts!“, antwortete Julian hastig, noch bevor Roy etwas sagen konnte. Harrys Augenbrauen zuckten, aber er sagte nichts.

„Nichts“, bestätigte Roy. „Und Sie? Oder sind das Dienstgeheimnisse?“

„Wenn wir auf etwas gestoßen wären, würde ich mich jetzt vielleicht auf Dienstgeheimnisse berufen“, sagte Harry. „Wir kennen aber keinen Fluch, durch den Hermine manipuliert worden sein könnte, ohne dass sie es merkt.“

Ein langes Schweigen trat ein. Alle fünf hingen ihren Gedanken nach.

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