6 – Hoher Besuch

 

Die Britischen Inseln gelten nicht unbedingt als Traumziel sonnenhungriger Urlauber, und auch an diesem Sonntag im Frühherbst lag das ganze Land unter einer dichten Wolkendecke, aus der immer wieder Regenschauer niederprasselten – und zwar immer dann, so schien es jedenfalls den meisten Briten, wenn man selber gerade das Haus verließ, während sie endeten, sobald man endlich wieder ein schützendes Dach über dem Kopf hatte.

Die Meteorologen des Muggelfernsehens staunten daher nicht schlecht über ein Phänomen weit im Norden des Landes, wo eine fast kreisrunde Enklave von rund fünf Meilen Radius rund um die Ruine von Schloss Hogwarts sich den ganzen Tag über strahlenden Sonnenscheins erfreute. Die wenigen Zauberer und Hexen, die zufällig den Muggel-Wetterbericht sahen, waren weniger verblüfft, denn sie wussten, dass die vermeintliche Ruine nur Muggeln als solche erschien, und zwar aufgrund eines Verwirrungszaubers, und dem Tagespropheten hatte mancher entnommen, dass die Zaubereiministerin sich dort an diesem Tag zu einer wichtigen Rede angesagt hatte.

Wenn bedeutende Termine anstanden und Scharen von Pressefotografen zu erwarten waren, überließ Hermine nichts dem Zufall, und ihre Ministerialzauberer hatten in der Tat ganze Arbeit geleistet. Wetterzauber sind selbst für hochqualifizierte Spezialisten eine knifflige und aufwendige Angelegenheit, aber als die Ministerin gegen neun Uhr morgens in Begleitung einiger Auroren ihres Sicherheitsdienstes vor dem Portal von Hogwarts apparierte und von Professor McGonagall herzlich begrüßt wurde, herrschten angenehme Temperaturen und eine leichte Brise unter wolkenlosem Himmel.

Hermine trug ein perfekt sitzendes scharlachrotes Kostüm, mit dem sie in jeder Muggel-Chefetage Eindruck gemacht hätte, dazu einen anthrazitfarbenen Hexenumhang – eine ausgefallene, aber todschicke Kombination, und ihr alter Schulschal in den Gryffindor-Farben Scharlachrot und Gold, den sie aus ihrem Kleiderschrank gekramt hatte, verlieh ihrer eleganten Erscheinung einen gewissen schrägen Akzent. Sie sah umwerfend aus, war bester Laune und freute sich darauf, nach langen Jahren ihre alte Schule, einige ihrer früheren Lehrer und ihrer ehemaligen Mitschüler wiederzusehen, die inzwischen ihrerseits hier unterrichteten. Es war ihr wichtig gewesen, zu ihrer großen programmatischen Rede an den Ort zurückzukehren, an dem für sie alles begonnen hatte: Heute, so empfand sie es, würde ein Kreis sich schließen.

McGonagalls Angebot, die Schutzzauber um Hogwarts vorübergehend aufzuheben, damit sie direkt im Schloss apparieren konnte, hatte sie abgelehnt. Sie wollte den Weg vom Geländeportal zum Schloss, den sie früher so oft gegangen war, zu Fuß zurücklegen, um, in Erinnerungen schwelgend, jeden Augenblick ihres Aufenthalts auszukosten. Für sie war jeder Schritt, den sie hier tat, und dies erstmals als Zaubereiministerin, Teil eines Triumphzugs, den sie sich nicht verkürzen lassen wollte.

Entlang des letzten Wegstücks zum Schlossportal hatten sich die Schüler – fünf Reihen tief und nach Häusern getrennt – zum Empfang aufgestellt: zuerst die Ravenclaws, dann die Hufflepuffs, dann die Gryffindors, zuletzt die Slytherins. Da das Gelände links des Weges sachte anstieg, hatten auch die in den hinteren Reihen Stehenden gute Sicht.

Albus, der vor Stolz auf seine Tante schier platzte, hatte sich bei den Slytherins selbstredend in die erste Reihe gestellt. Da der Weg eine leichte Rechtskurve machte, konnte er die kleine Prozession gut verfolgen: vorne Hermine mit McGonagall, dann die Sicherheitszauberer, die wie immer mit geschultem Blick die Umgebung nach etwaigen Gefahren absuchten und den Pressetross auf Abstand hielten, der gewissermaßen die Nachhut bildete. Es waren sehr viele Pressevertreter angereist, allein der Tagesprophet war mit vier Journalisten vertreten: dem Chefredakteur Elliott Northwood persönlich, seinem Starkolumnisten Heribert Prantice, einem Reporter und einem Fotografen. Die beiden Letzteren waren bei weitem weniger elegant gekleidet als Northwood und Prantice und sollten wohl die eigentliche Arbeit verrichten.

Hermine wurde zuerst von den Ravenclaws, dann von den Hufflepuffs mit strahlenden Gesichtern, winkenden Händen, herzlichem Applaus und fröhlichen Zurufen begrüßt: Willkommen daheim, willkommen in Hogwarts, hallo Frau Ministerin. Einige Hände streckten sich ihr entgegen, die sie lachend ergriff.

Aber die Begrüßung durch die Ravenclaws und Hufflepuffs, so warm und ungezwungen freundlich sie war, war nichts im Vergleich zu dem donnernden Jubel, mit dem die Gryffindors „ihre“ Ministerin in Empfang nahmen, als sie endlich zu ihnen kam. Hermine hatte gerade noch Zeit, ohne Rücksicht auf das Protokoll ihre Tochter und ihren Neffen James zu umarmen und zu küssen, da lösten sich die Reihen der Schüler schon auf: Jeder wollte zu ihr, Jeder ihre Hand schütteln, Jeder ein Lächeln von ihr erhaschen. Sie war ohnehin beliebt, aber ihr Gryffindor-Schal, mit dem sie sich als eine der ihren bekannte, ließ die Begeisterung der Gryffindors überschäumen. Es fehlte nicht viel, und sie hätten sie auf die Schultern gehoben, um sie ins Schloss zu tragen. Minutenlang hatten Hermines Sicherheitsauroren alle Hände voll zu tun, um ihre Chefin vor dem Erdrücktwerden zu bewahren.

McGonagall ließ die Gryffindors lächelnd gewähren, sie gönnte ihrer einstigen Musterschülerin den Triumph. Als der Tumult nach einer gefühlten Ewigkeit endlich ein wenig abebbte, tippte sie sich mit dem Zauberstab an die Kehle, um ihre Stimme zu verstärken und die Schüler zur Ordnung zu rufen. Einer nach dem anderen kehrte an seinen Platz zurück, und Hermine konnte ihren Weg fortsetzen. Sie erreichte den Slytherin-Block.

Selbst ein Außenstehender konnte die beiden unsichtbaren Linien nicht übersehen, deren eine die Slytherins von den anderen Häusern trennte, während die andere sich mitten durch Slytherin selbst zog und es in zwei Lager spaltete. Hier gab es weder Zurufe noch ausgestreckte Hände; während aber die Schüler in den beiden vorderen Reihen der Ministerin zumindest freundlich, wenn auch teils etwas verlegen, zulächelten, höflich applaudierten und sich überhaupt redlich bemühten, den Kontrast wenigstens zu ihrem Empfang durch die Ravenclaws und Hufflepuffs nicht allzu schroff ausfallen zu lassen, waren die drei Reihen hinter ihnen eine Wand aus Eis. Hier standen Roys und Julians Freunde und Anhänger, viele mit verschränkten Armen und alle, Mädchen wie Jungs, mit steinernen Mienen. Hermines Züge verfinsterten sich. Vom „neuen“ Slytherin hatte man ihr Anderes berichtet, aber sie bewahrte Haltung und zog ihrerseits eine frostige Miene, als sie an ihnen vorbeischritt.

Der einzige Slytherin, der sich wirklich freute, sie zu sehen, war Albus. Er hüpfte auf und ab und schwenkte beide Arme wild winkend über dem Kopf, als befürchtete er, sie könne ihn übersehen. Es war ihm völlig egal, was die anderen Slytherins davon hielten, hier kam seine Hermine, und er strahlte ihr glücklich entgegen. Hermine sah ihn, lächelte, zwinkerte ihm mit einem Auge zu – und schritt vorüber.

Albus hielt abrupt in seinem Begrüßungstanz inne. Was war das denn? Er sah ihr fassungslos nach. Was hatte er erwartet? Dass sie ihn knuddeln würde?

Ja, eigentlich hatte er genau das erwartet, sie hatte schließlich auch seinen Bruder umarmt, ohne sich um die Etikette zu scheren. Was war der Unterschied?

Der Unterschied ist, dass ich ein Slytherin bin.

Albus sah, wie McGonagall die Ministerin zu den Lehrern führte, die sich vor dem Schlossportal versammelt hatten, und ihr diejenigen vorstellte, die sie noch nicht persönlich kannte. Hermine schüttelte ihnen der Reihe nach die Hand, bis sie zu Neville Longbottom kam. Den sie spontan umarmte.

In diesem Moment wünschte sich Albus, ganz weit weg und vor allem allein zu sein. Neben ihm in der ersten Reihe stand Scorpius, der zu den Applaudierenden gehört hatte, denn sein Vater hatte ihm mit seiner letzten Eule eingeschärft, sich der Ministerin gegenüber gut zu benehmen, außerdem war er gern mit Albus zusammen. Als Scorpius ihn kurz ansah, nur um den Blick dann sofort taktvoll wieder abzuwenden, wusste Albus, dass er sich zusammennehmen musste. Er atmete ein paarmal tief durch und versuchte, so gut es ging, eine Art Pokerface aufzusetzen.

Nun war Hermine bei den Schulsprechern und Vertrauensschülern angelangt, die von McGonagall mit Namen, aber ohne Nennung der Häuser vorgestellt wurden. Victoire hieß sie nach französischer Art mit Küsschen links und Küsschen rechts willkommen, die übrigen gaben ihr die Hand, einige der Jungen verbeugten sich, Patricia versuchte sich sogar an einem Knicks. Als Letzter kam Roy an die Reihe. Während er der Ministerin die Hand reichte, sah er ihr mit einer Art wachsamer Neugier ins Gesicht, die man leicht als Sympathie missdeuten konnte, aber nicht musste. Hermines Brauen zogen sich fast unmerklich zusammen, sie blickte auch ihn forschend an, dann lösten sich ihre Hände voneinander, und Hermine schritt mit McGonagall zum Portal.

Die Schüler hatten ihre Reihen inzwischen aufgelöst. Sie warteten, bis die Ministerin und ihre Entourage im Schloss verschwunden waren, und gingen dann langsam hinterher. Sie wussten, dass im Schloss ein kleiner Empfang zu Ehren der Ministerin gegeben wurde und bis zu ihrer Rede noch etwas Zeit blieb.

 

Knapp zwanzig Minuten später war die Große Halle bereits gut gefüllt. Die Lehrer saßen an ihrem üblichen Quertisch am Kopf des Saals, die Haustische aber waren weggeräumt und durch Stuhlreihen ersetzt worden. Die ersten beiden waren für hohe Ministerialbeamte, hochrangige Mitglieder des Zaubergamots und Diplomaten ausländischer Zaubererstaaten reserviert, Teile der zweiten Reihe außerdem für Schulsprecher und Vertrauensschüler. Die Presse hatte eigene Tische links und rechts entlang der Wände. Ab Reihe 3 sollten die Schüler sitzen. Ihnen war es freigestellt worden, ob sie der Rede beiwohnen wollten oder nicht. Von den Hufflepuffs und Ravenclaws waren überwiegend ältere Schüler im Saal, aber die Gryffindors waren vollzählig anwesend; für sie war es Ehrensache, der großen Rede ihres Stars zu lauschen, und sie waren vorsorglich so früh wie möglich gekommen, um ihrer Ministerin ein wohlwollendes Publikum in den vorderen Reihen zu sichern.

Die Slytherins, wenngleich etwas weiter hinten sitzend, waren ebenfalls stark vertreten. Auch sie hatten ihren Star, und Roy hatte angekündigt, der Ministerin einen Kampf zu liefern. Während bei den Gryffindors gelöste Fröhlichkeit herrschte, war die Vorfreude der Slytherins anderer Art: Sie glich dem erwartungsvollen Prickeln vor einem pokalentscheidenden Quidditch-Match. Bei seinen Lehrern war Roy ein gefürchteter Debattierer, aber ob er es mit einer leibhaftigen Ministerin von legendärer Intelligenz aufnehmen konnte?

Als Roy als einer letzten Slytherins die Halle betrat, standen einige seiner Hauskameraden noch einmal auf, um ihm aufmunternd auf die Schulter zu klopfen. Albus hatte zusammen mit Scorpius in der Mitte einer der hinteren Reihen Platz genommen und konnte daher nicht verstehen, was sie ihm zuraunten, aber ihre Gesten sagten unzweideutig: „Gib’s ihr!“

Scorpius stupste ihn von der Seite an: „Welche Laus ist dir eigentlich vorhin über die Leber gelaufen? Du hast ausgesehen wie nach einem verregneten Strandurlaub.“

„Hast du nicht gesehen, wie sie mich begrüßt hat?“, knurrte Albus.

„Klar hab ich. Sie hat dich angelächelt und dir zugezwinkert.“

„Meinen Bruder hat sie aber umarmt.“

„Wie, und deswegen ziehst du so eine Flunsch?“

„Ist doch Grund genug, oder? Nur weil ich ein Slytherin bin, schneiden mich alle meine Verwandten hier. Und jetzt auch noch sie!“

„Uiuiui, bist du aber empfindlich! Was hätte sie denn tun sollen? Die Gryffindors haben sie wie Freunde empfangen, da konnte sie aus sich herausgehen, ohne dass es komisch aussah. Aber bei uns? Mann, da musste sie doch ihr Ministergesicht aufsetzen! Aber zugezwinkert hat sie dir trotzdem! Damit hat sie gesagt ‚Wir verstehen uns doch‘. Und ganz ehrlich: Das kann man auch verstehen, und du solltest es auf jeden Fall verstehen. Also dafür, dass sie deine beste Freundin ist, wie du sagst, bist du ganz schön unfair zu ihr!“

Albus war rot geworden. Jetzt, wo Scorpius es sagte, leuchtete es ihm vollkommen ein. Wie konnte er nur so eine Mimose sein!

„Du hast recht, es war kindisch. Richtig blöd. Danke für die Predigt.“

„Gern geschehen“, grinste Scorpius.

Roy nahm als letzter Vertrauensschüler in der zweiten Reihe neben Patricia Platz. Da auch die Lehrer, mit Ausnahme McGonagalls, und die Honoratioren bereits saßen, wartete alles nur noch auf die Rednerin.

Das Blitzlichtgewitter, das jäh an der Saaltür einsetzte, kündigte sie an, bevor sie an der Seite McGonagalls die Halle betrat. Die Zuhörer erhoben sich, auch die Slytherins, von denen die meisten aber nicht klatschten, während alle anderen applaudierten und von vorn wieder der Jubel der Gryffindors zu hören war.

Hermine, fröhlich und aufgekratzt mit McGonagall plaudernd, schritt nach vorn. Solche Auftritte liebte sie, denn sie war eine hervorragende Rednerin und wusste es, und hier in Hogwarts würde sie ein Heimspiel haben. Auch wenn die meisten ihrer Reden auf Entwürfen ihrer Beamten beruhten, pflegte sie sie doch selbst zu überarbeiten, bis sie ihrem unverwechselbaren Stil entsprachen.

Sie setzte sich auf den für sie reservierten Platz in der ersten Reihe neben Dagobert Higrave, um McGonagall die Gelegenheit zu ein paar einleitenden Begrüßungsworten zu geben. Die Schulleiterin machte es kurz, hieß die Anwesenden willkommen, wobei sie insbesondere den Diplomaten und Honoratioren ein paar freundliche Worte widmete, überließ dann der Ministerin mit einer einladenden Geste das Rednerpult und nahm ihren Platz am Lehrertisch ein.

Diesmal brandete kein Applaus auf. In der gespannten Stille war nur das Klacken von Hermines Pfennigabsätzen zu vernehmen, als sie nach vorn trat, um das Pult in Besitz zu nehmen. Einen Moment lang ließ sie den Blick über das Publikum schweifen.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Frau Professor McGonagall, liebe Lehrer und vor allem: liebe Schüler!

Es bedeutet mir sehr viel, heute bei Ihnen sein und hier in Hogwarts sprechen zu können, der Schule, die mir, wie Ihnen allen, Heimat ist. Fast zwanzig Jahre bin ich nicht mehr hier gewesen, aber als Sie mir heute Morgen diesen überwältigenden Empfang bereiteten, war mir, als wäre ich nie fortgewesen. Für mich bedeutet der heutige Tag eine Heimkehr.“

Warmer Beifall antwortete ihr, und in manchen Augen glitzerten sogar Tränen, denn jeder spürte, dass diese Worte aufrichtig von Herzen kamen. Selbst Roys prüfend-distanzierte Miene wich einem gewissen Erstaunen, sogar ihn hatte sie mit ihren schlichten Worten berührt. Dann fiel ihm ein, wen er eigentlich vor sich hatte. Verdammt, die versteht es aber wirklich, ihr Publikum einzuwickeln!

Hermine ließ den Beifall geduldig verklingen und fuhr fort:

„Besonders freue ich mich, Hogwarts wieder in seiner früheren Pracht vorzufinden. Als ich das letzte Mal hier war, war das Schloss übersät von den Wunden und Narben der Schlacht, die die Zauberergemeinschaft gegen ihre Todfeinde führen musste.“

Roy brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass bei etlichen Slytherins Fäuste sich ballten und Stirnadern anschwollen. Besagte Todfeinde waren ihre Eltern und Großeltern – oder waren es gewesen, denn viele von ihnen waren in der Schlacht gefallen.

Und nun müssen ihre Enkel sich anhören, sie hätten eigentlich gar nicht zur Zauberergemeinschaft gehört, schoss es ihm durch den Kopf. Eben hat Hermie noch das große „Wir“ beschworen und alle gepackt, jetzt macht sie klar, wen sie gar nicht packen WILL, wer NICHT zum großen WIR gehört. Hoffentlich können Julian und die Anderen unsere Leute ruhig halten.

„Dabei waren die materiellen Schäden noch das geringste Übel. Zerstörte Gebäude kann man wiederaufbauen. Niemand aber kann uns unsere Toten wiedergeben. Um ihr Opfer zu ehren und ihrem Andenken gerecht zu werden, …“

…darfst du sie nicht für deine schmutzigen politischen Manöver missbrauchen, du verlogene Bestie…

…dürfen wir nicht zulassen, dass sie umsonst gestorben sind. Ich freue mich, an diesem geschichtsträchtigen Ort, dem Schauplatz ihres Martyriums, ankündigen zu dürfen, dass das Ministerium den 2. Mai, den Jahrestag der Schlacht um Hogwarts, als Siegestag zum nationalen Feiertag erklären wird. Er wird erstmals im kommenden Jahr zum zwanzigsten Jahrestag der Schlacht in einer feierlichen Zeremonie begangen, und zwar hier in Hogwarts in Anwesenheit aller Schüler und Lehrer dieser wunderbaren Schule.“

Und wer nicht teilnimmt, kommt nach Askaban.

Aus den Reihen der Slytherins drang vereinzeltes Stöhnen.

In diesem Moment schwebte ein Pergamentkügelchen von hinten links an Roys Kopf vorbei, machte eine kleine Rechtskurve, blieb einen Moment vor seinen Augen in der Luft stehen und plumpste dann auf seinen Schoß. Es konnte nur von Julian sein. Roy knitterte den Zettel auseinander und las: STOPF IHR DAS MAUL!!! Er drehte den Zettel um, fuhr mit seinem Zauberstab über die Rückseite, auf der die Sätze YEP, ABER ERST IN DER DISKUSSION! HALTET BIS DAHIN STILL! erschienen, knüllte den Wisch wieder zur Kugel und schickte ihn zurück.

„Die Erinnerung an die Vergangenheit ist aber nur die eine Seite der Medaille, deren andere die Gestaltung der Zukunft ist. Wir alle müssen uns fragen, welche unserer ehrwürdigen Traditionen Fehlentwicklungen Vorschub geleistet haben, die einen Voldemort erst möglich machten. Der Tradition um der Tradition willen muss eine Absage erteilt werden. Was wir brauchen, ist ein Gleichgewicht zwischen Altem und Neuem, zwischen Dauer und Wandel, zwischen Tradition und Innovation. Viele unserer alten Bräuche sind bewahrenswert, aber andere, veraltet und überholt, werden wir aufgeben müssen. Gestalten wir also gemeinsam eine neue Ära der Offenheit, der Effizienz und der Verantwortlichkeit. Bewahren wir, was bewahrenswert ist, vervollkommnen wir, was vervollkommnet werden muss, aber schrecken wir auch nicht vor Säuberungen zurück, wo wir Verhaltensweisen finden, die verboten gehören.“

Säuberungen! Roy schrak zusammen.

McGonagall hatte ihre Falkenmiene aufgesetzt und blickte zur Decke. Sie schien über irgendetwas nachzugrübeln.

„Jahrhundertelang hat sich die magische Welt gegen die Welt der nichtmagisch befähigten Menschen feindselig abgegrenzt. Jahrhundertelang galt es als ausgemacht, dass von nichtmagisch befähigten Menschen nur Dummes, Schlechtes und Schädliches kommen könne. Gewiss gab es einst gute Gründe, die beiden Welten zu trennen, um die Konflikte zu entschärfen, die das ganze Mittelalter beherrscht hatten. Gewiss wird niemand diese Trennung leichtfertig aufheben, aber…“

Jetzt wird’s spannend.

… war nicht genau dieses unablässige Schmoren im eigenen Saft, die selbstgefällige Freude an der eigenen Vortrefflichkeit, die bornierte Geringschätzung der Fähigkeiten und Errungenschaften der nichtmagisch befähigten Menschen…“

Wieso sagt sie nicht „Muggel„?

…der Boden, auf dem die Saat der Todesser aufgehen konnte? Und sind diese Einstellungen, die niemals Tugenden waren, nicht mindestens unzeitgemäß? Verbauen wir uns durch sie nicht die Möglichkeit, von den nichtmagisch befähigten Menschen zu lernen? Und spricht irgendein vernünftiger Grund dagegen, sie ihrerseits an unseren Errungenschaften teilhaben zu lassen?“

Einer? Tausende!

Nehmen wir nur einmal an, der Hogwarts-Express wäre ein moderner Hochgeschwindigkeitszug: Die Fahrzeit von London aus würde sich um zwei Drittel verkürzen. Nehmen wir an, wir könnten per E-Mail kommunizieren: Nachrichten könnten in Echtzeit übermittelt werden, …“

…und das Zaubereiministerium könnte sie mitlesen…

…statt stunden- und tagelang mit Eulen unterwegs zu sein, die nicht immer ankommen. Aber umgekehrt haben auch Hexen und Zauberer den nichtmagisch befähigten Menschen viel zu bieten, denken wir nur…“

…an das herrliche Schauspiel brennender Hexen auf Scheiterhaufen…

…an den landwirtschaftlichen Bereich: Jedes Jahr erleidet die Landwirtschaft der nichtmagisch befähigten Menschen Milliardenverluste aufgrund von Wetterunbilden, derer ihre Wissenschaftler nicht Herr werden. Wie viel einfacher hätten sie es mit einem Wetterzauber!“

Und erst die Geheimdienste der Muggelstaaten und ihre Folterwissenschaftler. Wieviel einfacher hätten sie es mit dem Cruciatusfluch!

Die Ministerin hielt inne, um einen Schluck Wasser zu trinken, und zählte eine ganze Reihe weiterer Gebiete auf, auf denen Magier und Muggel ihre Fähigkeiten vereinen könnten, um dann fortzufahren:

„Wie gesagt: Niemand hat die Absicht, eine Mauer einzureißen, die durchaus auch ihren Sinn und Zweck hat. Niemand hat die Absicht, die Geheimhaltung der magischen gegenüber der nichtmagischen Welt aufzuheben. Dies stets vorausgesetzt, gilt aber auch: Wo Kooperation zum beiderseitigen Vorteil möglich ist, sollte man sich nicht durch Ängstlichkeit hemmen lassen. Wer so viel zu bieten hat wie wir, kann selbstbewusst eine neue Ära der – begrenzten – Kooperation und wechselseitigen Bereicherung angehen und hat keinen Grund, sich vor ihr zu fürchten. Ich habe mit Jonathan Wildfellow, dem Premierminister der Nichtmagier, in den vergangenen Monaten viel über dieses Thema diskutiert und freue mich, in ihm einen aufgeschlossenen Gesprächspartner gefunden zu haben. Das erste konkrete Ergebnis dieses Austauschs besteht darin, …“

…seinen Sohn Bernie als Versuchskaninchen zu missbrauchen…

…dass eine ausgewählte, streng zur Geheimhaltung verpflichtete Elite nichtmagisch befähigter Wissenschaftler mit Zauberern unseres Ministeriums an der Entwicklung eines Imperiusdetektors arbeitet, der technische und magische Errungenschaften und Erkenntnisse in sich vereint. Wie wir alle wissen, hat der Imperiusfluch die magische Strafverfolgung in den letzten Jahrzehnten immer wieder behindert. Allzu leicht konnten Verbrecher sich darauf berufen, ihre Taten unter dem Einfluss des Imperiusfluchs begangen zu haben und daher nicht für sie verantwortlich zu sein. Ich freue mich bekanntgeben zu können, dass der Prototyp des Detektors kurz vor der Fertigstellung steht.“

Roy starrte sie entgeistert an. Ein Großteil des Publikums jedoch nahm diese Ankündigung mit warmem Beifall auf.

„Sollte dieses Pilotprojekt erfolgreich sein, und ich zweifle nicht daran, so werden weitere Projekte folgen, selbstverständlich unter höchster Geheimhaltung gegenüber den nichtmagisch befähigten Menschen. Eines muss freilich festgehalten werden: Auch eine begrenzte Zusammenarbeit, auch die Kooperation mit zahlenmäßig kleinen Eliten setzt auf unserer Seite ein tiefgreifendes Umdenken voraus, sie erfordert Offenheit, Toleranz und Respekt. Vor diesem Hintergrund ist auch der letztjährige Erlass zur Bekämpfung diskriminierender Verhaltensweisen in öffentlichen Einrichtungen zu verstehen. Ich habe mir die Entscheidung, diese Verordnung auch auf Hogwarts auszudehnen, nicht leichtgemacht, denn die Autonomie von Hogwarts ist ein hohes Gut, das nicht grundsätzlich angetastet werden soll. Sie steht aber im Einklang mit unseren Traditionen. Das Zaubereiministerium hat der Erziehung junger Hexen und Zauberer stets überragende Bedeutung beigemessen. Es hätte geradezu seine Pflichten vernachlässigt, wenn es in dieser strategisch entscheidenden Frage nicht energische, richtungsweisende Maßnahmen ergriffen hätte.“

Roys und McGonagalls Blicke trafen sich. Die Professorin wirkte nachdenklich.

„Ich bekenne mich auch dazu, gerade in diesem Punkt, der Bekämpfung von Hassrede und diskriminierender Sprache, wichtige Anregungen von der Gesetzgebung nichtmagischer Staaten empfangen zu haben. Von Gesetzen, die in der nichtmagischen Welt zu einem bedeutenden moralischen Aufschwung geführt haben.“

An dieser Stelle konnte Roy sich ein Glucksen nicht verkneifen. Er kehrte jeden Sommer in die Muggelwelt zurück und wusste daher ungefähr, was die Ministerin sich unter einem „bedeutenden moralischen Aufschwung“ vorstellte. Die Ministerin ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

„Selbstverständlich sind wir uns im Ministerium darüber im Klaren, dass Fortschritte stets auch auf Widerstände stoßen“, sagte sie, und ihre Stimme wurde eisig. „Dass es Menschen gibt, die geistig unbeweglich und in alten Vorurteilen befangen sind, auch solche, die wegen ihres blanken Hasses auf alle Nichtmagier versuchen werden, das Rad der Geschichte umzukehren und in eine glücklicherweise und unter blutigen Opfern überwundene Vergangenheit zurückzukehren. Sie alle sollen wissen: Euer Hass ist unser Ansporn, und wer immer mit dem Gedanken spielt, das Erbe der Todesser anzutreten, wird die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Ich danke Ihnen.“

Während ein Großteil des Publikums ihr stehende Ovationen darbrachte, die Gryffindors in frenetischen Jubel ausbrachen, die meisten Slytherins aber wie erstarrt auf ihren Stühlen verharrten, warf Roy Professor McGonagall einen fragenden Blick zu. Na, was habe ich gesagt? McGonagall kniff die Lippen zusammen.

Die Ministerin ließ den Beifall tosen, der immer wieder in ein rhythmisches Klatschen überging, um dann zum Klang donnernder Brandung zurückzukehren. Immer, wenn er abzuebben drohte, halfen die Gryffindors ihm mit einem neuen Jubelorkan und „Hermine, Hermine„-Sprechchören nach. Die Ministerin lächelte voll Genugtuung. Die hymnischen Pressekommentare, die sie sich von diesem Auftritt versprochen hatte, waren ihr jetzt sicher, begleitet von Fotos, die sie als eine Art weiblichen Messias darstellten, als Lichtgestalt inmitten wogender Begeisterung. Dass viele Slytherins keine Hand rührten und wie versteinert dasaßen, fiel überhaupt nicht auf. Sie saßen zu weit hinten.

Roy war ebenfalls sitzen geblieben und ertrug Hermines nicht enden wollenden Triumph mit stoischer Miene. Da er von lauter Stehenden umgeben war, merkte das keiner. Immerhin hatte er auf diese Weise Zeit, sich seinen Schlachtplan zurechtzulegen und seinen Zorn zu zügeln.

Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis McGonagall sich erhob, die Menge mit beschwichtigenden Handbewegungen zur Ruhe mahnte, den Zauberstab an ihre Kehle führte und ihre Stimme verstärkte:

„Vielen Dank, Frau Ministerin, das war eine sehr… aufschlussreiche Rede, von der man zweifellos noch lange sprechen wird.“ Wieder erhob sich Jubel, wieder mahnte McGonagall zur Ruhe. „Sie haben dankenswerterweise angekündigt, mit den Schülern zu diskutieren, und ich bin sicher, dass es“ – sie sah zu Roy, der grinste – „hohen Diskussionsbedarf gibt. Frau Ministerin, liebe Schüler, die Diskussion ist eröffnet.“

Hermine dankte ihr mit einem freundlichen Nicken und erteilte der ersten Schülerin das Wort. Es war Patricia. Roy lehnte sich zufrieden zurück. Aus dem Unterricht kannte er Patricias Neigung, sich durch Übereifer wichtig zu machen, und er bezweifelte nicht, dass sie die Gelegenheit nutzen würde, gegenüber der Ministerin und ihrem eigenen Großvater ausgiebig zu glänzen. Je länger das Gespräch war, auf das die Ministerin sich mit ihr einließ, desto besser, denn desto schwerer würde es ihr fallen, die Debatte mit ihm selbst abzuwürgen, auch wenn sie sich in eine für sie unerfreuliche Richtung entwickeln sollte.

Patricia übertraf seine kühnsten Erwartungen. Sie schleimte sich derart ein, dass sogar die Gryffindors sich für sie fremdschämten, und schaffte es in der Tat, das Gespräch mit der Ministerin fast zehn Minuten lang in Gang zu halten. Als allmählich Unruhe aufkam, las Roy in Hermines Gesicht, dass sie nun genervt genug war, dem Erstbesten das Wort zu erteilen, der sich erhob, und das tat er.

Hermine nickte ihm zu, beendete noch ihre letzte Antwort an Patricia und erteilte ihm dann mit einer Geste das Wort.

Unversehens herrschte angespannte Stille im Saal.

„Frau Ministerin“, hob Roy an, „Sie haben in Ihrer bemerkenswerten Rede kein einziges Mal den Ausdruck ‚Muggel‘ gebraucht, sondern durchweg von ‚nichtmagisch befähigten Menschen‘ gesprochen. Warum?“

„Nun, ich glaube nicht, dass es noch zeitgemäß ist, nichtmagisch befähigte Menschen mit einem Wort zu titulieren, das sie lächerlich macht, herabsetzt und diskriminiert.“

„Müssen wir also davon ausgehen, dass das Wort ‚Muggel‘ in absehbarer Zeit auf der Liste der verbotenen Ausdrücke stehen wird?“

„Davon können Sie in der Tat ausgehen, und ich kann nur an alle Anwesenden appellieren, das Wort jetzt schon aus ihrem Vokabular zu streichen.“

Erstauntes Gemurmel im Saal. So hatten die meisten sich den verheißenen moralischen Aufschwung wohl nicht vorgestellt.

„Und das Fach ‚Muggelkunde‘ heißt dann ‚Nichtmagischbefähigtemenschenkunde‘?“

Gelächter kam auf. Sogar die Ministerin schmunzelte. „Ich bin zuversichtlich, dass wir eine kürzere Bezeichnung finden werden.“

„Ich frage mich, Frau Ministerin“, bohrte Roy weiter, „wie die Muggel sich diskriminiert oder herabgesetzt fühlen sollen, da sie doch zu unserer Welt keinen Zutritt haben und nicht einmal von ihrer Existenz etwas ahnen, und Sie selbst haben mehrfach betont, dass es dabei auch bleiben soll.“

„Ich habe aber auch gesagt“, replizierte die Ministerin kühl, „dass einige wenige diesen Zutritt sehr wohl bekommen sollen.“

„Ja, Sie sprachen von kleinen Eliten, die ihrerseits nur Kontakt zu kleinen Eliten des Zaubereiministeriums bekommen sollen. Sie aber wollen der gesamten Zaubererwelt, und eben nicht nur kleinen Eliten, ihre Sprache von Amts wegen vorschreiben. Sie versprechen, die Grenzen zwischen magischer und Muggelwelt grundsätzlich aufrechtzuerhalten, treffen aber Entscheidungen, die keinen Sinn ergeben, wenn dies tatsächlich geschieht.“

„Es handelt sich eben nicht nur darum, die Gefühle nichtmagisch befähigter Menschen nicht zu verletzen, sondern darum, eine grundsätzliche moralische Wende in der Zaubererwelt selbst herbeizuführen: weg von der tradierten Arroganz, hin zu Offenheit, Wertschätzung und Toleranz. Es handelt sich um ein moralisches Gebot, nicht einfach eine praktische Frage.“

„Ich verstehe: Wir sollen mit den Muggeln zwar auch weiterhin nichts zu tun haben, aber wertschätzen sollen wir sie trotzdem, weil es zwar keinen praktischen Nutzen hat, aber ein Gebot der Moral ist, und wenn wir diese Moral nicht von selbst haben, hilft das Ministerium uns mit Strafmaßnahmen auf die Sprünge.“

Wieder erhob sich Gemurmel im Saal. Einige ältere Honoratioren in der ersten Reihe drehten sich durchaus wohlwollend nach dem jungen Mann um, der eine so kesse Lippe führte. Vielleicht ein wenig überkritisch, nun ja, aber unsereiner war ja auch mal jung…

Hermine wäre jetzt gern aus der Diskussion ausgestiegen, spürte aber, dass dies auf die Zuhörer einen schlechten Eindruck gemacht hätte. Roy ergriff wieder das Wort:

„Allerdings haben Sie, Frau Ministerin, vor allem doch den praktischen Nutzen einer solchen Zusammenarbeit hervorgehoben und in diesem Zusammenhang die Möglichkeit erwähnt, den bisherigen Hogwarts-Express durch einen modernen Hochgeschwindigkeitszug zu ersetzen. Darf ich fragen, Frau Ministerin, wie Sie allein die Elektrifizierung und Begradigung der Strecke bewältigen und die hochkomplexen elektronischen Systeme eines solchen modernen Zuges beherrschen wollen, ohne auf die Hilfe einiger tausend hochqualifizierter Muggel-Ingenieure zurückzugreifen, die dann natürlich eingeweiht werden müssten?“

Mit dieser Frage hatte Roy sie zwar kalt erwischt, aber eine Hermine Granger-Weasley ließ sich so leicht nicht aus dem Sattel heben. Sie nutzte die Zeit, bis das anhebende Gemurmel verklungen war, um sich ihre Antwort zurechtzulegen:

„Wir brauchen den Zug nicht selbst zu betreiben. Wir warten, bis die Nichtmagier ihr Streckennetz entsprechend modernisiert haben, dann können wir für die Schüler ein paarmal jährlich einen Zug chartern, genau wie jede nichtmagische Organisation es auch kann, ohne irgendjemanden einzuweihen. Vom nächstgelegenen größeren Bahnhof aus kann man das letzte Teilstück dann mit magischen Transportmitteln zurücklegen.“

Der Punkt ging an Hermine. Roy setzte nach:

„Sie haben die bevorstehende Fertigstellung eines technischen Imperiusdetektors angekündigt. Darf ich fragen, ob dieser Detektor die Wirkung des Imperiusfluchs auch nachträglich nachweisen kann?“

Die Ministerin runzelte die Stirn. „Nein, natürlich nicht!“

„Worin liegt dann der praktische Vorteil eines solchen Geräts im Vergleich zu den Imperius-Aufspürzaubern, die von unseren Auroren schon seit Jahrhunderten mit großem Erfolg eingesetzt werden?“

„Solche Aufspürzauber sind aufwendig und vieler Hinsicht nicht unproblematisch und können nur von speziell ausgebildeten Auroren benutzt werden. Der Detektor ermöglicht das Aufspüren auf wesentlich breiterer Front.“

„Mit Verlaub, Frau Ministerin, wir haben keine breite Front, dafür aber allemal genügend Auroren für unsere überschaubare magische Welt. Bedarf an einem solchen Gerät hätte allenfalls die Muggeljustiz, dies aber nur unter der Voraussetzung, dass die Muggel über die Existenz der magischen Welt und ihrer Möglichkeiten einschließlich des Imperiusfluchs informiert werden. Einer Voraussetzung, die Sie explizit ausgeschlossen haben.“

In der Großen Halle machte sich noch größere Unruhe breit. Die selbstschreibenden Federn der Journalisten flogen nur so übers Pergament. Hermine spürte, dass es enger für sie wurde, war aber fest entschlossen, sich nicht – und schon gar nicht von einem Sechzehnjährigen – zur Preisgabe von Plänen zwingen zu lassen, zu deren Offenlegung die Zeit noch nicht reif war.

„Junger Mann“, erwiderte sie herablassend, „Sie überschätzen sich, wenn Sie glauben, den Ausstattungsbedarf der Magischen Strafverfolgung abschätzen zu können. Dazu fehlt Ihnen einfach der Überblick.“ Keine sehr starke Antwort, zur Gesichtswahrung aber allemal ausreichend.

„Gut“, lenkte Roy scheinbar ein, um sogleich die nächste Attacke aus einer anderen Richtung einzuleiten: „Ich möchte etwas grundsätzlicher fragen: Sie haben den potenziellen Nutzen und die denkbare wechselseitige Ergänzung der Fähigkeiten magischer und nichtmagischer Menschen hervorgehoben. Was veranlasst Sie eigentlich zu diesem Optimismus, wo doch die historischen Erfahrungen, ich nenne nur die mittelalterlichen Verfolgungen von Hexen und Zauberern, zeigen, dass Magier und Muggel dazu tendieren, miteinander in Konflikt zu geraten, wenn sie in derselben Gesellschaft zusammenleben, und dass dies bei einem Kräfteverhältnis von 2000 zu 1 gegen uns möglicherweise noch katastrophaler enden würde als im Mittelalter?“

„Erstens leben wir nicht mehr im Mittelalter“, sagte Hermine, die sich nicht aus der Ruhe bringen ließ, „und zweitens hatten die damaligen Verfolgungen etwas damit zu tun, dass sehr viele Hexen und Zauberer ihre Fähigkeiten für Schadenzauber gegen nichtmagisch befähigte Menschen missbrauchten. Heute dagegen hat das Zaubereiministerium die Mittel, Schadenzauber, Schwarze Magie und ähnliche Praktiken zu unterbinden, und zwar flächendeckend.“

„Haben Sie denn vor, diese Mittel einzusetzen?“, fragte er und versuchte, so harmlos wie möglich zu klingen. Wenn sie jetzt „Ja“ sagt, schoss es ihm durch den Kopf und sein Herz pochte rasend, kann sie nichts mehr dementieren, dann ist die Katze aus dem Sack.

Die Ministerin setzte zu einem Nicken an, öffnete den Mund – da geschah etwas Merkwürdiges. Urplötzlich schienen ihre Augen dunkler zu werden, und ihre Miene wechselte zu einem Ausdruck, der Roy erschauern und unwillkürlich einen Schritt zurückweichen ließ. Das war nicht mehr Zorn, es war kalter Hass, der in pulsierenden Wellen von ihr auszugehen schien und den Roy körperlich zu spüren glaubte. In Roy dagegen regte sich die Wut wieder, die er so mühsam zurückgedrängt hatte. Beherrsch dich! Hau drauf, aber beherrsch dich!

Das Phänomen verschwand so schnell wieder, wie es gekommen war. Hermine gewann die Kontrolle über ihre Miene zurück und machte sie wieder hochmütig, jedoch nicht ohne den eigentümlichen Zug von Hass zu behalten.

„Wir werden es nicht nötig haben, diese Mittel einzusetzen!“, antwortete sie und klang dabei fast zickig.

Sie ließ den Blick schnell über die Gryffindors schweifen. Stand denn keiner auf und gab ihr Gelegenheit, ihm das Wort zu erteilen, um den Kerl elegant zum Schweigen zu bringen? Die Gryffindors aber verfolgten das Duell wie alle anderen Anwesenden mit angehaltenem Atem. Außerdem himmelten sie Hermine viel zu sehr an, um auf die Idee zu kommen, ihr Star brauche womöglich Unterstützung.

Roy setzte erneut zum Angriff an, wieder aus einer anderen Richtung:

„Sie haben den 2. Mai zum Feiertag erklärt und alle Hogwarts-Schüler verpflichtet, die Toten der Verteidiger zu ehren.“ Die Slytherins spitzten die Ohren. „Ihnen ist zweifellos bekannt, dass etliche Schüler Angehörige haben, die auf der Gegenseite gekämpft haben und von denen ebenfalls viele gefallen sind?“

„Dann haben sie jetzt die Gelegenheit, sich von dem Gedankengut ihrer Todesserfamilien rückhaltlos und feierlich zu distanzieren.“

„Damit haben Sie, Frau Ministerin, mit dankenswerter Offenheit ausgesprochen, dass Sie eine eventuelle Nicht-Teilnahme als Stellungnahme zu Gunsten der Ziele der Todesser werten.“

„Und wenn?“, fragte Hermine schnippisch und achselzuckend. „Sie haben doch die Wahl oder nicht?“

„Sie haben die Wahl“, bestätigte Roy und sprach nun lauter: „Aber nur die Wahl zwischen zwei Bekenntnissen, von denen sie weder das eine noch das andere ablegen wollen. Wer nicht als Staatsfeind verdächtigt werden will, muss seinen Großeltern aufs Grab spucken. Sie haben nicht das Recht, sie vor eine solche Wahl zu stellen!“

Die Slytherins sprangen auf. Ihr aufgestauter Zorn entlud sich schlagartig in frenetischem Jubel. Endlich sagte es einer!

Hermine wartete ungerührt ab, bis sie sich wieder beruhigt und gesetzt hatten und sagte dann:

„Sie überschätzen sich schon wieder, junger Mann. Ich weiß wohl besser als Sie, welche Rechte das Ministerium hat.“

„Ja?“, fragte Roy, machte eine Kunstpause und fuhr betont freundlich fort: „Frau Ministerin, könnte es sein, dass Sie Macht mit Recht verwechseln?“

Einige Mitglieder des Zaubergamots und hohe Ministerialbeamte taten sich sichtlich schwer, ein süffisantes Grinsen zu unterdrücken. Von den Slytherins erhielt Roy wieder rauschenden Beifall. Er fuhr fort:

„Sie haben gesagt, Magier und Muggel hätten viel voneinander zu lernen. Woher nehmen Sie die Zuversicht, dass sie ausgerechnet das Gute und nicht etwa das Schlechte voneinander lernen?“

„Nun“, versetzte die Ministerin kühl, „es zwingt uns doch niemand, das Schlechte von ihnen zu lernen, oder?“

„Doch, es gibt jemanden, der uns dazu zwingt: Sie!“

Empörtes Gemurmel, Zurufe von den Gryffindors, Jubel von den Slytherins. Die Honoratioren runzelten indigniert die Stirn: Jetzt geht er aber doch zu weit.

„Ach ja?“ Ihre Stimme wurde hämisch. „Was habe ich denn so Schlechtes gelernt, junger Mann?“

„Sie haben zum Beispiel von den übelsten Diktaturen der Muggelwelt gelernt, Termine anzusetzen, zu denen jeder Bürger ein politisches Bekenntnis ablegen muss, bei den Muggeln zum Beispiel, indem er an einem solchen Tag – je nach Staat dem 1. Mai, dem 20. April und so weiter – eine Fahne aus dem Fenster hängen musste. Und wer es nicht tat, wurde als Staatsfeind betrachtet. Also ziemlich genau das, was Sie mit dem 2. Mai vorhaben.“

Roy sprach jetzt lauter, um die Buhrufe der Gryffindors zu übertönen.

„Und was die Gesetze gegen sogenannte Hassrede angeht: Die Muggelstaaten, auf deren Vorbild Sie sich ausdrücklich berufen, haben diese Gesetze nicht aus moralischen Gründen eingeführt, sondern weil sie durch Masseneinwanderung aus anderen Muggelvölkern unkontrollierbare Konflikte künstlich geschaffen haben, die es vorher nicht gab, und nun als Lösung die Schleichfahrt in die Diktatur anbieten. Deshalb die immer schärferen Meinungsgesetze, die Sie uns aber als ‚moralischen Aufschwung‘ verkaufen!“

Roy hatte immer schneller und immer lauter geredet, sein hitziges Temperament verlangte sein Recht.

Unter Buhrufen sprangen die Gryffindors auf. Die Ministerin ignorierte sie, sie fixierte Roy. Eisiger Hass klirrte in ihrer Stimme:

„Welchem Haus gehören Sie an?“

Natürlich wusste sie es genau. Aus welchem Haus sollte einer schon kommen, der so redete?

Roy grinste: „Raten Sie mal!“

Das war frech. „Lümmel!“, murmelten einige Honoratioren.

„Ich stelle mit Bedauern fest“, sagte die Ministerin kalt, „dass Slytherin seine Lektion immer noch nicht gelernt hat. Sie wollen immer noch Ihre vermeintliche“, – sie rümpfte die Nase, als spreche sie von einem übelriechenden Haufen Abfall –, „Reinblütigkeit bewahren…“

„Ich bin Schlammblut!“

Totenstille.

Er hatte „Schlammblut“ gesagt. Er hatte wirklich und wahrhaftig „Schlammblut“ gesagt, und das vor der Ministerin! Einer Ministerin, von der bekannt war, dass sie diesen Ausdruck hasste wie keinen anderen und seine Verwendung verboten hatte.

Selbst Hermine war sprachlos. Sie blickte zum Lehrertisch mit einer Miene, als wolle sie sich vergewissern, dass sie richtig gehört habe. Ihr Blick traf McGonagall und wurde vernichtend: So etwas zieht ihr hier heran!

Dann fixierte sie wieder Roy: „Und Sie als Muggelstämmiger…“ Sie stockte, bebend vor Zorn. Sie hatte sogar vergessen, „Nichtmagischbefähigtemenschenstämmiger“ zu sagen. „Sie als Muggelstämmiger fallen mir und Ihresgleichen in den Rücken? Sie, Sie –“

„Aber Frau Ministerin“, erwiderte Roy mit grimmiger Miene, aber zuckersüß im Ton. Er genoss ihre Fassungslosigkeit. „Sie werden mich doch nicht etwa einen Blutsverräter nennen wollen?“

Genau so hätte sie ihn am liebsten genannt, das sah man ihr an. Aber „Blutsverräter“ war ein typischer Todesserausdruck, der auf ihrer Verbotsliste stand.

Wieder ging eine eiskalte Welle von ihr aus. „Ich will nur eines sagen, junger Mann, und darüber sollten Sie nachdenken: Wenn die Zaubererwelt nach den Prinzipien regiert würde, die Sie offenbar befürworten, dann wären Sie! Nicht! Hier!“

Die Gryffindors jubelten ihr zu. Roy hatte einen Moment lang Zeit, sich seine Antwort zu überlegen. Natürlich hätte er sagen können, und es wäre die Wahrheit gewesen, dass er keineswegs alle muggelstämmigen Zauberer aus der magischen Welt ausschließen wollte. Aber es widerte ihn an, die unverschämte Unterstellung der Ministerin einer Antwort zu würdigen. Hau drauf! Hau endlich drauf! Er konnte nicht anders, er musste sie beleidigen!

„Das mag wohl sein“, knurrte er. „Aber dafür wären Sie auch nicht hier, schon gar nicht als Zaubereiministerin, und ich glaube, das wär’s mir wert!“

Jetzt brachen alle Dämme. Der Saal tobte. Ethelbert konnte sich gerade noch einem seiner Gryffindors entgegenwerfen, der Anstalten machte, Roy von hinten anzuspringen. Sie stießen mit den Köpfen zusammen, und Ethelbert stürzte zu Boden.

„Danke“, schrie Roy in den Lärm hinein.

„Ehrensache“, antwortete Ethelbert, als Roy ihm aufhalf.

„Oje“, fragte Roy, „bist du verletzt?“ Ethelbert blutete am Kopf.

„Schon gut, ich bin ja nicht aus Zucker!“, rief Ethelbert zurück und drückte sich ein Taschentuch auf die Wunde. Auch der andere Junge hatte sich bei dem Zusammenstoß eine Platzwunde am Kopf zugezogen. Der Tumult wurde immer noch lauter. Hermines Sicherheitsauroren zogen ihre Zauberstäbe und bildeten einen engen schützenden Ring um die Ministerin. Weiter hinten sprangen Gryffindors über die Stuhlreihen hinweg auf die immer noch verzückt jubelnden Slytherins zu, um sich auf sie zu stürzen. Erste Zauberstäbe wurden gezückt, da schoss aus McGonagalls Stab ein gleißender bläulichweißer Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall. Schlagartig herrschte Ruhe.

„Ich sagte ja, es besteht Diskussionsbedarf“, stellte sie trocken fest. „Es besteht aber keinerlei Bedarf an einer Kneipenschlägerei. Bei allem Verständnis für die Leidenschaften, die sich an diesen wichtigen Themen entzünden: Wer mit Fäusten statt mit Argumenten kämpft, hat an dieser Schule nichts zu suchen!“

Sie machte eine Pause, während die Schüler betreten dreinsahen.

„Zur Abkühlung begeben sich alle anwesenden Schüler jetzt nach Häusern getrennt und unter Führung ihrer Vertrauensschüler für zwei Stunden in ihre Gemeinschaftsräume: zuerst Slytherin, dann Ravenclaw, dann Hufflepuff und zuletzt Gryffindor.“

Roy und Patricia wandten sich gerade nach rechts, um zu ihren Slytherins zu gehen und sie hinauszuführen, da rief McGonagall ihnen nach:

„MacAllister!“

„Ja bitte, Frau Professor?“

„Sie haben sich der Ministerin gegenüber frech und respektlos betragen, was umso schwerer wiegt, als Sie Vertrauensschüler Ihres Hauses sind. Fünfzig Punkte Abzug für Slytherin!“ Roy nickte und machte sich wieder auf den Weg.

„Das war jetzt nötig, was?“, zischte Patricia ihm zu, als sie an den Stuhlreihen entlang zu den Slytherins gingen.

„Gelohnt hat es sich“, erwiderte Roy gleichmütig. Er sah Albus auf sie beide zu nach vorn eilen. „Nanu, wo willst du denn hin? Gleich ist Abmarsch.“

„Ich weiß“, sagte Albus, „aber ich würde mich gern noch von meiner Tante verabschieden, ich sehe sie so schnell nicht wieder. Meinst du, das geht?“

„Wenn’s nicht allzu lang dauert, meinetwegen, aber…“ Er drehte sich um. Die Gryffindors waren dabei, ihre Sitzreihen zu verlassen. „Wenn du zu ihr willst, musst du mitten zwischen den Gryffindors durch, und bei der aufgeheizten Stimmung… hm.“

Da wandte Patricia sich an Albus: „Wenn du willst, begleite ich dich, dann kann ich mich auch gleich von meinem Opa verabschieden. Mich werden sie bestimmt durchlassen.“

Während Roy bewusst langsam die Slytherins einsammelte, die ihm zugrinsten, die Daumen hochreckten und ihn in die Rippen knufften, ging Albus mit Patricia nach vorn. Die Gryffindors sahen sie beide mürrisch an, ließen sie aber anstandslos passieren.

Als er sich seiner Tante näherte, die auf Dagobert Higrave einredete, hörte er sie sagen: „Ich will alles wissen, was über den Kerl in den Akten steht! Alles andere erfrage ich mir heute noch selbst, aber von Ihnen erwarte ich ein vollständiges Dossier, und zwar noch morgen früh! Und ich will wissen, was es sonst noch an Todessern in Slytherin gibt! Diese Pest müssen wir ausrotten!“ Albus erstarrte.

Kein Zweifel, es war Hermine, aber zugleich war sie es auf eine unheimliche Weise nicht. Nicht, was sie sagte, ließ ihn wie festgefroren innehalten, sondern wie sie es sagte, wie sie dabei aussah und welche undefinierbare, schreckenerregende Aura sie umgab. Das war nicht einfach eine energische Chefin: Hass stand in ihren Zügen, und Kälte ging von ihr aus, eine Kälte, die er nie an ihr wahrgenommen hatte. Mit zitternden Knien stand er da und starrte sie an. Patricia, die gleichzeitig mit ihm ruckartig stehengeblieben war, flüsterte ihm zu:

„Du, ich glaube, wir gehen besser – wir… wir stören hier, glaube ich.“

Albus nickte, drehte sich um und ging eilends zurück. Am liebsten wäre er vor Angst schreiend davongerannt, aber er riss sich zusammen. Glücklicherweise hatte auch Patricia es sehr eilig, dem gruseligen Dunstkreis der Ministerin zu entkommen. Ganz gegen ihre Gewohnheit drängte sie sich unsanft durch die Pulks der Gryffindors, während Albus ihr dicht auf den Fersen blieb.

„Na, das war aber ein kurzer Abschied von deiner Freundin“, empfing ihn Roy, der die Szene offenbar nicht mitbekommen hatte. Albus konnte gerade noch ein Schluchzen hinunterwürgen. Meine Freundin. Meine beste Freundin.

Roy sah etwas verdutzt drein, als Albus ihm nicht antwortete, sondern sich mit gesenktem Kopf zwischen den Slytherins einreihte, die immer noch triumphierend glucksten und kicherten.

„Gut, wir sind vollzählig. Ab zum Gemeinschaftsraum!“

 

***

 

Als sie im Gemeinschaftsraum ankamen, wich die mühsam gewahrte Disziplin der Slytherins einer aufgekratzten Siegerstimmung. Bei Licht betrachtet konnte zwar von einem Sieg nicht die Rede sein, bestenfalls von einem Unentschieden, aber allein die Tatsache, dass einer der ihren der Ministerin einmal so richtig die Meinung gesagt und sie obendrein ins Schwitzen gebracht hatte, war für die Slytherins so gut wie ein Sieg. Sie prosteten Roy zu, klopften ihm auf die Schulter, als wollten sie ihm blaue Flecken verpassen, manche hüpften kindisch umher, alle redeten lautstark durcheinander. Patricia und ihre Freunde hielten sich ein wenig abseits, aber selbst sie konnten sich ein gewisses Grinsen der Genugtuung nicht verkneifen.

Der einzige, dem nicht zum Lachen und schon gar nicht zum Feiern zumute war, war Albus. Er wollte allein sein, niemanden sehen, niemanden hören. Er schlich wie ein geprügelter Hund in den Schlafsaal, zog alle Vorhänge seines Himmelbetts zu, warf sich auf den Bauch, vergrub seinen Kopf in den Armen und weinte hemmungslos.

Er brauchte eine ganze Weile, um sich wieder zu beruhigen. Er setzte sich auf, schlang die Arme um seine angezogenen Knie, stützte sein Kinn darauf und starrte ins Halbdunkel seines Himmelbetts. Er verstand, dass die anderen feierten, aber er, für den soeben eine Welt eingestürzt war, fühlte sich davon ausgeschlossen und furchtbar einsam.

Er hörte, dass jemand die Tür zum Schlafsaal öffnete. Der Lärm von draußen wurde kurz lauter, dann wurde die Tür wieder geschlossen.

Albus?“ Es war Roy.

„Ja?“, sagte Albus leise.

„Kann man mit dir reden?“

„Ja, natürlich.“ Er schlug den Vorhang zurück.

Roy sah in zwei verweinte Augen und wusste nicht, was er sagen sollte. Er setzte sich auf die Bettkante. Eine Weile saßen sie schweigend da. Dann sagte Roy leise:

„Ich konnte sie nicht mit Samthandschuhen anfassen.“

„Ich weiß. Ich hatte es auch nicht erwartet.“

„Aber es hat dich trotzdem mitgenommen.“

„Nein, Hermine sagt selber immer, als Politiker muss man mit Kritik leben. Und du warst echt cool.“

„Ja, aber…“ Roy stutzte. „Warum bist du dann so niedergeschlagen?“

Albus seufzte tief. Wie sollte er ihm erklären, was er gerade gesehen hatte?

„Als ich mich von ihr verabschieden wollte, habe ich sie gesehen und gehört, und… Es war so furchtbar. Als wenn sie gar nicht sie selbst wäre.“

Roy horchte auf. „Wie meinst du das?“

„Ich weiß auch nicht. Als wenn da plötzlich ein anderer Mensch wäre, der nur wie sie aussieht. Ganz anders als noch heute Morgen. Ich habe etwas gesehen, das ich noch nie an ihr gesehen habe, und ich habe es gespürt, so merkwürdig, so…“ Er sprach nicht weiter.

„Eine Welle von kaltem, teuflischem Hass, nicht wahr?“

Albus nickte. Dann sah er auf: „Woher weißt du das, du warst doch gar nicht dabei?“

Roy lächelte traurig. „Ich habe es während der Debatte auch erlebt, nicht von Anfang an, ganz plötzlich war diese grausame Kälte da.“

„Ja, aber so ist sie nicht, das ist sie nicht! Das ist nicht sie!“, rief Albus verzweifelt. „Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist!“

Roy fixierte nachdenklich einen imaginären Punkt an der Wand. „In sie gefahren…“

„Ob sie vielleicht krank ist? Oder vielleicht unter einem Zauber steht, einem Fluch vielleicht?“, fragte Albus. „Gibt es so etwas?“

Roy war gerührt. Um nichts auf der Welt würde er etwas Schlechtes über sie denken, der kleine Prachtkerl!

„Ja, so etwas gibt es durchaus. Aber wenn du es genauer wissen willst, frag lieber deinen Vater. Der kennt sich von Berufs wegen mit so etwas aus.“

Roy erhob sich. „Wie ist es, kommst du wieder mit runter?“

„Lass mich bitte noch ein bisschen allein.“

„Na klar.“ An der Tür hielt Roy noch einmal inne.

Eine Krankheit? Ein Fluch?

Er verließ den Schlafsaal.

 

***

 

Da McGonagall die Schüler hinausgeschickt hatte, die Presse freundlich hinauskomplimentiert worden war und Hermine die ausländischen Diplomaten mit größter Liebenswürdigkeit verabschiedet hatte, war die Große Halle fast leer, nur der Lehrertisch war bevölkert. Man hatte ihn etwas vergrößert, damit die Ministerin ihr Mittagessen gemeinsam mit Ehrengästen und Lehrern einnehmen konnte. Sie hatte sich beruhigt, der unheimliche Ausdruck war aus ihrer Miene verschwunden und einer gewissen, wenngleich durch gute Erziehung gezügelten, Übellaunigkeit gewichen.

Die Anwesenden ergingen sich in Smalltalk; niemand wollte riskieren, gegenüber der missvergnügten Ministerin etwas Falsches zu äußern. Sie waren bereits beim Dessert, einer phantastischen Himbeercreme, als Hermine mit einem Mal McGonagall scharf fixierte. Es platzte regelrecht aus ihr heraus, und zwar ziemlich laut:

„Wie kann es sein, dass ein solcher Kerl Vertrauensschüler ist?“ Schlagartig verstummten alle Gespräche. „Wie kann es sein, dass er hier in Hogwarts überhaupt geduldet wird?“

McGonagall zog überrascht die Augenbrauen hoch. Sie überlegte einen Moment und erwiderte dann kühl:

„Er ist einer unserer besten Schüler, genießt Vertrauen und hohe Autorität bei seinen Mitschülern, einschließlich der Gryffindors übrigens, und zeichnet sich durch höchste Loyalität gegenüber den Prinzipien der magischen Welt im Allgemeinen und Hogwarts im Besonderen aus. Dies zu Ihrer Frage, warum er Vertrauensschüler ist.“ Einige Lehrer, die ihr von seiner Ernennung abgeraten hatten, warfen ihr leicht indignierte Blicke zu. „Was Ihre zweite Frage betrifft – Verzeihung, aber Sie wollten mir doch sicherlich nicht nahelegen, ihn der Schule zu verweisen?“

Ihre Blicke bohrten sich ineinander.

„Ich frage mich“, antwortete die Ministerin schließlich, „was einer eigentlich alles anstellen muss, um von dieser Schule verwiesen zu werden.“

„Für seinen impertinenten Ton ist er bestraft worden“, erwiderte McGonagall, deren Augen sich bedrohlich zu verengen begannen. „Aber es wird niemand dieser Schule verwiesen, nur weil er anderer Meinung ist als das Ministerium. Das gilt für Mister MacAllister heute ebenso, wie es seinerzeit für Sie galt.“

„Das kann man wohl kaum vergleichen. Wozu haben wir die Todesser eigentlich besiegt, wenn wir jetzt dulden, dass ihr Gedankengut immer noch oder schon wieder in Hogwarts verbreitet wird?“

„Erstens verbreitet MacAllister kein Todesser-Gedankengut…“

„Ach nein?“, warf die Ministerin schnippisch ein. „Dass man unsere Toten nicht ehren und den Todessern nicht aufs Grab spucken darf…“

„…hat er nicht gesagt!“, unterbrach McGonagall sie nun ihrerseits. „Er hat gesagt, dass man ihre Familienangehörigen nicht dazu zwingen darf, und das ist etwas vollkommen anderes und ein völlig legitimer Standpunkt. Zweitens ist es hier in Hogwarts gute Tradition, falsche Ansichten mit richtigen Argumenten zu widerlegen, nicht mit disziplinarischen Maßnahmen.“

„Ich fürchte, das ist genau die Art von Tradition, die uns einen Voldemort erst eingebrockt hat. Das ist die Art Naivität, die von diesen Leuten gnadenlos ausgenutzt wird!“

„Naiv?“ McGonagalls Gesicht bekam wieder etwas Falkenartiges. „Sie nennen mich naiv? Naiv wäre ich vielleicht, wenn mir entginge, dass Sie den Kampf gegen abweichende Meinungen in Ihrer Rede sehr deutlich mit der Durchsetzung Ihrer Politik in Verbindung gebracht haben, jetzt aber so tun, als ginge es darum, eine Rückkehr der Todesser zu verhindern.“

„Das eine lässt sich vom anderen nicht trennen!“, rief die Ministerin erregt. „Ohne eine gewisse Öffnung gegenüber der nichtmagischen Welt werden wir in die alten schlechten Muster zurückfallen. Und ja, dann kehren sie zurück!“

„Das heißt also im Klartext: Wer gegen Sie und Ihre Politik ist, ist automatisch ein Todesser?“

„Ich würde es etwas differenzierter ausdrücken, aber im Grunde haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen.“

„Ich verstehe“, sagte McGonagall, die ihren Zorn mühsam zügelte. „Der Erziehungsauftrag von Hogwarts soll also in Zukunft darin bestehen, die Schüler zur Unterstützung der Politik des Ministeriums zu erziehen, weil sonst ja automatisch die Todesser zurückkehren. Und Schüler, die sich dem verweigern, müssen wegen ihres schlechten Einflusses auf ihre Mitschüler der Schule verwiesen werden. Richtig?“

„Wenn Sie es durchaus so zugespitzt formulieren möchten – Ja.“

McGonagall atmete tief durch.

„Ich will Ihnen mal was sagen: Hier in Hogwarts werden die Schüler zur Disziplin erzogen, aber zu Kriechern und Jasagern erziehen wir sie nicht. Und solange ich hier Schulleiterin bin, bleibt das auch so!“

„Nun“, erwiderte die Ministerin ungerührt, „es steht Ihnen natürlich frei, Ihren Posten zur Verfügung zu stellen…“ – „Das könnte Ihnen so passen!“, schnaubte McGonagall dazwischen – „Ich würde es zutiefst bedauern“, flocht Hermine eine Höflichkeitsfloskel ein, „aber Sie werden schon einsehen müssen, dass das Ministerium in Fragen von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Zaubererwelt keine Konzessionen machen kann.“

„Das ist das Vorgehen einer Diktatur.“

„Nein“, erwiderte die Ministerin mit stoischer Ruhe, „das sind die notwendigen Maßnahmen zur Verhinderung einer Diktatur.“

McGonagall schwieg. Dann sagte sie leise: „Mister MacAllister hat mir vor einigen Tagen vorhergesagt, dass Sie genau das sagen würden, was Sie heute tatsächlich gesagt, und genau das tun würden, was Sie heute angekündigt haben. Und ich habe es als Hirngespinst abgetan! Weil ich Vertrauen zu Ihnen hatte!“

Sie klang bitter, als sie ihre alte Lieblingsschülerin fragte:

„Was ist nur aus Ihnen geworden?“

Hermine legte ihre Serviette beiseite, stand auf und sagte kalt:

„Ich glaube nicht, dass ich mir das anhören muss. Bevor ich nach London disappariere, möchte ich noch einmal in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors. Neville,“ wandte sie sich an Longbottom, „ich kenne das aktuelle Passwort nicht. Bringst du mich hin?“

„Ja, natürlich gerne“, sagte Neville und erhob sich ebenfalls.

Hermine verabschiedete sich von allen Anwesenden, auch McGonagall, mit Handschlag, und verließ dann mit Neville, ihre Sicherheitszauberer im Schlepptau, die Große Halle.

 

„Wurde wirklich Zeit, dass ich hier nach dem Rechten sehe“, schimpfte Hermine sofort los, nachdem die Sicherheitszauberer das Portal hinter ihnen geschlossen hatten. „In allen Berichten steht, mit Slytherin sei alles in Ordnung, das Haus sei auf dem besten Weg, es sei geläutert und so weiter. Dann komme ich hierher, und was finde ich vor? Einen Augiasstall voller Todesser!“

Neville wollte etwas sagen, aber Hermine redete weiter:

„Ich dachte, unsere Leute in Slytherin hätten alles im Griff. Von wegen! Ich habe jetzt gesehen, wer Slytherin wirklich im Griff hat! McGonagall wird alt. Alt, naiv, borniert und sentimental. Da muss einer nur ein guter Schüler sein, und schon hat er Narrenfreiheit. War Voldemort etwa kein guter Schüler? Ha! Hauptsache, die Leistung stimmt! Muss wohl eine Berufskrankheit von Lehrern sein!“

Sie hielt inne. „Entschuldige bitte, Neville, das war jetzt ungerecht. Betrachte den letzten Satz bitte als nicht gesagt!“

„Kein Problem“, murmelte Neville, zögerte und fragte dann: „Warum möchtest du eigentlich zu den Gryffindors?“

„Erstens will ich mich um meine Fans kümmern und ihnen eine Freude machen. Zweitens einmal vor meiner Abreise noch mit Leuten sprechen, die mich nicht unablässig kritisieren. Drittens Erkundigungen einziehen. Und bis wir dort sind, kannst auch du mir vielleicht auch ein paar Auskünfte geben.“

Neville, der während ihres Monologs neben ihr hergetrottet war, sah sie ein wenig unsicher von der Seite an: „Was, äh, möchtest du denn wissen?“

„Zum Beispiel alles, was du über diesen MacAllister weißt.“

„Nun ja, er ist muggelstämmig, äh, ich meine, er stammt von Nichtmagiern ab. Kommt aus ziemlich, ähm, schwierigen Verhältnissen. Seine Mutter arbeitete früher als Kellnerin in einem Nachtclub, soviel ich weiß, soll aber schon seit Jahren arbeitslos sein. Der Vater ist unbekannt…“

„Unbekannt?“ Hermine runzelte die Stirn. „Woher will er dann wissen, dass sein Vater nicht ein Zauberer ist?“

„Er weiß es nicht. Aber wenn er behaupten würde, er sei einer, würden seine Mitschüler Fragen nach der Familie stellen, aus der er stammt. Unsere Welt ist schließlich ziemlich klein. Wenn er aber sagt, sein Vater sei Muggel, fragt niemand nach. So kommt er nicht in die Verlegenheit, zuzugeben, dass er es nicht weiß.“

„Ich verstehe“, murmelte Hermine.

„Hör mal, Hermine, du behältst das doch für dich, oder? Außer der Schulleitung und einigen Lehrern weiß es niemand, und es geht auch keinen was an.“

„Selbstverständlich!“, sagte Hermine mit Nachdruck. „Ich habe nicht vor, in anderer Leute schmutziger Wäsche zu wühlen. Mit geht es nur um den Hintergrund. Ist er der einzige, der die Slytherins aufhetzt, oder ist es eine Gruppe?“

„Er ist nicht der einzige“, meinte Neville, „er hat einen kleinen Kreis von Freunden um sich geschart. Dem Vernehmen nach nennen sie sich ‚die Unbestechlichen‘.“

„Ach, und alle anderen sind dann wohl korrupt?“ Hermine schnaubte. „Was für eine Arroganz!“

„Sie halten jedenfalls zusammen wie Pech und Schwefel, und als Gruppe üben sie einen enormen Einfluss aus. Viele Slytherins bewundern sie und hören auf sie.“

„Ja, natürlich, ganz wie bei dem jungen Tom Riddle.“ Hermine zog eine Miene grimmiger Genugtuung, als hätte sie es schon immer gesagt. „Wer sind diese Leute?“

„Nun ja, man kann sie nicht über einen Kamm scheren, sie sind ganz unterschiedlich…“

„Ich habe nicht gefragt, wie sie sind, sondern wer sie sind. Ich will die Namen!“

Neville schluckte. Hermine, die sein Zögern bemerkte, blieb ruckartig stehen und packte ihn am Arm: „Du stehst doch auf meiner Seite, oder?“

„Natürlich stehe ich auf deiner Seite!“, rief Neville gekränkt. Sie waren seit ihrem ersten Schuljahr in Hogwarts befreundet. Wie konnte sie ihn nur so etwas fragen!

„Also“, hob Neville an, während sie langsam die erste Treppe emporstiegen, „da ist zunächst sein engster Freund Julian Lestrange…“

Lestrange?“

Bellatrix‚ Enkel.“

Hermine dachte scharf nach. „Die Lestranges hatten Kinder? Auf dem Stammbaum der Blacks am Grimmauldplatz war keines erwähnt.“

„Ich glaube, Bellatrix war schon im Untergrund, als sie ihren Sohn zur Welt brachte“, meinte Neville. „Vielleicht hat die alte Mrs. Black nichts mehr von ihm erfahren. Vielleicht wollte sie den Namen ihres Großneffen aber auch nicht eintragen, nachdem seine Verwandten ihn in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Frankreich entführt hatten und sie damit rechnen musste, den Namen irgendwann wieder löschen zu müssen, so wie den von Sirius. Jedenfalls hatte Bellatrix einen Sohn, und dessen Sohn wiederum ist Julian.“

„Und du Ärmster musst auch den unterrichten?“

„Ja“, antwortete Neville, „und ich lege Wert darauf, ihn fair zu behandeln. Er kann nichts für seine Großeltern.“

Er stand auf Hermines Seite, und doch vertraute er ihr weniger an, als er Albus erzählt hatte.

„Dann gibt es noch Ares Macnair. Er wurde im Exil geboren, nachdem sein Vater außer Landes geflüchtet war. Ach ja, das wollte ich dich schon immer fragen: Wie kommt es eigentlich, dass der alte Macnair nicht sofort verhaftet wurde, als er mit seiner im Exil gegründeten Familie nach England zurückkehrte?“

„Wir hatten damals einen Deal mit dem Zaubereiministerium seines Exillandes ausgehandelt“, erinnerte sich Hermine. „Indem wir Macnair Straffreiheit zusicherten, erreichten wir, dass einige Zauberer aus diesem Land, die in England Zuflucht gesucht hatten, ihrerseits unbehelligt in ihre Heimat zurückkehren konnten. – Also ein Lestrange und ein Macnair“, seufzte sie, „immer wieder dieselben Namen. Wer gehört noch zu der Gruppe?“

„Das war’s jetzt mit den bekannten Todessernamen. Ein Mädchen ist dabei, Arabella Wolfe. Ihre Mutter führt eine kleine Buchhandlung, der Vater hat die Familie früh verlassen. Eine gute Schülerin, aber eine eher stille Natur, wirkt manchmal fast ein bisschen traurig. Trotzdem sehr beliebt bei ihren Mitschülerinnen, sie hat so etwas Mütterliches. Eigentlich war sie diejenige, die Vertrauensschülerin für Slytherin werden sollte. Glücklicherweise ließ McGonagall sich davon überzeugen, dass neben MacAllister nicht auch noch die Vertrauensschülerin aus dieser Clique stammen sollte. Deshalb wurde Patricia Higrave ernannt. – Dann gehört zur Gruppe Orpheus Malagan, ein Künstler und Poet, ganz wie sein Vater. Du hast sicher von William Malagan gehört?“

Hermine lächelte. „Ich habe Rose und Hugo alle seine Bücher vorgelesen, als sie klein waren.“ Ihr Lächeln erstarb. „Und so einer hat so einen Sohn?“, fragte sie ungläubig.

„Er ist verträumt und ein Querkopf, und letzteres verbindet ihn wohl mit MacAllister. MacAllister pflegt enge, aber nicht sehr viele Freundschaften. Er ist, wenn auch auf seine ruppige Art, hilfsbereit zu allen Mitschülern, aber die Ehre, sich seine Freunde nennen zu dürfen, gewährt er nur wenigen. Seine Freunde sind eigentlich nur diejenigen, die ich eben genannt habe, und sonst nur, tja…“

Hermine wurde neugierig. „Lass hören, mit wem ist er noch befreundet?“

„Mit Albus Potter.“

Hermines Kinnlade fiel herunter.

Albus?“, flüsterte sie entgeistert.

„Du weißt doch, dass er in Slytherin ist.“

„Selbstverständlich weiß ich das, es war das erste, was Rose mir geschrieben hat. Ich hatte mich sogar darüber gefreut. Ich glaubte, er würde sich an unsere Leute halten und in einigen Jahren, wenn er älter ist, seinen Teil dazu beitragen, dass Slytherin endgültig und aus wirklicher Überzeugung auf unsere Linie einschwenkt. Und nun ist er mit diesem MacAllister befreundet. Harrys Sohn! Ich fasse es nicht! Wissen Ginny und Harry das eigentlich?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Neville achselzuckend. „Von mir nicht.“

Sie dachte nach. „Aber wie kann es sein, dass ein Sechzehnjähriger mit einem Elfjährigen befreundet ist? Befreundet! Das setzt doch eine gleiche Ebene voraus, die gar nicht gegeben sein kann.“

„Ich will damit auch nur sagen, dass MacAllister sich offensichtlich um ihn bemüht, und dass das für ihn sehr ungewöhnlich ist. Albus wiederum scheint ihn zu bewundern, wie ein elfjähriger Junge einen älteren eben bewundert, den er cool findet. Ob man es wirklich eine Freundschaft im vollen Sinne des Wortes nennen kann, lasse ich dahingestellt.“

„Das wäre natürlich ein Fang für sie“, murmelte sie. „Der Sohn des Bezwingers von Voldemort wechselt die Seiten. Was ist mit den anderen aus der Gruppe? Ist er mit denen womöglich auch befreundet?“ Hermines Tonfall glich immer mehr dem einer ermittelnden Staatsanwältin.

„Er versteht sich ganz gut mit Lestrange, soweit ich das beurteilen kann, aber sonst: nein.“

Hermine schüttelte den Kopf. „Mein eigener Neffe…“

„Hat er eine Wahl?“, verteidigte Neville ihn. „Er ist nun einmal in Slytherin und muss sich dort seine Freunde suchen, nachdem die Gryffindors überhaupt nicht mehr mit ihm reden, es sei denn, um ihn zu beleidigen. Sie treiben ihn seinen fragwürdigen neuen Freunden doch geradewegs in die Arme!“

Hermine blieb stehen. „Alle? Alle Gryffindors?“, fragte sie ungläubig.

„Ja, Hermine, alle Gryffindors, auch James.“ Er zögerte. „Und Rose.“

Hermines Lippen wurden schmal. „Ich glaube, es war eine sehr gute Idee, die Gryffindors zu besuchen. Ich werde wohl mit einigen Leuten ein ernstes Wort reden müssen. – Du hast das Passwort im Kopf?“, fragte sie mit einem gewissen zweifelnden Unterton. Nevilles Vergesslichkeit, was Passwörter anging, war berüchtigt.

„Ich habe mir wieder angewöhnt, es mir aufzuschreiben“, sagte er stolz. „Der Zettel ist in meinem, äh…“ Er lief rot an.

Zu spät. Schon waren sie vor dem Portrait der fetten Dame angekommen, die den Eingang zum Gemeinschaftsraum bewachte.

„Passw…“, hob sie an, dann rief sie aus ihrem Bild heraus: „Miss Granger! Oh Verzeihung, Frau Ministerin! Sie beehren uns? Dass ich das noch erleben darf!“ Sie rückte hektisch ihre Frisur zurecht.

Hermine lächelte ihr zu. „Schön, Sie wiederzusehen! Würden Sie mich bitte hereinlassen?“

„Für Sie verzichte ich heute erstmals in den vielen Jahrhunderten meiner Laufbahn aufs Passwort. Treten Sie ein!“, rief sie, und das Portrait schwang zur Seite. Neville atmete auf.

„Ich weiß die Ehre sehr zu schätzen“, erwiderte Hermine wohlerzogen, umarmte Neville zum Abschied und kletterte durch das Loch in den Gemeinschaftsraum.

7 – Versöhnung mit den Gryffindors?

 

Albus ging als einer der letzten Slytherins zum Mittagessen, da die anderen es nach Ablauf der zwei Stunden, die McGonagall sie in ihre Gemeinschaftsräume verbannt hatte, sehr eilig gehabt hatten, zu Tisch zu kommen. So kamen ihm aus der Großen Halle schon zahlreiche Schüler entgegen, als er dort ankam.

„Hallo Albus!“, sprach jemand ihn an. Es war Victoire, die für ihn ihr breitestes Veela-Lächeln aufgesetzt hatte.

„Nanu?“, fragte er verdutzt und fuhr mit sachter Ironie fort: „Du erinnerst dich an meinen Namen? Ich dachte, bei euch heiße ich nur noch Slytherin.“

„Ich hoffe, du bist deswegen nicht mehr eingeschnappt. Ewig kann das ja nicht so weitergehen, dass wir nicht miteinander reden.“

„Es hätte gar nicht erst anfangen dürfen“, versetzte Albus knapp. „Trotzdem herzlichen Glückwunsch zu deiner Einsicht.“

Auf Victoire war er besonders schlecht zu sprechen. Er fand, sie als Ältere und noch dazu Vertrauensschülerin hätte vernünftiger sein und den anderen ins Gewissen reden sollen, statt sich an ihrem kindischen Boykott zu beteiligen. Außerdem erinnerte er sich noch zu deutlich an die zehn Punkte, die sie Slytherin seinetwegen abgezogen hatte. Erwartete sie jetzt etwa, dass er ihr unter Freudentränen um den Hals fiel?

„Entschuldige, aber ich habe Hunger. Mach’s gut!“, rief er ihr im Weitergehen zu.

„Wir sehen uns“, erwiderte sie.

Nicht, wenn ich’s verhindern kann! dachte Albus, trat durch das Portal und steuerte auf den Slytherin-Tisch zu, an dem nur noch wenige Schüler saßen, darunter allerdings Scorpius, der sich beim Essen offenbar Zeit gelassen hatte.

„Na endlich“, begrüßte ihn Scorpius. „Ich dachte schon, du kämst nicht mehr.“

„Musste ein bisschen nachdenken. Jetzt habe ich aber richtig Kohldampf.“ Und er lud sich eine Riesenportion Spaghetti auf den Teller und wickelte den ersten Bissen auf seine Gabel. Als er sie zum Mund führen wollte, tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Es war James.

„Hallo Al“, grinste dieser ihn an.

„Hallo Gryffindor“, raunzte Albus zurück. Sein Groll auf seinen Bruder war kaum geringer als der auf Victoire. Außerdem hatte er jetzt wirklich Hunger, und der Duft seiner Spaghetti wuchs sich mit jeder Sekunde, die er sie nicht essen konnte, zur reinsten Folter aus.

James tat, als hätte er es nicht gehört. „Ich treffe mich nachher mit ein paar Freunden zum Quidditch. Kein offizielles Spiel, nur zum Spaß, aber wir haben das Stadion für uns. Wie ist es, hast du Lust?“

Albus blickte erstaunt zu ihm auf. Noch nie hatte sein Bruder ihn eingeladen mitzukommen, wenn er etwas mit seinen Freunden unternahm. Noch vor zwei Wochen wäre er über eine solche Einladung entzückt gewesen. Aber in diesen zwei Wochen hatte sich allzu viel verändert.

„Das ist sehr nett von dir“, sagte er schließlich höflich. „Vielen Dank, aber ich habe heute etwas Anderes vor. Ein andermal vielleicht.“

„Na gut, wenn du es dir noch anders überlegst, findest du uns im Stadion“, antwortete James leicht pikiert und ging. Endlich konnte Albus sich die Spaghetti in den Mund schieben.

„Das war jetzt schon der zweite heute“, nuschelte er mit vollem Mund in Richtung Scorpius.

„Der zweite was?“

„Der zweite aus meiner lieben Familienbande, der plötzlich wieder mit mir redet. Victoire hat mich auch schon angesprochen.“

„Freu dich doch“, meinte Scorpius. „Du hast doch die ganze Zeit darunter gelitten, wie sie mit dir umgegangen sind.“

Albus, aus dessen Mund wieder Spaghetti hingen, grunzte unbestimmt.

„Was ist das eigentlich, was du heute noch vorhast?“, fragte Scorpius interessiert.

„Ich habe gar nichts vor“, antwortete Albus, der seine Spaghetti inzwischen hinuntergeschluckt hatte. „Ich sehe nur nicht ein, dass ich springe, nur weil mein Herr Bruder sich in seiner Güte herablässt, mich herbeizuschnipsen.“

„Hast du Lust, heute Nachmittag Zauberschach mit mir zu spielen?“

„Klar, gern“, sagte Albus, der sich schon einen Nachschlag auf seinen erst halbleeren Teller lud.

„In einer halben Stunde im Gemeinschaftsraum?“

„Mhmm“, nickte Albus mit vollem Mund.

„Na, dann iss erstmal in Ruhe zu Ende“, sagte Scorpius und stand auf. „Lass in deinem Bauch noch Platz für den Nachtisch. Die Himbeercreme ist umwerfend!“ Sie nickten einander zu, und Scorpius ging hinaus.

Albus schaufelte das Essen in sich hinein, als sei ab morgen eine Hungersnot angesagt. Vom Dessert nahm er noch zwei Portionen, dann endlich war er satt. Jetzt ging es ihm besser. Er versuchte, jeden Gedanken an Tante Hermine zu verdrängen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Diese Pest müssen wir ausrotten! Was sie wohl damit meinte?

Das Grübeln tat ihm nicht gut. Schachspielen würde ihn auf andere Gedanken bringen. Er erhob sich, um zum Slytherin-Gemeinschaftsraum zu gehen. In der Eingangshalle sah er Rose, die bei seinem Anblick auf ihn zueilte.

„Hallo, Albus!“, rief sie.

Albus blieb wie angewurzelt stehen. Rose wollte er nicht so anpflaumen wie James. Trotzdem klang er schroff: „Hallo Rose, was gibt’s?“

Rose wirkte verlegen: „Ich wollte dich fragen, ob du mit mir ein bisschen spazierengehst?“

Albus sah sie entgeistert an. „Sag mal, hat Neville euch eine Art Benimmdich-Elixier in den Kürbissaft geschüttet? Du bist jetzt die dritte Gryffindor hintereinander, der urplötzlich einfällt, dass sie mit mir befreundet ist.“

„Das ist mir nicht urplötzlich eingefallen“, protestierte sie, „das war mir immer klar.“

„Ach ja? Mir nicht!“

„Ich konnte nichts machen, die Gryffindors waren alle gegen dich. Aber das kann ja so nicht ewig weitergehen!“

„Eigenartig, genau das hat Victoire auch gesagt. Wörtlich! Und wie kommt es, dass euch das allen gleichzeitig einfällt?“

Rose errötete. „Na ja… Mama hat uns vorhin noch im Gemeinschaftsraum besucht und dann mich, James und Victoire beiseite genommen und uns deinetwegen ziemlich zusammengestaucht.“

Einen Moment lang strahlte Albus. Seine Hermine hatte sich trotz ihrer vielen Verpflichtungen Zeit genommen und für ihn Partei ergriffen.

Dafür ist sie eigens zu euch in den Gemeinschaftsraum gekommen?“

„Na ja…“ Rose errötete ein wenig. „Nicht nur dafür, sie hat die Gryffindors insgesamt besucht und uns allen Tipps gegeben.“

„Was für Tipps denn?“, fragte Albus verblüfft.

Rose errötete noch ein wenig mehr. „Das hat nichts mit dir zu tun“, sagte sie hastig.

„Aha. Na gut“, meinte Albus etwas ratlos. „Aber sag mal, woher wusste sie denn, dass ihr nicht mit mir redet? Ich habe euch nicht verpetzt.“

„Das weiß ich doch. Sie wusste es von Neville.“

Von demselben Neville, der ihn vor Roy gewarnt hatte. Vor demselben Roy, in dem Hermine eine auszurottende Pest sah.

„Ich verstehe…“ murmelte er.

„Also kommst du mit?“, fragte Rose hoffnungsvoll. Und setzte, als er zögerte, nach: „Al! Wir sind doch Freunde!“

Albus überlegte. Natürlich war es verlockend, die letzten zwei Wochen mit einem ‚Schwamm drüber‘ zu erledigen und wieder mit ihr befreundet zu sein. Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen. Etwas Undefinierbares. Was Roy wohl an seiner Stelle täte? Na klar:

„Ehrlich gesagt“, sagte er und klang ziemlich abweisend, „möchte ich keine Freunde haben, die das auf Anweisung der Zaubereiministerin sind.“

„Was heißt hier Zaubereiministerin?“ Rose war empört. „Sie ist meine Mutter!“

„Das macht es auch nicht viel besser“, antwortete er trocken. „Und Freunde, die sich zu mir wie Schweine benehmen, nur weil ALLE sich wie Schweine benehmen, und die gegen mich sind, wenn ALLE gegen mich sind, solche Freunde brauche ich nicht.“

Rose lief wieder rot an, und man wusste nicht genau, ob es Zorn- oder Schamröte war. Jetzt wurde sie zickig:

„Das hätte ich mir ja denken können, dass du so reagierst! Was soll man von einem Slytherin auch anderes erwarten?!“

Selbstverständlich sollte das eine Beleidigung sein, Albus aber erfüllte sie mit Stolz.

„Du sagst es, Rose.“

8 – Die Unbestechlichen

 

Albus legte die Hand auf den Schlangenkopf und wurde von der Kobra mit dem schon vertrauten „Guten Tag, Albus“ empfangen. Wenn andere dabei waren, überließ er es ihnen, die Tür zu öffnen, damit sie ihn nicht Parsel sprechen hörten. Da er heute aber allein war, antwortete er freundlich:

„Guten Tag, wie heißt du eigentlich?“

„Cassiopeia“, antwortete sie.

„Bist du wirklich eine echte Schlange, die nur verzaubert ist?“

„Gewiss.“

„Und langweilst du dich nicht als Türverzierung? Ich stelle mir das schrecklich öde vor.“

„Ach weißt du, wir Schlangen sind von Natur aus ziemlich faul, wir bewegen uns eigentlich nur, wenn wir Hunger haben, uns verteidigen oder unsere Brut schützen müssen. Als Türschmuck habe ich keinen Hunger und keine Brut, und bedroht werde ich auch nicht. Ich habe es besser als eine nicht verzauberte, normal lebende Kobra. Ich brauche mich überhaupt nicht zu bewegen. Außerdem würde ich das Wetter auf eurer verregneten Insel nicht gut vertragen.“

„Und wenn dich jemand loszaubern würde?“

„Das kann nur der Erbe des Zauberers, der mich vor langer Zeit verhext hat. Eines Tages, so ist es prophezeit, wenn der magischen Welt der Untergang droht, wird dieser Erbe meiner bedürfen, und er wird drei Mal meinen Namen rufen, und ich werde ihn hören, wo immer er sein mag, und zu ihm kommen.“

„Und bis dahin musst du ein Leben als Türschmuck führen?“ Albus war entsetzt.

„Wie schon gesagt“, antwortete Cassiopeia etwas ungehalten, „ich habe keinen Grund zur Klage, denn langweilen kann ich mich nicht. Ich kann höchstens zu viel Stress haben, zum Beispiel, wenn allzu neugierige Erstklässler meinen Mittagsschlaf mit ihren indiskreten Fragen stören.“

„Oh Verzeihung, Cassiopeia. Dann wünsche ich dir jetzt angenehme Ruhe.“

Er drückte die Tür auf und betrat den Gemeinschaftsraum.

Die Sessel im Gemeinschaftsraum waren nur spärlich besetzt, die meisten Schüler genossen draußen das anhaltende Ministerwetter. Auch Scorpius war noch nicht zu sehen. Roy saß mit Julian, Arabella und zwei anderen Jungs in bequemen Sesseln um einen kleinen Tisch herum. Sie schienen immer noch über die Ereignisse des Vormittags zu diskutieren. Albus ging gerade an ihnen vorbei, um nach Scorpius zu suchen, da hörte er einen der Jungs sagen:

„An uns vorbeizumüssen, war für sie nach den Gryffindors bestimmt eine kalte Dusche. Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen. Ich sag’s ja nicht gerne, aber“, – er lachte ein wenig verlegen –, „bevor sie diese furchtbare Rede hielt, machte sie auf mich eigentlich einen ziemlich sympathischen Eindruck.“ Er konnte nur Hermine meinen.

„Dieser Eindruck war auch vollkommen richtig!“, rutschte es Albus laut heraus.

Die Großen blickten auf. Roy und Julian, deren Sessel mit dem Rücken zu ihm standen, lugten neugierig um die Sessellehne herum.

„Ach du bist’s, Al!“, rief Roy.

Albus errötete. „Ich wollte mich nicht einmischen und auch nicht stören.“ Er machte Anstalten, weiterzugehen, da rief Arabella ihm freundlich zu:

„Du störst nicht, und du kannst dich ruhig zu uns setzen, wenn du möchtest.“

Ja, warum eigentlich nicht?

Danke, äh…“ Er kannte ihr Gesicht, aber nicht ihren Namen.

„Arabella“, stellte Roy sie vor, „Arabella Wolfe. Und weil wir gerade dabei sind: Orpheus Malagan“, – es war der Junge, der gerade gesagt hatte, dass er Hermine sympathisch fand, was Albus seinerseits für ihn einnahm. Ein für einen Fünfzehnjährigen eher schmächtiger Junge mit strubbeligem schwarzem Schopf und dunklen Augen. „Ares Macnair.“ Ares war ein drahtiger Typ mit hellbraunem Haar. Um seinen Mund schien immer ein gewisses Grinsen zu spielen. Sein Gesicht hatte etwas Verwegenes, Piratenhaftes. „Julian kennst du schon, und dich braucht man ja niemandem mehr vorzustellen. Setz dich.“ Albus setzte sich auf den einen Sessel, der noch frei war.

„Du meinst also, sie ist nicht so schlimm wie ihre Reden?“, fragte Orpheus.

„Ich kenne sie anders.“

Albus war selber verwirrt über das, was er heute gesehen, gehört und vor allem gespürt hatte. Hermine schien mit einem Mal zwei oder sogar drei Gesichter zu haben, aber nichts würde ihn davon abbringen, dass seine Hermine die wirkliche war.

„Eines muss man ihr lassen“, warf Roy ein, „sie kämpft mit offenem Visier.“

„Das beeindruckt mich nicht besonders“, schaltete Ares, leicht mürrisch, sich ein. „Wer mächtig ist und es mit lauter Machtlosen zu tun hat, kann leicht das Visier hochklappen.“

„Auch ein Mächtiger will aber nicht, dass etwas ins Auge geht, deswegen lassen sie das Visier normalerweise geschlossen, sie aber hat es heute riskiert. Sie hätte es nicht nötig gehabt, sich auf eine Debatte einzulassen, und hat es trotzdem getan. Jeder Muggelpolitiker in ihrer Lage wäre erst einmal in einer Wolke aus Floskeln und Phrasen abgetaucht und hätte einen endlosen Monolog über Gott und die Welt gehalten, nur um nicht Stellung nehmen zu müssen. Sie aber hat sich gestellt.“

Albus tat es gut, Roy so respektvoll von ihr sprechen zu hören.

„Sie will ihre Zuhörer überzeugen“, meinte Julian in nachdenklichem Ton. „Sie ist von ihrer Sache so felsenfest überzeugt, dass sie glaubt, es müsse ein Kinderspiel sein, auch jeden anderen zu überzeugen. Zumal sie ja praktisch nie auf Widerspruch oder gar Widerstand stößt.“

„Tja, und wenn es dann doch geschieht, zeigt sich die Kehrseite dieser felsenfesten Überzeugung“, seufzte Roy. „Weil sie glaubt erkannt zu haben, was das Gute ist, kann sie in jedem, der ihr widerspricht, und zwar grundsätzlich und nicht nur im Detail widerspricht, nur das fleischgewordene Böse sehen. Das Wort ‚Säuberungen‘ ist ihr nicht spontan eingefallen, es stand im Redemanuskript.“

„Ich weiß nicht, warum gerade dieses Wort dich so beunruhigt.“ Orpheus, der sich zuletzt ein wenig gefläzt hatte, richtete sich in seinem Sessel auf. „Damit sagt sie im Grunde nur, was wir schon wissen, nämlich dass sie die Zauberergemeinschaft als eine Art Chor betrachtet, der harmonisch klingen und deshalb von allen Misstönen gereinigt werden soll.“

„Nein, Orpheus, nicht von den Misstönen, sondern von den Misstönenden. Hermie…ne Granger-Weasley“, korrigierte Roy sich gerade noch nach einem Blick auf Albus, „kommt aus der Muggelwelt und denkt in deren Begriffen. Wenn ein Muggelpolitiker von ‚Säuberungen‘ spricht, meint er nicht die Beseitigung von Ideen, sondern von Menschen. ‚Ethnische Säuberung‘ heißt so viel wie Massenmord, ‚Parteisäuberung‘ heißt mindestens massenhaften Hinauswurf, war aber in vielen Ländern auch gleichbedeutend mit Erschießung von Abweichlern.“

„Übertreibst du deinen Pessimismus nicht ein bisschen?“ Erstmals ergriff Arabella das Wort. „Umbringen wird sie uns doch wohl nicht.“

„Nicht, solange ihr andere Mittel zur Verfügung stehen“, entgegnete Roy düster. „Wenn die erschöpft sind… Hm. Ich schätze, sie wird erst einmal versuchen, uns hinauszuwerfen.“

„Aus Hogwarts?“, entfuhr es dem erschrockenen Albus.

„Zunächst aus Hogwarts, dann aus der ganzen Zauberergemeinschaft. Und nicht nur uns, sondern alle, die so denken und reden wie wir. Ihr habt es ja gehört: Wer ihre Politik der Verschmelzung mit der Muggelwelt nicht mitmacht, ‚tritt das Erbe der Todesser an‘, ist damit ein ‚Todfeind der Zauberergemeinschaft‘ und bekommt ‚die ganze Härte des Gesetzes zu spüren‘. Und müssten diese Gesetze erst noch eigens geschrieben werden.“

„Trotzdem“, widersprach Arabella, „du interpretierst in diese wenigen Worte viel zu viel hinein.“

„Ich glaube, Roy hat recht“, sagte Albus mit etwas schüchterner Stimme. Fünf Augenpaare sahen ihn unter erstaunt hochgezogenen Brauen an. Auch Roys Freunde wussten, dass Albus normalerweise nichts auf seine Tante kommen ließ. Wahrscheinlich wunderten sie sich auch, dass der Jüngste in ihrer Runde sich an der Diskussion beteiligte.

„Ich habe dir vorhin noch nicht erzählt, was sie zu Mister Higrave gesagt hat“, sagte Albus, zu Roy gewandt. Ihm war nicht ganz wohl dabei, es auszuplaudern, aber Hermine hatte es schließlich nicht ihm persönlich anvertraut, und Albus fand, Roy und seine Freunde hätten ein Recht, es zu erfahren:

„Sie wollte alles wissen, was über dich in den Akten steht. Und dann sagte sie noch, sie will wissen, was es sonst noch an Todessern in Slytherin gibt. Sie hat wirklich ‚Todesser‘ gesagt. Und dann sagte sie, und zwar wörtlich: ‚Diese Pest müssen wir ausrotten‘.“

Langes, entsetztes Schweigen antwortete ihm.

„Puh!“ Ares fand als erster seine Sprache wieder. „Ihre Rede war schon eine Kriegserklärung, aber das…“

„Und du bist sicher, dass sie es so gesagt hat?“, fragte Arabella in einem Ton, als hoffe sie, Albus werde mit „April, April!“, antworten.

„Ganz sicher. Leider.“

„Danke, dass du uns das erzählt hast, Albus. Ist dir bestimmt nicht leichtgefallen, was?“, fragte Roy.

„Nein“, sagte Albus leise.

Die Tür zum Gemeinschaftsraum ging auf, und herein kam Scorpius, der Albus fröhlich zuwinkte.

„Steht deine Zusage wegen Schach noch?“, fragte er.

„Na klar“, antwortete Albus und erhob sich. „Entschuldigt bitte, ich bin verabredet.“

„Kein Problem“, erwiderte Roy stellvertretend für die Runde. „Viel Spaß euch zwei. Und danke nochmal“, fügte er gedämpft hinzu.

Albus und Scorpius holten ein Brett und die verzauberten Figuren aus einem Regal und setzten sich etwas abseits, wo sie in Ruhe spielen konnten, an einen der niedrigen Tische.

„Tja. Was unternehmen wir?“, fragte Macnair in die Runde, nachdem die beiden Jüngeren sich in ihr Spiel vertieft hatten. Er fragte es so leise, dass Albus es mit Sicherheit nicht hören konnte.

„Wir warten erst einmal bis morgen“, entschied Roy. „Dann kommt das Bulletin des Ministeriums heraus, und darin müsste Grangers Redetext zum Nachlesen abgedruckt sein. Ich will ihn noch einmal genau analysieren. Außerdem werden wir dem Tagespropheten entnehmen können, wohin die Reise gehen soll, er ist ja praktisch Hermies Sprachrohr. Dann können wir Entscheidungen treffen.“

„Soll der Kleine dabei sein?“, fragte Julian. „Immerhin weiß er über Hermie vieles, was wichtig sein könnte.“

Roy schüttelte den Kopf. „Für diese Art Kriegsrat ist er zu jung. Außerdem liebt er seine Tante über alles. Er ist heute schon sehr über seinen Schatten gesprungen, und ich möchte ihn nicht noch mehr in Gewissenskonflikte stürzen.“

„Wo treffen wir uns? Hier?“, wollte Macnair wissen.

„Zu unsicher. Wir gehen in unseren Geheimraum. Morgen Abend um halb acht.“

 

9 – Eine Front wird gezogen

Sofern Roy sich von der Lektüre des Tagespropheten Aufschluss darüber versprochen hatte, auf was er und seine Freunde sich gefasst machen mussten, so wurde ihm dieser Aufschluss unzweideutig zuteil. Kaum waren die Eulen mit der täglichen Post eingetroffen, da drängten sich Schüler aller Häuser auch schon in Trauben um diejenigen herum, die die Zeitung abonniert hatten. Auf der Titelseite prangte die Schlagzeile:

EKLAT IN HOGWARTS!

Todesser-Propaganda und gewalttätige Ausschreitungen nach Minister-Rede. Zwei Verletzte.

Zwei, wie immer bewegte, Fotos beherrschten die Seite 1: auf dem linken Hermine während ihrer Rede mit der Bildunterschrift Zaubereiministerin Hermine Granger-Weasley bei ihrer großen, mit stehenden Ovationen aufgenommenen programmatischen Rede; rechts sah man Gryffindors über Stuhlreihen springen, um sich auf die Slytherins zu stürzen. Die Bildunterschrift lautete: Slytherin-Schüler entfesseln Schlägerei. Zwei Gryffindors verletzt.

Viele Sechstklässler, unter ihnen auch Roy und Julian, standen um Patricia herum, die aus der Zeitung vorlas:

Hermine Granger-Weasleys mit Spannung erwartete Rede wird zunächst mit stehenden Ovationen aufgenommen. Danach kommt es zu tumultartigen Szenen. Roy MacAllister, Vertrauensschüler von Slytherin, gibt mit Provokationen, Beleidigungen der Ministerin und offenen Todesserparolen das Startzeichen zur Randale: Mitschüler seines Hauses verwandeln die Große Halle in ein Tollhaus. Bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen erleiden zwei Gryffindor-Schüler, darunter der Vertrauensschüler Ethelbert Parker, schwere Kopfverletzungen. Sicherheitsauroren müssen die Ministerin mit gezogenem Zauberstab schützen. Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Sie blätterte um.

Todesser-Sympathisanten randalieren in Hogwarts

Zunächst hatte die Zaubereiministerin unter großem Beifall des Publikums dafür geworben, in Einzelprojekten zu einer begrenzten und konstruktiven Zusammenarbeit mit der nichtmagischen Welt zu gelangen. In diesem Zusammenhang mahnte sie mehr Offenheit, Toleranz und Respekt gegenüber Nichtmagiern an. Zugleich kündigte sie an, den 2. Mai als Tag des Sieges über Voldemort zum nationalen Feiertag zu erklären und an diesem Tag der Menschen zu gedenken, die damals für die Freiheit der magischen Welt ihr Leben ließen.

Slytherin-Vertrauensschüler MacAllister riss die anschließend vorgesehene Diskussion an sich, um offen Todesser-Gedankengut zu propagieren. Der 2. Mai dürfe nicht gefeiert werden, weil dadurch den Todessern „aufs Grab gespuckt“ würde. Die Anregung der Ministerin, von den Erfahrungen auch nichtmagischer Staaten zu lernen, quittierte er damit, dass er solche Staaten als „übelste Diktaturen“ verunglimpfte und sich in Verschwörungstheorien erging, wonach die Ministerin Hexen und Zauberer einer mittelalterlichen Hexenverfolgung überantworten wolle. Seine Tirade gipfelte in persönlichen Angriffen auf die Ministerin, deren nichtmagische Abstammung allseits bekannt ist. Würde die magische Welt nach seinen, MacAllisters, Prinzipien regiert, so wäre dort für eine Person wie Hermine Granger-Weasley kein Platz, schon gar nicht als Zaubereiministerin. MacAllister gebrauchte in diesem Zusammenhang explizit die Ausdrücke „Blutsverräter“ und „Schlammblut“.

(Lesen Sie zu diesem Thema auch den Kommentar von Heribert Prantice auf Seite 4, zur Rede der Ministerin unseren ausführlichen Bericht auf der gegenüberliegenden Seite.)

Patricia starrte die Zeitung an, während ihr die Zornröte ins Gesicht schoss: „Das ist doch alles gelogen!“, ereiferte sie sich. „Da stimmt doch überhaupt nichts!“

„O doch“, knurrte Roy, „die meisten Einzelbehauptungen stimmen. Ich habe wirklich Blutsverräter und Schlammblut gesagt, nur eben nicht in Bezug auf Hermie, sondern auf mich selbst. Es gab wirklich zwei verletzte Gryffindors, nur sind sie miteinander zusammengestoßen, als Ethelbert mich vor seinem Hauskameraden schützen musste. Ich habe wirklich Muggelstaaten übelste Diktaturen genannt, nur eben nicht alle, sondern nur die, die auch unter Muggeln als solche gelten, und so weiter. Sie haben nur ein paar entscheidende Details weggelassen, den Rest aus dem Zusammenhang gerissen und in einen neuen, von ihnen erfundenen Kontext gestellt.“

„Das wird doch niemand glauben! Die Leute wissen doch, dass der Tagesprophet ein Lügenblatt ist“, rief Patricia in den anschwellenden Lärm Dutzender erhitzter Diskussionen hinein, die an allen Haustischen und sogar am Lehrertisch tobten.

„Sie wissen es und nennen ihn ein Lügenblatt“, rief Roy zurück, „aber jeden einzelnen Bericht glauben sie!“

„Roy, ich bitte dich! Hunderte von Schülern waren Zeugen, dass es nicht so war, und die meisten Familien haben mindestens ein Kind in Hogwarts. Sie werden erfahren, was wirklich passiert ist!“

„Sei doch nicht naiv, Patricia! Das menschliche Gedächtnis ist keine mesopotamische Tontafel, auf der alles jahrtausendelang eingeritzt bleibt! Details bleiben im Kopf, Zusammenhänge werden immer wieder neu konstruiert, und darauf setzen diese Schmierer! Du wirst sehen, die Gryffindors werden Stein und Bein schwören, dass es genau so gewesen ist, wie es im Propheten steht! Sie werden eher an das glauben, was sie in der Zeitung lesen, als an das, was sie selbst gesehen und gehört haben. Allein schon, weil sie es glauben wollen!“

„Wenn ich alles für möglich halte“, rief Patricia zurück, und es wurde allmählich schwer, sie in dem Lärm noch zu verstehen, „aber das nicht. Diesmal sind sie zu weit gegangen. Damit werden sie nicht durchkommen!“

„Sie kommen bereits damit durch.“ Roy musste sich schon zu ihrem Ohr hinunterbeugen, um sich verständlich zu machen. „Sieh mal!“

Er deutete in Richtung des Gryffindor-Tischs. Auch dort standen Schüler in Gruppen um jede verfügbare Zeitung. Wenn ihre Blicke hätten töten können, hätte das Haus Slytherin in diesem Augenblick aufgehört zu existieren, und die Mienen der Ravenclaws und Hufflepuffs wirkten kaum weniger bedrohlich. Die feine Linie, die Slytherin schon lange von den übrigen Häusern trennte, wurde zusehends zur Front.

„Darf ich mal kurz haben?“, fragte Roy und nahm der entgeistert die Gryffindors anstarrenden Patricia die Zeitung aus der Hand.

Er überflog den Bericht auf Seite 3, der unter dem Titel Granger-Weasleys große Vision die Rede der Ministerin inhaltlich im Großen und Ganzen korrekt zusammenfasste, dabei allerdings vor servilen Lobhudeleien, die sich der Tagesprophet seit Hermines Amtsantritt in allen Berichten über die Ministerin angewöhnt hatte, nur so strotzte.

Auf Seite 4 zog Heribert Prantice blank:

IST ES SCHON WIEDER SO WEIT?

Im kommenden Mai jährt sich der Sieg über Lord Voldemort und seine Todesser zum zwanzigsten Mal. Dass ein solcher Mann, ein solches Regime und eine solche Ideologie nie wieder die Chance bekommen würden, Magier und Nichtmagier zu unterjochen, dessen waren wir alle uns sicher.

Seit gestern wissen wir: Wir waren uns zu sicher!

Die Ereignisse des gestrigen Tages haben uns belehrt, dass das Todessertum sich nach wie vor, einem Krebsgeschwür gleich, durch die Zaubererwelt frisst, und dies nicht an irgendeiner Stelle, sondern an der empfindlichsten: in Hogwarts!

Gerade dort, wo künftige Generationen von Hexen und Zauberern herangebildet werden, im Herzen unserer magischen Zivilisation, hat der Tumor sich eingenistet. Gerade dort wo, wie wir alle glaubten, Toleranz und Offenheit als Selbstverständlichkeiten gelernt werden, erhebt der überwunden geglaubte Ungeist sein widerwärtiges Haupt. Gerade dort, wo junge Menschen beherzt in die Zukunft blicken sollten, haben unbelehrbare Ewiggestrige die Kontrolle übernommen. Über Hogwarts? Nein, aber immerhin über Slytherin.

Mit den gestrigen Tag hat das Haus Slytherin den Vertrauensvorschuss, der ihm ungeachtet der Vergangenheit großherzig gewährt worden war, restlos verspielt. Alle, die sich für das neue, das bessere Slytherin verbürgt hatten, angefangen bei der Schulleiterin, stehen seit gestern blamiert als naive, bornierte und sentimentale Einfaltspinsel da, die aus falsch verstandener Toleranz und Rücksicht auf fragwürdige Traditionen zugelassen haben, dass das Todessertum wieder im jungfräulichsten Boden, den es gibt, den unschuldigen Herzen junger Menschen, Wurzeln geschlagen hat und sie schleichend vergiftet.

Professor McGonagall wird sich unangenehme Fragen gefallen lassen müssen: Wie kann es sein, dass ein MacAllister Vertrauensschüler werden konnte? Wie kann es sein, dass er in Hogwarts überhaupt geduldet wird? Und wie viele Todesser treiben außer ihm noch in Slytherin ihr Unwesen?

Als Antworten auf diese Fragen erwarten wir keine pädagogischen Gemeinplätze. Wir wollen Namen! Und Taten! Bei allen Verdiensten, die Minerva McGonagall sich in der Vergangenheit zweifellos erworben hat: Wenn sie in ihrem hohen Alter die Zeichen der Zeit nicht erkennt und nicht bereit ist, diese Schlangengrube auszuräuchern, dann steht mehr zur Disposition als nur ihr Posten. Dann ist vielmehr zu fragen, ob die tradierte Hogwarts-Autonomie, unter deren Schutz nunmehr zum wiederholten Mal die dunkle Seite der magischen Welt zum Schlag gegen die helle ausholt, überhaupt noch zeitgemäß ist.

Zu lange haben wir an eine Fata Morgana geglaubt, auf Sirenenklänge gehört, die Menetekel übersehen. Jetzt holt die Wirklichkeit uns unerbittlich ein. Ist es wirklich, nach kaum zwanzig Jahren, wieder so weit, dass wir einen Krieg, einen Kampf auf Leben und Tod führen müssen? Ja, es ist so weit.

 

„Wie schade, dass ein so talentierter Schreiber einen so miesen Charakter hat“, sagte Roy zu Julian, der über seine rechte Schulter hinweg mitgelesen hatte. „Danke, Patricia!“ Er gab ihr die Zeitung zurück.

„Kennst du irgendeinen talentierten Schreiber, bei dem das anders ist?“, rief Orpheus ihm von links ins Ohr.

„Ja“, antwortete Roy. „Dich!“

Er hatte keine Zeit mehr, auf Orpheus‘ geschmeicheltes Lächeln zu achten, er horchte auf. Der allgemeine Lärm schien, zunächst fast unmerklich, einen Rhythmus zu bekommen. Einen Drei-Silben-Rhythmus mit einem hässlichen Zischen, der sich immer deutlicher aus dem Stimmengewirr herausschälte. Irgendwelche Leute skandierten etwas. Roy drehte sich wieder zu den Gryffindors um. Der Sprechchor schien von zwei Gruppen in der Mitte ihres Tisches auszugehen, um dann nach beiden Richtungen auf immer neue Gruppen von Schülern überzuspringen, die alle mit wutverzerrten Mienen zu den Slytherins herüberstierten. Je mehr von ihnen einfielen, desto deutlicher war er zu verstehen:

„Tod-esser! – Tod-esser! – Tod-esser! – Tod-esser! – Tod-esser…“

Wie eine Feuersbrunst griff der Sprechchor nun auch auf die Hufflepuffs und Ravenclaws über:

„Tod-esser! – Tod-esser! – Tod-esser! – Tod-esser! – Tod-esser…“

Die älteren Slytherins sahen mit ungläubigem Entsetzen, wie ihre Mitschüler zu einem vielhundertköpfigen, bellenden Ungeheuer zusammenzuwachsen schienen, da schrie Arabella plötzlich: „Die Kleinen!“

Die Jüngeren, von denen die meisten am anderen Ende des Tischs saßen und sich ohne Vorwarnung und ohne zu wissen, wie ihnen geschah, von immer neuen Hasswellen überspült sahen, rückten angstvoll zusammen. Einige Mädchen fingen an zu weinen und klammerten sich aneinander. Albus nahm Jennifers Hand, als könnte er sie dadurch schützen. Er fühlte sich an die Hasswellen erinnert, die er an Hermine empfunden hatte, aber diese hier, von hunderten Menschen gleichzeitig ausgehend, waren hitziger, brutaler.

„Tod-esser! – Tod-esser! – Tod-esser! – Tod-esser! – Tod-esser…“

Angeführt von Arabella stießen zunächst einige Mädchen der höheren Klassen zu den Kleinen, um sie in die Arme zu nehmen, dann folgten alle Älteren und stellten sich schützend vor sie.

„Zauberstäbe steckenlassen!“, brüllte Roy, als einige Slytherins in ihre Umhänge griffen. Wann endlich griff McGonagall ein?

Roy sah sie bleich und fassungslos am Lehrertisch stehen. Endlich gewann sie ihre übliche Geistesgegenwart wieder, griff beherzt nach ihrem Stab und schleuderte Blitz und Donner in den Saal. Die plötzliche Stille hatte nach dem ohrenbetäubenden Krach etwas Unwirkliches.

„Einhundert Punkte Abzug für Gryffindor“, sagte sie mit eisiger Stimme, „und je fünfundsiebzig für Hufflepuff und Ravenclaw. Und erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen das noch erkläre. Sie sollten sich schämen! Setzen!“

Und alles setzte sich. Nur die Slytherins, zusammengedrängt um ihre Jüngsten, blieben zunächst stehen.

Am Hufflepuff-Tisch jedoch stand einer auf. Ein blonder Erstklässler, der, zuerst zögernd, dann immer entschlossener, zum Tisch der Slytherins hinüberging, deren ältere Schüler verblüfft zur Seite traten, um ihn durchzulassen. Es war Bernard Wildfellow. Schweigend setzte er sich neben Albus.

Die meisten Großen kehrten allmählich wieder zu Ihren Plätzen zurück. Arabella und ihre Freundinnen blieben bei den Erst- und Zweitklässlern sitzen, während Roy und Patricia leise beratschlagten.

Der Lärmpegel schwoll sofort wieder an, nur ohne Sprechchöre. Nach wenigen Sekunden herrschte wieder lautstarkes Stimmengewirr, und wütende Zurufe flogen zwischen den Slytherins und den anderen Häusern hin und her.

„Wenn McGonagall glaubt, dass es damit getan ist, hat sie sich geschnitten“, knurrte Roy. „Wir können das Verhalten der anderen Häuser nicht auf sich beruhen und schon gar nicht die Lügen des Tagespropheten auf uns sitzen lassen. Wir müssen uns beraten und sofort reagieren! An Unterricht ist für uns heute Vormittag nicht zu denken!“

Er stapfte nach vorne, ohne sich um die Pöbeleien der Ravenclaws, an denen er vorbeimusste, zu kümmern. Albus sah, dass Roy, unter temperamentvollen Gesten und mit dem Zeigefinger heftig auf den Tagespropheten einstechend, offenbar versuchte, die Schulleiterin zu etwas zu überreden, was diese energisch ablehnte. Nach einigen Minuten kehrte er zum Haustisch zurück, seiner verdrossenen Miene nach zu schließen erfolglos.

„Und?“, hörte Albus Patricia fragen, als er in seiner Nähe wieder zu ihr stieß.

„Sie weigert sich! Den Jüngeren würde sie den Vormittag freigeben, aber uns nicht! Weißt du was? Das ist mir jetzt vollkommen gleichgültig, was McGonagall genehmigt oder nicht genehmigt!“, rief Roy erregt. „Ich gebe jetzt bekannt, dass Slytherin den Unterricht bis Mittag boykottiert und dass wir…“

„Das wirst du nicht tun!“, herrschte Patricia ihn an.

„Hätte ich mir denken können, dass du wieder kalte Füße kriegst!“, raunzte Roy zurück. „Haste Angst um deine Karriere?“

Patricia funkelte ihn an, als würde sie ihm gleich eine kleben. „Um dich habe ich Angst, du Idiot!“

Arabella, die keine zwei Plätze weiter saß, horchte auf.

„Wenn du das jetzt machst, riskierst du nicht nur deinen Vertrauensschülerposten, sondern fliegst womöglich von der Schule!“

„Na und? Lieber in Ehren fliegen als jetzt nichts zu tun!“

„Ich sage nicht, dass wir nichts tun, sondern dass du es nicht tun wirst! Ich nehme es auf meine Kappe! Ich bin viel weniger angreifbar als du!“

Du???“ Mit einem Mal sah Roy überhaupt nicht mehr intelligent aus.

„Trauste mir wohl nicht zu, was?“, grinste sie ihn schelmisch an, stellte einen Fuß auf die Sitzfläche des nächsten Stuhls und flüsterte vor sich hin: „Ich trau’s mir ja selber kaum zu.“

Roy sah fassungslos, wie ausgerechnet Patricia, die er so gerne als „Hermies Musterschülerin“ verspottete und die vermutlich noch nie in ihrem Leben etwas Verbotenes getan hatte, den Slytherin-Haustisch erklomm und unter dem Wort „Sonorus“ den Zauberstab an ihre Kehle führte. Das Stimmengewirr erstarb. Alle starrten sie an, als sie mit zitternden Knien, aber fester Stimme verkündete:

„Das Haus Slytherin wird am Vormittagsunterricht nicht teilnehmen!“ Empörtes Gemurmel erfüllte den Saal. „Wir werden die Lügen und die Hetze des Tagespropheten nicht auf sich beruhen lassen!“

Pfiffe und Buhrufe von den Gryffindors.

„Wir haben Beratungs- und Entscheidungsbedarf. Außerdem protestieren wir damit gegen das niederträchtige Verhalten der anderen Häuser!“

Die Schüler der anderen Häuser sprangen und schrien auf, aber nicht laut genug, um Patricia zu übertönen.

„Alle Slytherins werden die Große Halle unverzüglich verlassen und sich im Gemeinschaftsraum versammeln! Vielen Dank!“

Als sie herunterstieg, half Roy ihr zunächst – für seine Verhältnisse ungewöhnlich galant – vom Tisch, nahm sie in die Arme und drückte ihr einen Schmatzer auf die Wange.

„Patty, das vergesse ich dir nie! Dafür darfst du mich ein Leben lang ‚Schlammblut‘ nennen!“

Sie lachte laut auf und erwiderte, nicht ohne ein kokettes Zwinkern:

„Pass auf, was du sagst! Unser Leben könnte ziemlich lang werden.“

Als sie sich umdrehte, um zum anderen Ende der Tafel zu gehen, lächelte Roy ihr nach, bis sein Blick sich mit dem Arabellas kreuzte, die dreinschaute, als würde sie gleich einen Mord begehen. Er riss sich zusammen.

Das Geschrei war schnell wieder zum Gemurmel zusammengesunken. Patricias Geste schien Eindruck zu machen. Nach und nach blickten alle, außer den Slytherins, die sich sammelten, auf McGonagall. Sie hatte allein den Gryffindors einhundert Punkte abgezogen, sie konnte die Slytherins unmöglich davonkommen lassen!

„Miss Higrave!“, rief sie plötzlich scharf. Patricia schluckte sichtbar.

„Ja bitte?“

„Wenn Slytherin jetzt die Große Halle verlässt und bis mittags dem Unterricht fernbleibt, so ist dies – genehmigt.“

„Vielen Dank, Frau Professor.“

Fast alle Slytherins standen jetzt bereit zu gehen. Nur ein einziger Schüler war mit hängenden Schultern am Slytherin-Tisch zurückgeblieben.

„Bernie!“, rief Roy ihm zu. „Brauchst du eine Sondereinladung? ALLE Slytherins!“

Bernie strahlte, sprang auf, rief „Ich komm schon!“ und schloss eilends zu den anderen auf, als befürchtete er, Roy würde es sich womöglich noch anders überlegen.

Auf dem Weg zum Gemeinschaftsraum holte er Roy ein.

„Gehöre ich jetzt doch hierher?“

Roy zögerte. „Ich bezweifle immer noch, dass du auf die Dauer in Hogwarts glücklich wirst. Aber du bist eindeutig ein Slytherin.“

„Warum?“

„Weil du nicht mit den Wölfen heulst.“

Er wandte sich zu Patricia, die neben ihm ging: „Was war das eigentlich eben? So kenne ich dich ja gar nicht, aber du darfst ruhig so weitermachen, es steht dir gut“, grinste er.

„Nur weil ich mich im Gegensatz zu dir nicht mutwillig mit Gott und der Welt anlege“, versetzte sie in kühlem Ton, der freilich dadurch dementiert wurde, dass sie ebenfalls grinste, „bin ich noch lange keine, die – wie sagtest du doch eben so schön? – ‚mit den Wölfen heult‘. Ich versuche mich vernünftigerweise anzupassen, ja, aber wenn man mich zwingt, kann ich auch anders. Und ich werde nicht nach vierzehn Generationen Higraves die Erste sein, die sich bieten lässt, dass mein Haus und das aller meiner Vorfahren mit Dreck beworfen wird!“

Sie schwiegen eine Weile. Als sie die letzte Treppe zu den Slytherin-Räumen hinabstiegen, sagte sie: „Du hattest übrigens Recht. Ich hätte Malfoy nicht melden sollen.“

„Ich glaube“, sagte Roy und schmunzelte, „das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“

Sie lächelte ein wenig verwirrt, aber durchaus geschmeichelt.

 

Im Gemeinschaftsraum angelangt, ergriff Roy sofort das Wort.

„Wir müssen zwei Fragen klären: Erstens, wie verhalten wir uns gegenüber den anderen Schülern, speziell den Gryffindors…“

„Wir semmeln ihnen eine rein!“, rief jemand dazwischen, und alle lachten.

„Verdient hätten sie es“, gab Roy zu, wurde aber sofort wieder ernst. „Wir wissen nicht, ob das vorhin ein spontaner Hassausbruch war, der sich an der Berichterstattung des Tagespropheten entzündet hat und sich bis Mittag sicher gelegt haben wird, oder ob es geplant war und wir mit weiterem Psychoterror oder sogar mit Gewalt rechnen müssen. Ich hatte das Gefühl, dass das Geschrei von einem harten Kern ausging, aber sicher bin ich mir nicht.“ Albus hob die Hand. „Ja?“

Rose – von den Gryffindors“, fügte er erklärend hinzu, „hat mit gestern erzählt, dass Hermine, ich meine die Ministerin, die Gryffindors gestern noch in ihrem Gemeinschaftsraum besucht hat. Sie sagte, sie hätte ihnen ‚Tipps‘ gegeben.“

„Tipps?“ Roy runzelte die Stirn. „Was für Tipps denn?“

„Das habe ich sie auch gefragt“ antwortete Albus, „aber sie meinte, es hätte nichts mit mir zu tun, deshalb habe ich nicht weiter nachgehakt. Jetzt glaube ich aber, sie meinte nur, dass es nichts mit mir persönlich zu tun hatte, und dass sie damit sagen wollte, es hatte etwas mit Slytherin zu tun.“

„Würde ihnen ähnlich sehen“, brummte Roy. „Den Satz ‚Das hat nichts mit dir persönlich zu tun‘ habe ich schon hundert Mal gehört, und immer dann, wenn sie über Slytherin herzogen.“

„Moment mal“, warf Patricia ein, „das hieße ja, dass die Ministerin höchstpersönlich ihr ehemaliges Haus gegen uns gehetzt – und dabei noch selbst strategische Anweisungen für den Psychokrieg erteilt hätte?“

„Auszuschließen ist es jedenfalls nicht.“

„Roy, das ist doch absurd! Eine Zaubereiministerin, die persönlich einen Schüler-Kleinkrieg anzettelt? Tut mir leid, aber so etwas glaube ich einfach nicht!“

„Patty, mir scheint, du wirst rückfällig“, frotzelte Roy, sah sie dabei aber beinahe liebevoll an. „Hast du Prantices Kommentar nicht gelesen? Den muss der Chefredakteur abgesegnet haben, und Northwood druckt bei wichtigen Themen nichts, was gegen die Linie des Ministeriums verstößt. Jede Wette, dass zumindest der Tenor mit der Ministerin abgestimmt war. Ja, sie hängt das Thema hoch genug, dass man ihr zumindest zutrauen muss, die Gryffindors für einen Kleinkrieg einzuspannen, der für sie ja so klein gar nicht ist. Wie hat Prantice geschrieben? ‚Ein Kampf auf Leben und Tod‘.“

Die Slytherins schwiegen bedrückt.

„Und was machen wir nun?“, fragte schließlich einer aus dritten Klasse.

Roy holte tief Luft.

„Was ich jetzt sage, sind reine Vorsichtsmaßnahmen, vielleicht sehe ich ja wirklich Gespenster und es löst sich alles in Wohlgefallen auf. Dies vorausgeschickt, gilt bis auf Weiteres: Niemand geht allein durchs Haus oder über das Gelände, bleibt immer in möglichst großen Gruppen zusammen, und wenn irgend möglich, sollten immer zwei oder drei Ältere dabei sein. Lasst euch nicht provozieren! Wenn sie euch blöd kommen, ignoriert sie, so gut ihr könnt. Zieht nie, nie, nie als erster den Zauberstab! Außer wenn ihr um Hilfe rufen und mit ‚Sonorus‘ eure Stimme verstärken müsst. Die Älteren zeigen nachher den Jüngeren, wie das geht. Versucht, immer in Sichtweite eines Lehrers zu sein. Das war’s. Noch Fragen?“

Niemand meldete sich.

„Gut. Dann zum zweiten Thema, dem Tagespropheten und wie wir auf seine Lügen reagieren.“

Er zerpflückte noch einmal sorgfältig jede einzelne Lüge des Tagespropheten, da die meisten bei Hermines Rede in den hinteren Reihen gesessen und nicht alles mitbekommen hatten, was sich vorne abspielte. Dann fuhr er fort:

„So, und jetzt greifen alle – außer den rein Muggelstämmigen – zu Pergament und Feder und schreiben einen Brief an ihre Eltern. Es ist unbedingt wichtig, dass sie erfahren, wie es wirklich war, und zwar auf der Stelle, bevor die Lesart des Tagespropheten sich in den Köpfen festsetzt. Allein schon, damit sie etwas in der Hand haben, wenn sie von ihren Freunden, Kollegen und Vorgesetzten schwach angeredet werden. Das gilt vor allem für die, die im Ministerium arbeiten und von der Ministerin mehr oder weniger abhängig sind.“

„Bringt das denn etwas?“, wollte Macnair wissen. „Unsere Eltern sind doch nur eine Minderheit unter den Lesern des Tagespropheten.“

„Ich würde schätzen, sie stellen ungefähr ein Zehntel der Leserschaft, das ist nicht wenig. Das ist der Vorteil an einer kleinen Welt wie unserer. Wenn eine Muggelzeitung oder gar das Fernsehen lügt, geht ein Protest in der riesigen Masse ihrer Leser und Zuschauer einfach unter. Bei uns sind zweihundert Briefe schon eine richtige Kampagne. Ach ja, und erwähnt ruhig auch das schäbige Verhalten unserer lieben Mitschüler!“

Scorpius fragte:

„Soll ich meinem Vater ins Ministerium schreiben oder lieber nach Hause?“

Roy überlegte kurz. „Wenn du eine sehr schnelle Eule hast, die es noch bis Dienstschluss schafft, dann unbedingt ins Ministerium – kann gar nicht schaden, den Laden mal aufzumischen. Sonst nach Hause.“

10 – Die Ministerin reagiert

Während die Slytherins sich ans Schreiben machten und Roy und Bernie, die ihren Muggel-Eltern nicht zu schreiben brauchten, zu den Hufflepuff-Räumen gingen, um Bernies Sachen zu holen, herrschte im Londoner Zaubereiministerium die übliche bürokratische Betriebsamkeit. Nur ungewöhnlich aufmerksamen Beobachtern wäre aufgefallen, dass öfter als sonst Beamte, die einander in den Gängen begegneten, stehenblieben, um leise, aber sichtbar erregt miteinander zu tuscheln. Natürlich hatten sie alle im Tagespropheten gelesen, dass der Auftritt der Zaubereiministerin in Hogwarts nicht ganz planmäßig verlaufen war, und Prantices Kommentar schien auf einen grundsätzlichen Kurswechsel des Ministeriums hinzudeuten. An der Art der Erregung – beunruhigt die einen, kampflustig die anderen – konnte man ablesen, wer aus Slytherin kam oder Kinder dort hatte und wer nicht. Besagter aufmerksamer Beobachter hätte auch bemerkt, dass die beiden Gruppen jeweils unter sich blieben.

Die Ministerin studierte in ihrem Büro das Dossier, das Higrave auf ihr Verlangen hin noch am Sonntag angefertigt hatte. Es war deprimierend kurz. Sie runzelte unzufrieden die Stirn.

Percy“, rief sie durch die offene Tür ins Nebenzimmer. Ihr Schwager Percy Weasley, zugleich ihr persönlicher Referent, steckte den Kopf herein. „Ja, bitte?“

„Ich möchte in zehn Minuten Dagobert und in zwanzig Minuten Harry sprechen. Gib ihnen bitte Bescheid.“

„Sofort.“ Percy kehrte an seinen Schreibtisch zurück, schrieb die beiden Benachrichtigungen und schickte sie mit einem Wink seines Zauberstabes zu ihren Adressaten. Die Blätter falteten sich selbsttätig zu Papierfliegern und machten sich auf den Weg.

Zehn Minuten später stand Dagobert Higrave in der Tür. „Guten Morgen, Frau Ministerin.“

„Guten Morgen, Dagobert. Treten Sie bitte ein und schließen Sie die Tür hinter sich.“ Higrave tat, wie ihm geheißen und setzte sich ihr gegenüber.

„Ich habe Ihr Dossier gelesen“, kam sie sofort zur Sache und hob die schmale Akte hoch. „Offen gesagt: Besonders informativ finde ich es nicht. Ich habe von Professor Longbottom und den Gryffindors weitaus mehr erfahren als aus Ihrem Dossier.“

„Ich bedaure, Frau Ministerin, aber das ist alles, was in den Akten des Ministeriums über MacAllister zu finden ist. Die Hogwarts-Akten wären zweifellos ausführlicher, aber Sie kennen sicherlich die Rechtslage: Die Schule kann die Akten herausgeben, muss es aber nicht tun. Und bedauerlicherweise zeigte Professor McGonagall sich wenig kooperativ. Sie hat die Herausgabe verweigert.“

„Und wir haben keine Handhabe, sie zu zwingen?“, fragte Hermine ungehalten.

Higrave hüstelte. „Ich fürchte nein. Alle öffentlichen Dienststellen müssen dem Ministerium ihre Akten zur Verfügung stellen, aber Hogwarts ist aufgrund der geltenden Gesetze autonom. Wir müssten schon das Gesetz ändern und Hogwarts explizit zur Auskunft verpflichten.“

„Gut“, sagte Hermine geschäftsmäßig, „dann ändern wir das Gesetz. Wird ohnehin Zeit, dass dieser alte Zopf abgeschnitten wird. Bereiten Sie einen entsprechenden Entwurf vor. Bis kommenden Montag. Reicht das?“

„Zur Vorbereitung des Entwurfs gewiss. Gestatten Sie mir aber bitte, Frau Ministerin, Sie darauf hinzuweisen, dass vor jeder Änderung von Gesetzen mit Bezug zu Hogwarts die Schulräte zu konsultieren sind.“

„Na und?“, sagte Hermine achselzuckend. „Dann konsultieren wir sie eben.“

Higrave hüstelte noch einmal. „Sie werden nicht einverstanden sein. Jede Änderung dieser Art greift in ihre Kompetenzen ein.“

„Spielt es eine Rolle, ob sie einverstanden sind? ‚Konsultieren‘ heißt: Wir sagen ihnen, was wir vorhaben, sie lehnen es ab, und wir machen es trotzdem“, meinte sie trocken.

„Nun, Frau Ministerin, es ist gute Tradition, dass solche Entscheidungen nur im Einvernehmen…“

„Verschonen Sie mich bitte mit diesen heiligen Traditionen!“ Sie rümpfte die Nase. „Sie haben meine Rede gehört. Ich habe ein grundsätzliches Umdenken auf allen Gebieten gefordert, und Sie als einer meiner engsten Mitarbeiter sollten mit gutem Beispiel vorangehen!“

„Gewiss, Frau Ministerin“, beeilte Higrave sich zu versichern. „Ich erachte es nur als meine Pflicht, Sie auf mögliche Widerstände aufmerksam zu machen.“

„Ich weiß dies sehr zu schätzen, Dagobert.“ Hermine lächelte höflich. „Und selbstverständlich möchte ich auch in Zukunft darauf aufmerksam gemacht werden. Missverstehen Sie meine Bemerkung also bitte nicht als Kritik. Es bleibt aber dabei, dass ich bis kommenden Montag Ihren Entwurf erwarte.“

Mit einem diskreten Blick zur Tür gab sie Higrave zu verstehen, dass die Unterredung beendet war. Der Abteilungsleiter erhob sich, machte eine knappe Verbeugung, wünschte der Ministerin einen angenehmen Tag und empfahl sich.

Auf dem Gang vor dem Vorzimmer der Ministerin kam Harry Potter ihm entgegen. „Morgen, Dagobert.“

„Guten Morgen, Harry“, antwortete Higrave höflich und wollte weitergehen.

„Ach, äh, Dagobert?“

„Ja bitte?“

„Sie waren gestern in Hogwarts dabei. Stimmt das, was im Tagespropheten steht?“

Higrave hüstelte wieder. „Sagen wir, der Tagesprophet hat sich gewisse journalistische Freiheiten genommen.“

„Ich verstehe.“ Harry grinste. Das war typisch Higrave. Er hatte die Frage beantwortet und sich zugleich bedeckt gehalten. „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.“ Sie verabschiedeten sich, und Harry betrat das Vorzimmer.

„Morgen, Percy!“

„Morgen, Harry, ich glaube, du kannst ruhig schon durchgehen.“

Harry klopfte an, und auf Hermines „Herein“ hin betrat er das Büro der Ministerin.

„Hallo Hermine, wie war es in Hogwarts?“

„Nicht so erfolgreich, wie es hätte sein sollen – Guten Morgen auch –, aber das hast du ja sicher schon in der Zeitung gelesen. Aber einen schönen Gruß von Neville, James, Rose und Victoire soll ich dir ausrichten.“

Harry war irritiert. „Von Albus nicht?“

„Ich hatte leider keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Ich habe den Gryffindors noch einen Besuch abgestattet, den Slytherins nicht, wie du dir denken kannst.“

Harry zog die Brauen hoch. „Okay. Wie geht es Ron?“

„Gut soweit. Entschuldige bitte, ich habe heute Morgen wenig Zeit und möchte gleich zur Sache kommen.“ Sie räusperte sich. „Harry, du bist vermutlich der beste Auror, den das Ministerium je hatte. Du löst jeden Fall, auf den du angesetzt wirst, und das mit einem Instinkt und einer Findigkeit, die schon legendär sind.“

„Vielen Dank“, erwiderte Harry, „aber jetzt kommt sicher das ‚Aber‘.“ Er kannte seine Freundin viel zu lange, und nun auch schon über ein Jahr lang als Ministerin, um nicht zu wissen, dass diese Art von allgemeinem Lob der Auftakt zu sehr konkreter Kritik sein musste.

Hermine schmunzelte. „Im Vertrauen auf diese herausragenden Fähigkeiten habe ich deine Aurorenzentrale zur Abteilung aufgewertet und ihre Kompetenzen beträchtlich erweitert. Insbesondere die Bekämpfung des Todessertums gehört jetzt zu deinen Aufgabenbereichen.“ Sie machte eine Kunstpause.

„Und?“, fragte Harry.

„Ich kann leider nicht erkennen, dass du dieser Aufgabe mit besonderem Engagement nachgehst. Es scheint keinen einzigen Fall zu geben, der von den Auroren verfolgt worden wäre.“

Hermine, du weißt, dass die Auroren nur bei Gesetzesverstößen aktiv werden können.“

Hermine stieß einen genervten Seufzer aus. „Das ist genau das, was ich mit mangelndem Engagement meine. Ich erwarte von dir die Mentalität eines Jägers, nicht die eines Anglers, der darauf wartet, dass eine Straftat gewissermaßen vorbeischwimmt und anbeißt. Es ist doch hinlänglich bekannt, wer die Leute sind, die solche Ansichten haben. Ein Zeichen von Engagement wäre es, wenn du ihnen auf die Finger schauen würdest. Vermutlich würdest du dann auch feststellen, dass sie Straftaten begehen.“

„Oder auch nicht“, gab Harry zurück. „Wir gehen bereits hart an die Grenze dessen, was das Gesetz gerade noch zulässt. Den alten Macnair zum Beispiel laden wir praktisch jedes Mal vor, wenn in Fällen von Schwarzer Magie eine Verbindung zu ihm wenigstens nicht ausgeschlossen werden kann. Ein gutes Gewissen habe ich dabei nicht, zumal sich nie der geringste Anhaltspunkt ergeben hat, dass er irgendetwas Verbotenes tut.“

„Wenn ihr immer nur eure Stammkunden vorladet, könnt ihr auch nichts finden. Ihr müsst aktiv suchen!“

„Soll das heißen, wir sollen vorsorglich die Ansichten jedes Bürgers erfassen, und jeden, dessen Meinungen auch nur entfernt verdächtig sind, so lange beobachten, bis er etwas Verbotenes tut?“

„Das wäre in der Tat Engagement.“

„Das wäre gesetzwidrig.“

„Gesetze kann man ändern.“

Hermine, ich bitte dich! Es gibt praktisch keine aktiven Todesser, und ich werde nicht dir zuliebe welche erfinden. Und was die Gesetze angeht: Die Nonchalance, mit der du über solche Dinge sprichst, finde ich reichlich irritierend. Dass du die Macht hast, Gesetze zu beschließen, die auf einen Überwachungsstaat hinauslaufen, heißt noch lange nicht, dass du das Recht dazu hast.“

Harry wusste nicht, dass MacAllister keine 24 Stunden zuvor etwas Ähnliches zu ihr gesagt hatte. Hermine funkelte ihn an:

„Es gibt keine aktiven Todesser, nein? Liest du eigentlich keine Zeitung?“

„Wenn du den Tagespropheten meinst, den lese ich, aber ich glaube ihm nichts. Genau wie auch du ihm nichts geglaubt hast, bevor du Ministerin und Northwood dein Busenfreund wurde.“

Hermines Kinn straffte sich energisch, und ihre Augen blitzten zornig:

„Soll ich dir mal etwas sagen, Potter? Du willst einfach nicht. Du benutzt ausgebrannte alte Männer wie Macnair als Alibiverdächtige. Du suchst nach Gründen, die heutigen neuen Gefährder zu ignorieren. Gefährder, die praktisch unter deiner Nase herumlaufen, die du aber nicht siehst!“

Ihr Ton war plötzlich scharf geworden.

„Und wieso greifst du nach deiner Narbe?“

Hermine hatte ihn erwischt.

„Seit gestern Vormittag ziept sie wieder.“ In Wahrheit brannte sie sogar ein wenig, aber das wollte er nicht zugeben.

„Ach, sie ziept?“, fragte sie höhnisch. „Mein Chefauror, der einzige Mensch mit eingebautem Schwarzmagierdetektor, bekommt Alarm von seiner Narbe, will mir aber erzählen, alles sei in bester Ordnung!“

„Sie ist kein Schwarzmagier-, sondern nur ein Voldemortdetektor, und Voldemort ist seit fast zwanzig Jahren tot. Wahrscheinlich ist es einfach nur das Älterwerden. Wen meinst du eigentlich konkret mit den Gefährdern, die unter meiner Nase herumlaufen?“

Hermine lehnte sich in Ihrem modernen Muggel-Chefsessel zurück und sah ihn hochmütig an.

„Weißt du zum Beispiel, mit wem dein Sohn Albus in Slytherin befreundet ist?“

„Wenn du Roy MacAllister meinst, das weiß ich“, erwiderte Harry betont gleichmütig.

„Ach, das weißt du? Du weißt, dass dein Sohn mit einem aktiven Todesser befreundet ist, aber es ist dir egal. Ach ja, ich vergaß, es gibt ja gar keine Todesser!“

Hermine“, sagte Harry ernst, „das sind schwerwiegende Anschuldigungen. Mein Sohn schreibt mir regelmäßig und ausführlich, auch über MacAllister, und ich finde nichts in seinen Briefen, was deine Behauptungen untermauern würde.“

Harry, das ist doch nicht dein Ernst, oder? Du sprichst von den Briefen eines Elfjährigen! Wie soll der denn die ideologischen Untertöne beurteilen? Und wie soll er sich nicht geschmeichelt fühlen, wenn der sechzehnjährige Leitwolf seines Hauses sich offensichtlich um seine Freundschaft bemüht? Zusammen mit einem Lestrange übrigens!“

„Julian, ich weiß!“

„Dann zieh Konsequenzen und unternimm etwas!“, fauchte sie.

Dann besann sie sich, lehnte sich in ihrem Sessel zurück, atmete tief durch, beruhigte sich. Als sie fortfuhr, war sie nicht mehr die herrische Chefin, sondern wieder seine besorgte Freundin.

Harry“, sagte sie schließlich, „ich möchte nicht… wir beide möchten nicht, dass Albus auf irgendjemanden so hereinfällt, wie Snape auf Voldemort hereingefallen ist.“

Das saß.

Indem sie nicht den Auror Harry Potter ansprach, der sich nie als Gesinnungsschnüffler hergegeben hätte, sondern den Vater Harry Potter, hatte sie ihn mattgesetzt. Sie ließ ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen.

„Gut“, sagte er schließlich. „Die Aurorenabteilung kann nichts unternehmen, solange keine Gesetze verletzt werden…“

„Die Ausdrücke ‚Blutsverräter‘ und ‚Schlammblut‘ verstoßen sehr wohl gegen Gesetze…“

Dich oder irgendeine konkrete Person hat er aber nicht so genannt, stimmt’s?“, fragte Harry, der sehr gut zwischen den Zeilen des Tagespropheten zu lesen verstand.

„Stimmt“, bestätigte sie.

„Dann ist es meldepflichtig, aber nicht strafbar, und geht die Aurorenabteilung nichts an. Also, als Auror kann ich nichts machen. Es spricht aber nichts dagegen, dass ich mir privat als Vater ein Bild von der Lage in Hogwarts mache und Erkundigungen einziehe. Falls deine Befürchtungen berechtigt sein sollten, würden dabei zwangsläufig auch dienstlich relevante Informationen anfallen, die ich dann auch benutzen dürfte. Falls nicht, haben wir uns Gewissheit verschafft, ohne gegen Gesetze zu verstoßen.“

Hermine wirkte nicht entzückt, aber Harrys Logik war unabweisbar.

„Wie willst du vorgehen?“, fragte sie ihn.

„Zunächst erzählst du mir bitte alles, was du weißt, was du beobachtet hast, und was man dir erzählt hat, angefangen mit der gestrigen Debatte“, sagte Harry, zog seine selbstschreibende Feder – ein Geschenk von Ginny – aus seinem Umhang und bat um einen Bogen Pergament.

Hermine rekonstruierte zunächst mit Hilfe ihres glänzenden Gedächtnisses den Verlauf ihrer Diskussion mit Roy, und zwar ziemlich sachlich und objektiv. Sie wusste, dass es zwecklos gewesen wäre, ihren besten Auror hinters Licht zu führen, selbst wenn sie es gewollt hätte.

„Das ist aber ganz schön weit von der Darstellung des Tagespropheten entfernt“, stellte Harry schließlich fest.

„Du weißt doch, wie diese Presseleute sind“, sagte sie ein wenig verlegen, „brauchen immer eine knallige Schlagzeile. In gewisser Hinsicht haben sie aber recht. Dieser MacAllister ist natürlich viel zu intelligent, sich seine wirklichen Ansichten und Absichten auf die Stirn zu schreiben. Er geht schrittweise vor und schafft nach und nach Akzeptanz für seine Ideologie. Er provoziert so weit, dass man es nicht ignorieren kann, aber nie so sehr, dass es ihm nicht möglich wäre, die verfolgte Unschuld zu spielen. Wenn du mich fragst: ein ausgebuffter Stratege und Taktiker für seine sechzehn Jahre. Äußerst gefährlich, gerade weil er nicht direkt gegen Gesetze verstößt, und weil er nur solche Dinge sagt, mit denen er auf Zustimmung rechnen kann, ohne seine eigenen Karten aufdecken zu müssen.“

Harry sah sie nachdenklich an. „Gut“, sagte er, „was weißt du noch?“

Es wurde ein langes Gespräch, weil Hermine nicht nur erzählte, was sie von Neville und den Gryffindors erfahren hatte, sondern beide auch immer wieder abschweiften. Als Harry schließlich aufstand, neigte sich die übliche Zeit der Mittagspause bereits dem Ende zu. Sein Magen knurrte.

„Danke, Hermine“, sagte er schließlich, „dann bin ich erst einmal so weit informiert. Das genaue Vorgehen werde ich mir noch überlegen.“

„Lass dich von niemandem einwickeln“, mahnte sie ihn.

„Sagtest du nicht, ich sei der begabteste Auror, den das Ministerium je gehabt hat?“, grinste er.

Hermine grinste zurück.