56 – Rockwood Castle

Blubber schien sie schon erwartet zu haben, denn als sie im Empfangssaal des Manors apparierten, stand er wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen, verneigte sich bis zum Boden und begrüßte sie in seiner geschwollenen Art:

„Dem Hause Malfoy ist es eine besondere Ehre, Sie als seine Gäste willkommen zu heißen. Die Gnädigen Herrschaften haben sich schon große Sorgen gemacht…“

„Sorgen?“, wunderte sich Albus. „Wie können sie denn schon wissen, was passiert ist?“

Blubber setzte schon zu einer Antwort an, aber ein Jubelschrei ließ ihn verstummen:

„Al!“ James kam aus einem der angrenzenden Räume gestürmt, und die Brüder fielen einander um den Hals.

Victoire lief freudestrahlend hinterher und umarmte zuerst Rose, dann ebenfalls Albus. „Gott sei Dank hat mein Patronus euch noch rechtzeitig erreicht!“, rief sie. Dann jedoch stutzte sie. „Wo sind die Anderen?“

„In Askaban“, erwiderte Roy, dem dabei fast die Stimme versagte.

„Dein Patronus kam leider doch zu spät“, erläuterte Scorpius. „Die Auroren waren schon vor dem Slytherin-Raum. Als unsere Freunde fliehen wollten, liefen sie ihnen direkt in die Arme. Sie versuchten einen Schockzauber, aber die Auroren trugen Schutzwesten. Dann wurden sie selbst mit Schockzaubern überwältigt.“

„Wie seid ihr denn hierhergekommen?“, wollte Roy wissen.

„Wir waren bei Hagrid, als der Überfall begann“, antwortete James. „Wir sind in den Verbotenen Wald geflohen, haben die Dementoren mit unseren Patroni verjagt – nochmal danke, dass du uns das beigebracht hast. Victoire hatte dann die Idee, hierher zu disapparieren.“

„Was eine hervorragende Idee war“, hörte man jemanden aus dem Hintergrund rufen. Draco trat zu ihnen, gefolgt von seiner Frau und seinen Eltern. „Scorpius, würdest du uns deine Freunde bitte vorstellen?“

„Selbstverständlich, Vater“, erwiderte Scorpius in dem förmlichen Ton, der im Hause Malfoy üblich war.

„Roy MacAllister, Vertrauensschüler von Slytherin.“ Roy war überhaupt nicht nach Förmlichkeiten zumute, aber selbstverständlich gab er den Gastgebern, die ihn mit einer gewissen Neugier betrachteten, höflich die Hand.

Rose Weasley von den Gryffindors. Ihre Mutter ist die Zaubereiministerin. – Bernard Wildfellow, Slytherin. Der Sohn des Premierministers“, fügte er hinzu, als wolle er speziell seinem Großvater versichern, dass er nicht etwa irgendeinen dahergelaufenen Muggel, sondern durchaus standesgemäßen Besuch mitgebracht hatte. „Albus kennt ihr ja schon, und ich nehme an, Victoire und James haben sich schon vorgestellt?“

„In der Tat“, erwiderte Lucius Malfoy. „Gleich drei Gryffindors auf einmal im Manor – das hatten wir, glaube ich, noch nie, was?“

„Doch, hatten Sie schon einmal“, antwortete James vorwitzig. „Mein Vater war schon einmal hier, aber wir sind nicht nachtragend.“

Lucius‘ Miene verfinsterte sich. „Ich glaube auch nicht“, zischte er, „dass Sie in der Position sind, nachtragend zu sein!“

„Vater, bitte“, raunte Draco ihm zu.

„Mister Malfoy“, schaltete Victoire, an Lucius gewandt, sich ein. „Seien Sie versichert, dass wir Ihrer Familie sehr dankbar sind und Ihre Gastfreundschaft zu schätzen wissen.“

Mit ihrer Schönheit und ihrem Charme war es ihr ein Leichtes, den alten Herrn einzuwickeln. „Es ist uns eine Ehre, sie zu gewähren“, antwortete Lucius artig. „Trotzdem fürchte ich, dass wir Sie anderswo beherbergen müssen…“

„Einen Moment bitte“, warf Roy ein. „Bevor wir weiterreden, müssen wir Walden Macnair informieren, dass sein Sohn verhaftet wurde! Er selbst muss sofort untertauchen, wir brauchen ihn und seine alten Kameraden. Bitte erlauben Sie ihm, hier zu apparieren!“

Walden Macnair?“ Lucius Malfoy sah drein, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Fragend sah er auf seinen Sohn, und Draco nickte.

„Danke“, sagte Roy, dem ein Stein vom Herzen fiel. „Expecto Patronum!“ Sogleich war sein Bär zur Stelle. „Geh zu Walden Macnair“, befahl Roy seinem Patronus. „Sag ihm, dass Ares verhaftet und nach Askaban gebracht worden ist. Falls kein Unbefugter zuhört, sagst du ihm außerdem, er soll sofort im Malfoy Manor apparieren. Ach ja, noch etwas“, fügte er hastig hinzu, als der Bär schon Anstalten machte zu enteilen. Meine Güte, wo hast du heute nur deinen Kopf? schnauzte er sich in Gedanken an. „Begib dich dann zu William Malagan und Rodolphus Lestrange, auch sie müssen kommen. Beeil dich!“ Der Bär machte einen gewaltigen Satz und war fort.

Erst jetzt wurde Roy sich bewusst, dass die Malfoys ihn konsterniert anstarrten.

„Sagten Sie Rodolphus Lestrange?“, fragte Narzissa, als fürchtete sie, unter Halluzinationen zu leiden.

„Ja, Ma’am, Ihr Schwager lebt, Julian hat ihn ausfindig gemacht. Entschuldigen Sie bitte, ich hätte Sie um Erlaubnis bitten sollen.“

„Keineswegs, Rodolphus gehört schließlich zur Familie und Mister Malagan ist ein bedeutender Künstler, der hier willkommen ist“, beruhigte ihn Draco. „Mich soll’s freuen. Trotzdem werden wir Sie alle, auch Rodolphus, anderswo unterbringen müssen. Für das Amasi sind wir ohnehin hochgradig verdächtig, allein schon, weil wir Harry einen Anwalt besorgt haben. Ich schätze, wir bekommen morgen, vielleicht auch schon heute Abend, unerwünschten Besuch, zumal jetzt auch noch Scorpius aus Hogwarts verschwunden ist – was spätestens morgen früh auffallen wird.“

Scorpius wird natürlich zurückkehren“, mischte Astoria sich ein, „und Miss Weasley – Sie nickte Rose zu – und Mister Wildfellow ebenfalls. Sie werden nicht gesucht und sollten sich nicht in Gefahr begeben.“

„Mutter“, sagte Scorpius ernst, „ich bleibe bei Albus. Ich kehre erst wieder nach Hogwarts zurück, wenn er und seine Eltern außer Gefahr sind!“

„Junge“, schimpfte seine Mutter, „du weißt ja nicht, was du redest!“

Scorpius sah zu Draco. „Vater?“

Da sie ihren Mann zögern sah, baute die energische Astoria sich dicht vor ihm auf.

„Unser Sohn ist erst elf!“, zischte sie ihm zu, wenn auch so leise, dass niemand sonst es hören konnte. „Du kannst nicht dulden, dass er sein Leben riskiert!“

Draco blickte über sie hinweg nachdenklich zu seinem Sohn. Dann sah er wieder seine Frau an.

„Er ist erst elf“, bestätigte er, „aber er steht im Begriff, etwas zu tun, worauf er sein Leben lang stolz sein wird…“

„…wenn er es überlebt!“

„…und ich werde ihm das nicht verbauen“, beendete Draco seinen Satz, ohne auf Astorias Einwand einzugehen. Zu Scorpius sagte er laut: „Einverstanden! Aber du hörst auf Mister MacAllister, wenn ich nicht da bin, verstanden?“

„Ja.“

„Von dem Versteck aus, in das Blubber euch bringen wird, schickst du mir eine Eule, in der du schreibst, dass du Albus aus Freundschaft in den Untergrund begleitest. Dann habe ich etwas, was ich den Auroren zeigen kann, und kann so tun, als hätte ich nichts damit zu tun. Ihr aber“, wandte er sich an Rose und Bernie, „kehrt umgehend nach Hogwarts zurück, damit niemand behaupten kann, ihr wärt entführt worden.“

„Das werde ich nicht tun“, sagte Rose entschieden. „Meine Mutter hat die ganze Familie verhaften lassen, und ich werde alles tun, um sie freizubekommen! Ich werde meiner Mutter schreiben, dass ich Albus freiwillig begleite, und dass sie mich erst wiedersieht, wenn sie Alle, auch Harry und die Unbestechlichen, freigelassen und ihre verdammten Notverordnungen zurückgenommen hat!“

Diese schneidige Ansage nötigte Draco Respekt ab. „Donnerwetter“, sagte er nach einem Moment verblüfften Schweigens. „Du ähnelst deiner Mutter, wie sie früher war.“

„Ist das denn aus Ihrem Mund wirklich ein Kompliment?“

In Roses Stimme klangen Zweifel mit, schließlich waren Draco und Hermine sich ihre ganze Schulzeit über spinnefeind gewesen.

Draco lachte. „Heute kann ich es ja sagen – ich habe sie damals nur deshalb ständig beleidigt, weil ich mir unmöglich eingestehen und schon gar nicht zugeben konnte, dass ich… nun ja, eine gewisse Schwäche für sie hatte. Also ja, es war ein Kompliment.“

„Was mich betrifft“, ließ sich nun Bernie vernehmen, „so schreibe ich meinem Vater praktisch dasselbe. Meine Bitte, Druck auf die Ministerin auszuüben, hat er abgelehnt, nun versuche ich es eben so!“

In diesem Moment knallte es. Rodolphus Lestrange war appariert.

„Guten Abend, Narzissa“, begrüßte er zuerst seine Schwägerin. „Lucius, Draco. Äh…“ Er sah Draco fragend an.

„Onkel Rodolphus, darf ich dir meine Frau Astoria und meinen Sohn Scorpius vorstellen?“

Rodolphus reichte beiden die Hand.

„Warum“, wollte Draco wissen, „hast du nie von dir hören lassen? Bis eben dachten wir, du seist tot.“

„Ich war untergetaucht und hielt es für nützlich, für tot gehalten zu werden. Außerdem wusste ich, dass ich nicht euer Lieblingsverwandter war.“

An Lucius‘ Miene konnte man ablesen, dass sich dies tatsächlich so verhielt.

Nun apparierte auch Walden Macnair.

„Hallo Malfoy, hallo Draco, ach, hallo Rodolphus“, sagte er lässig. „Lange nicht gesehen, was?“

„Allerdings“, murmelte Lucius, und man merkte, dass er es gerne dabei belassen hätte. Nachdem Alle einander begrüßt hatten, trat peinliches Schweigen ein, während die drei alten Todesser einander musterten. Die Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit war etwas, was Lucius, Rodolphus und Walden offensichtlich mehr trennte als verband.

Das Schweigen wurde durch das Erscheinen von Roys Patronus unterbrochen. „Ich konnte keinen Kontakt zu William Malagan aufnehmen. Er steht unter Hausarrest“, sagte er und verschwand.

Roys Lippen formten einen stummen Fluch.

„Nun, dann sind wir vollzählig. Ich habe Sie mit Erlaubnis der Familie Malfoy hierhergebeten“, erläuterte Roy, „weil die Zaubereiministerin in einem Rundumschlag die Unbestechlichen, darunter Julian und Ares, und obendrein fast den ganzen Weasley-Clan hat verhaften lassen. Wir müssen insgesamt dreizehn Personen aus Askaban befreien und sind nur zu siebt.“ Er stellte Albus, James, Rose, Scorpius, Bernie und Victoire vor. Lestrange und Macnair runzelten die Stirn.

„Das wird ja der reinste Kinderkreuzzug“, spottete Macnair schließlich.

„Nicht ganz“, wandte Draco ein, „ich werde auch dabei sein. Wir sind also schon acht.“

„Was in der Tat ziemlich genau das Durchschnittsalter sein dürfte“, witzelte Macnair in seiner trockenen Art. „Also, ein paar Erwachsene mehr könnten wirklich nicht schaden.“

„So ist es“, bestätigte Roy. „Machen Sie mit?“

„Na klar.“

„Ich auch“, sagte Rodolphus Lestrange.

„Entschuldigung“, warf Draco nun ein. „Sie sind hier nicht sicher, wir rechnen mit einer baldigen Razzia der Auroren. Ich glaube, die weiteren Besprechungen sollten Sie besser in einem sicheren Versteck führen.“

Macnair hob die Brauen. „Rockwood Castle?“

„Rockwood Castle.“

„Immer noch nicht aufgeflogen?“

Draco schüttelte den Kopf.

„Rockwood Castle“, erläuterte er den Anderen, „ist ein alter Todesserunterschlupf, der durch Verwirrungszauber geschützt ist und für Außenstehende wie eine alte Ruine aussieht, ähnlich wie Hogwarts. Anders als in Hogwarts wirken die Schutzzauber aber nicht nur gegen Muggel, sondern gegen Jeden, auch gegen Auroren. Das Ministerium kennt das Versteck bis heute nicht. Ich werde die Zauber jetzt für Sie aufheben.“

Draco hob seinen Zauberstab und richtete ihn nacheinander auf Roy, Bernie, Scorpius, die beiden Potters und die beiden Weasleys, wobei er jeweils etwas murmelte.

„Das war’s“, sagte er schließlich. „Da Sie den Ort noch nicht kennen, werden Sie beim ersten Mal an der Seite der Hauselfen dort apparieren. Blubber“, wandte er sich an seinen Chefelfen, „du bringst unsere Gäste mit deinen Untergebenen hin. Ich verlasse mich darauf, dass es ihnen in Rockwood Castle an nichts fehlen wird.“

„Sehr wohl, Gnädiger Herr.“ Der Elf verneigte sich und rief weitere Hauselfen herbei.

„Ich selbst“, fuhr Draco fort, „komme heute nicht mit. Ich werde weiterhin, wie immer, zur Arbeit ins Ministerium gehen, um keinen Verdacht zu erwecken. Honorius Greengrass hält mich über alles auf dem Laufenden. Er wird morgen früh auch zu Ihnen nach Rockwood kommen, um Sie über den neuesten Stand der Dinge zu informieren. Ich empfehle Ihnen, seinen Bericht abzuwarten, bevor Sie irgendwelche Entscheidungen treffen. Es war ein ereignisreicher, ziemlich unerfreulicher Tag, lassen Sie ihn ausklingen, überschlafen Sie alles. Morgen sind Sie dann ausgeruht. Tja – dann bleibt uns nur noch, uns von Ihnen allen bis auf Weiteres zu verabschieden.“

 

Rockwood Castle war eine Burg aus dem dreizehnten Jahrhundert. Die Hauselfen führten jeden der Ankömmlinge in ein eigenes Gästezimmer und zauberten passende Kleidung herbei, damit die Gäste sich bei Bedarf umziehen konnten, schließlich hatte niemand Zeit gehabt zu packen. Die Zimmer waren nicht so raffiniert eingerichtet wie die im Manor, aber die rohen Mauern und Steinfußböden, die groben Teppiche, die Kamine und die mittelalterlichen Betten und Schränke hatten durchaus etwas Anheimelndes. Man konnte wirklich nicht klagen – mancher Muggeltourist hätte sich eine derart romantische Unterkunft bestimmt etwas kosten lassen, vorausgesetzt, er wäre in der Lage gewesen, die magischen Warmwasserduschen zu bedienen. Letzteres war freilich nur für Bernie ein Problem, der sich dazu von den Hauselfen helfen lassen musste.

Da Rose, Scorpius und Bernie zuerst die Briefe an ihre Eltern schrieben und abschickten, war es fast halb zehn, als Alle an der Tafel in dem von Fackeln und Kerzen beleuchteten, mit Wandteppichen geschmückten Rittersaal Platz nahmen. Die Elfen hatten sich diskret nach den Wünschen jedes einzelnen Gastes erkundigt. Da Alle schon zu Abend gegessen hatten, wurden nur Getränke gereicht.

Roy überlegte, ob er sich einen Feuerwhisky bestellen sollte, aber Arabellas Mahnung klang ihm noch im Ohr und hielt ihn davon ab: Deine Mutter ist an einer Sucht gestorben, und du weißt nicht, ob du ihre Veranlagung geerbt hast! Und wie hatte noch der Arzt jener Klinik gesagt, in der er vergeblich seine Mutter unterzubringen versucht hatte? Trinken, wenn man glaubt, es nötig zu haben, ist der erste Schritt in die Sucht! Roy glaubte in der Tat, es heute nötig zu haben, gerade deshalb bestellte er lieber wie alle Schüler einen heißen Kakao als Schlaftrunk. Draco hatte recht: Diesen Tag sollte man so schnell wie möglich abhaken.

Macnair und Lestrange, die an einem Ende der Tafel Platz genommen hatten und sich als Einzige Butterbier schmecken ließen – ein Hochgenuss vor allem für Lestrange, der in der Muggelwelt fast zwanzig Jahre lang keines mehr bekommen hatte – hatten einander viel zu erzählen und unterhielten sich angeregt, aber in gedämpftem Ton.

Von den Hogwarts-Schülern war keiner sehr gesprächig. Nach den Aufregungen der vergangenen Stunden war die plötzliche Ruhe zwar wohltuend, zugleich aber gab sie ihnen auch Gelegenheit, über ihre Lage nachzudenken.

Mein Gott, dachte Roy, ist das wirklich noch keine vier Stunden her, dass wir als ganz normale Hogwarts-Schüler in der Großen Halle zu Abend gegessen haben? Keine vier Stunden, dass ich mich von Arabella verabschiedet habe? Sein Magen krampfte sich zusammen: Er hatte ihr nur ein flüchtiges Küsschen gegeben, und dabei war es vielleicht das letzte Mal überhaupt…

Bezwing dich, du bist ein Slytherin!

Um sich abzulenken, versuchte er, der zwischen seinen Mitschülern auf der einen Seite und den beiden alten Todessern auf der anderen saß, deren Gespräch zu lauschen.

„Ha! Ein Angriff auf Askaban!“, hörte er Macnair sagen. „Wer hätte das gedacht, dass wir als alte Zausel noch einmal die Gelegenheit zu einem solchen letzten Hurra bekommen? Ich fühle mich schon zehn Jahre jünger!“ Seine Augen glühten vor Vorfreude.

„Meinst du denn“, fragte Lestrange, „du kannst noch ein paar von den Jungs zusammentrommeln?“

Macnair nahm einen tiefen Schluck Butterbier. „Ein paar bestimmt… nicht sehr viele allerdings. Die meisten sind froh, wenn man sie in Ruhe lässt, etliche sind auch einfach zu alt für eine solche Aktion. Ein knappes Dutzend kriege ich vielleicht. Die sind natürlich auch alt, aber noch gesund, genau wie wir beide.“

Roys Gedanken schweiften wieder ab. Er sah sich in der Runde um. Fünf Kinder, zwei Teenager, zwei alte Todesser. Das letzte Aufgebot der magischen Welt: Ein Kindergarten und ein Altersheim.

Er sah auf Scorpius. Was hätte in anderen Zeiten aus diesem Scorpius werden können? Er verkörpert Alles, was seine Familie irgendwann einmal groß gemacht hat, Alles, was an der magischen Welt edel, bewahrenswert und im besten Sinne des Wortes vornehm ist. Er hat es nicht verdient, der Letzte zu sein!

Victoire, auch sie die Blüte einer uralten Magierfamilie. Albus und James, schon jetzt würdige Söhne eines bedeutenden Vaters. Rose und Bernie: Beide hätten es nicht nötig gehabt, Partei zu ergreifen. Beide stellen sich gegen ihre übermächtigen Eltern – nicht wie andere mit fünfzehn und aus irgendwelchen Flausen heraus, sondern mit elf und aus den besten Gründen, die es gibt. Sie tun es aus Treue zu ihren Freunden, und sie tun es, weil sie es als das Richtige erkannt haben.

Sie alle sind unbestechlich.

Roy atmete jetzt freier. Nein, dachte er. Die hier vor mir sitzen, sind kein Kindergarten. Sie sind jetzt schon eine Elite. Und es sind nicht nur Slytherins, es sind auch Gryffindors. Eine Welt, die solche Kinder hervorbringt, geht nicht unter! Und wenn es mehr Bernies gäbe, gäbe es sogar Hoffnung für die Muggelwelt.

„Dass du dich so freuen kannst“, hörte er Lestrange sagen, der seinen alten Kumpel verwundert ansah. „Hast du eigentlich keine Angst um Ares?“

„Nö“, meinte Macnair. „Wir holen ihn doch heraus!“

„Und wenn es schiefgeht?“

„Dann sterben er oder ich oder wir beide einen ehrenvollen Tod. Es gibt wirklich erbärmlichere Arten zu sterben als im Kampf gegen dieses Regime!“

„Manchmal wünschte ich wirklich“, meinte Lestrange, „ich wäre wie du. Ich habe nur Angst um Julian. Unser Enkel ist das Einzige, was von Bellatrix und mir noch bleibt, und wenn er stirbt…“

Wenn Arabella stirbt, durchzuckte es Roy, bleibt von uns gar nichts!

Sein Versuch, sich abzulenken, war gescheitert. Die Dementoren haben Arabella! Die Dementoren haben Arabella! Er hätte schreien mögen. Er durfte nicht! Er zwang sich wieder, den beiden Alten zuzuhören.

„Ach, Lestrange, du nimmst das Leben immer noch viel zu schwer! Das macht dich sympathisch, aber irgendwie stehst du dir auch selbst im Weg. Deinen Julian kriegst du wieder – ein Prachtjunge übrigens, ich habe ihn kennengelernt –, aber vorher haben wir noch einen Heidenspaß, freu dich doch drauf, statt Trübsal zu blasen!“

Nun musste Lestrange doch lächeln, und Roy auch. Macnairs fröhliches Berserkertum hatte ganz entschieden etwas Ansteckendes.

Albus“, fragte Roy, „hast du die Karte des Rumtreibers bei dir?“

„Immer“, antwortete Albus. „Warum?“

„Kannst du nachsehen, ob sich jemand an unserem Geheimraum herumtreibt? Wenn nein, haben die Auroren ihn vielleicht noch nicht entdeckt, und ich könnte noch einmal nach Hogwarts und ein paar ältere Slytherins holen.“

Albus sah auf die Karte. „Sieht schlecht aus. Da sind lauter Namen, die ich nicht kenne, wahrscheinlich Auroren. Und so viele, das sie unmöglich alle in die Besenkammer passen können. Sie müssen den Raum gefunden haben. Wenn du dort apparierst, nehmen sie dich sofort fest. Wahrscheinlich warten sie sogar darauf.“

Die Stimmung, die sich gerade erst gebessert hatte, sackte sofort wieder auf den Nullpunkt.

„Wäre ja auch zu schön gewesen. Man müsste also vor dem Tor apparieren und dann hineingehen.“

„Lass das lieber“, meinte Victoire. „Vorhin war das ganze Gelände von Dementoren umstellt, und die Auroren sind bestimmt auch noch da. Albus hat recht, die warten auf uns, und vor allem auf dich. Es hat keinen Sinn, heute können wir nichts mehr unternehmen, seien wir froh, dass wir davongekommen sind. Ich finde, wir sollten jetzt schlafengehen.“

Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung, nur die beiden Alten wollten noch ein wenig sitzenbleiben, während die Jüngeren sich erhoben.

„Victoire“, fragte Rose ein wenig schüchtern, „ich möchte heute Nacht nicht allein sein, darf ich bei dir schlafen?“

„Na klar.“

„Mist!“, rief James. „Warum ist mir das nicht eingefallen?“

„Weil es dir nichts genützt hätte, mein Kleiner“, erwiderte Victoire grinsend. „Solange du noch zu so frühreifen Anzüglichkeiten fähig bist, brauchst du bestimmt nicht so viel Trost und Beistand wie sie.“

 

Albus hatte sich gerade ins Bett gelegt und wollte die Kerze ausblasen, als es an seiner Tür klopfte.

„Ja?“

Es war Victoire.

„Ich wollte dir noch Gute Nacht sagen“, sagte sie und setzte sich auf die Bettkante. „Ich dachte, du brauchst vielleicht jemanden zum Reden. Du bist schon sehr tapfer, aber ich glaube, du bist sensibler und hast mehr Angst um deine Eltern, als du zugibst.“

Albus überlegte, dann schüttelte er den Kopf. „Mit dir rede ich immer gerne, aber Angst habe ich eigentlich nicht.“

„Wirklich nicht?“, fragte Victoire zweifelnd. „Oder sagst du das nur, weil du glaubst, ein echter Slytherin darf so etwas nicht zugeben?“

„Das stimmt zwar irgendwo, aber dir würde ich es trotzdem sagen, wenn es so wäre. Nein, ich habe einfach deshalb keine Angst, weil Roy bei uns ist. Er hat versprochen, sie herauszuholen, und Roy hält jedes Versprechen! Wirklich, ich habe keine Angst.“

Victoire lächelte. „Na dann“, – sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn –, „schlaf schön.“

„Du auch.“

Victoire war schon an der Tür, da rief er noch einmal: „Victoire?“

Er druckste und lief rot an. Es war ihm ein bisschen peinlich, aber Rose würde sich freuen: „Gibst du… ähm, gibst du Rose ein Gute-Nacht-Küsschen von mir?“

Sie lachte.

„Mach ich.“

57 – Nächtliches Abenteuer

 

Roy stand im langen, von Fackeln erleuchteten Hauptkorridor des ersten Untergeschosses von Askaban.

„Hol sie“, knurrte er den Dementor an, den sein Patronus in eine Ecke getrieben hatte. Er rief den Patronus zurück, um dem Dementor, dessen Gesicht unter einer Kapuze verborgen war, etwas Platz zu lassen. Dieser zog einen Schlüsselbund aus seinem schwarzen Umhang, schwebte, bewacht von dem silbernen Bären, den Hauptgang entlang und verschwand in einem Seitenkorridor. Roy hörte Schlüssel rasseln, dann schritten sie ihm auch schon bedächtig entgegen: Julian, Ares, Orpheus, Harry und Ginny.

Arabella fehlte.

„Hol mir den Dementor!“, rief er dem Patronus zu.

Der Bär verschwand mit einem wuchtigen und doch eleganten Satz und kam sogleich wieder. Den Dementor trieb er vor sich her. Roy zog den Basilisken-Giftzahn aus der Scheide.

„Wo ist Arabella, du Scheusal? Ich bring dich um, wenn du es mir nicht sagst!“

Er hob den Giftzahn, bereit, zuzustoßen.

„Du bringst mich auch um, wenn ich es dir sage“, erwiderte der Dementor rätselhaft mit einer heiseren, irgendwie leeren Stimme. „Sie ist in Zelle zweiundzwanzig.“

„Führ mich hin.“

Der Dementor ging voran, wurde aber immer langsamer.

„Beeil dich!“

„Du solltest es nicht eilig haben“, sprach der Dementor wieder in Rätseln. Vor einer Zelle, über der „XXII“ prangte, blieben sie stehen. Der Dementor fummelte umständlich an seinem Schlüsselbund herum.

„Mach endlich auf!“

Der Dementor ließ ein höhnisches Lachen hören. „Wie du willst“, sagte er, riss die Tür mit einem plötzlichen Schwung auf und röchelte:

„Du kommst zu spät, Schlammblut!“

Auf der rohen Pritsche lag, nur noch am blonden Haar erkennbar, die halbverweste Leiche Arabellas.

Mit einem Schrei der Qual fuhr Roy hoch. Er brauchte einen Moment, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er war nicht in Askaban, er war in Rockwood Castle. Das Gefühl der Erleichterung, das man normalerweise nach dem Erwachen aus einem Alptraum hat, wollte sich trotzdem nicht einstellen.

Er war in Rockwood Castle. Arabella war in Askaban.

Roy sah auf die Uhr. Kurz nach zwei. Es war fürwahr nicht der erste Alptraum dieser Nacht gewesen, aber der schlimmste. Er würde heute nicht mehr schlafen.

Roy stand auf und ging an das winzige Fenster in der meterdicken Burgmauer. Die Fensterscharniere protestierten mit einem hässlichen Quietschen gegen das erste Öffnen seit langer Zeit. Roy sog die kalte Nachtluft ein. Der Mond wurde von schnell dahineilenden Wolken abwechselnd verborgen und enthüllt. Eine stürmische Nacht.

Die Dementoren haben Arabella! Die Dementoren haben Arabella! Er musste etwas unternehmen, sofort und egal, was!

Er zog sich warm an. Ob man von hier disapparieren konnte? Er würde es einfach versuchen…

Einen Moment später stand er an der Pier von Branness. Wenn es schon in Wales, wo Rockwood Castle lag, stürmisch war, so herrschte hier an der schottischen Nordseeküste fast schon ein Orkan, dazu wolkenbruchartiger Regen!

Roy war ganz allein im Hafen. Die Fischkutter, die doch sonst um diese Zeit zum Auslaufen klargemacht wurden, zerrten heftig an ihren Tauen und Ankerketten, als wollten sie die Abwesenheit ihrer Herren zur Flucht benutzen. Die Fischer von Branness hatten offenbar festgestellt, dass dies keine Nacht war, die man auf hoher See verbringen sollte.

Roy nahm wieder die Gestalt einer Silbermöwe an, stieß sich ab und wurde sofort vom Nordoststurm erfasst. Er wandte sich gegen den Wind und gewann an Höhe. Da Askaban in östlicher Richtung lag, würde er gegen starken Seitenwind ankämpfen und dabei noch darauf achten müssen, an der Insel nicht vorbeizufliegen. Ein Muggelgefängnis mit seiner flutlichtartigen Beleuchtung wäre um diese Zeit so wenig zu verfehlen gewesen wie ein vollbesetztes Fußballstadion, Askaban aber lag wie fast alle Gebäude der magischen Welt nachts unter Fackelschein. Roy führte stumm den Calorate-Zauber aus. Weit draußen in östlicher Richtung war ein Fleck mehr zu ahnen als zu sehen, der geringfügig heller als die kalte Nordsee ringsum war.

Er versuchte verzweifelt, auf den nur für ihn sichtbaren, nicht völlig dunklen Fleck zuzufliegen, ohne vom Sturm davongeweht zu werden. Hatte er die Strecke bei seinem ersten Besuch in Askaban an einem freundlichen Vormittag in kaum einer Viertelstunde zurückgelegt, so musste er sich diesmal jeden Meter einzeln vorankämpfen. Gewiss wusste er, dass das, was er hier tat, verrückt war, aber allein die ungeheure Kraft, die er dazu aufwenden musste, verscheuchte das Gefühl ohnmächtiger Angst, das ihn aus seinem Zimmer in Rockwood vertrieben hatte.

Nach über einer Stunde hatte er es schließlich geschafft: In einem letzten Kraftakt flog er über den Innenhof des Gefängnisses und ließ sich eher hineinplumpsen als noch zu fliegen. Er landete in einer Pfütze.

Hier unten war es beinahe windstill, und der Regen hatte nachgelassen. Roy wurde sich bewusst, dass er weder nass war noch fror. Das Gefieder eines Seevogels war wirklich eine einzigartige Bekleidung. Ich sollte, überlegte er, einen Zauber entwickeln, mit dem sich die Menschen ein solches Gefieder wachsen lassen können, dann brauchen sie keinen Mantel mehr. Aber erst, wenn das hier alles vorbei ist…

Sehen konnte man – mit oder ohne Calorate-Zauber – überhaupt nichts. Nur oben ließen sich Wolken wenigstens ahnen. Roy brauchte nichts zu sehen. Er war in Arabellas Nähe.

„Arabella!“, schrie er aus Leibeskräften, freilich auf Möwisch, was für einen Menschen nur wie irgendein Möwenruf geklungen hätte, wenn auch wie ein besonders verzweifelter.

„Arabella!“

Natürlich konnte sie ihn nicht hören, er selbst hatte die Grundrisse von Askaban studiert – in die Zellentrakte drang bestimmt kein Laut.

„Arabella!“

Es war ihm egal, ob die Auroren oder Dementoren sich wunderten, dass um diese Uhrzeit eine Möwe schrie. Wenn sie es überhaupt registrierten – und besonders aufgeweckt waren die hiesigen Auroren ja nicht, von den Dementoren ganz zu schweigen –, würden sie glauben, eine Silbermöwe zu hören, die sich den Flügel gebrochen hatte und nun vor Schmerz schrie.

Und im Grunde ist es ja auch genau so, dachte Roy.

„Arabella!“, schrie er weiter in die Nacht, immer wieder.

Nach einer Weile gab er es auf. Entweder hatte Arabella ihn – aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz – hören können, dann würde sie im Gegensatz zu den Auroren wissen, was der Ruf einer Silbermöwe mitten in der Nacht zu bedeuten hatte. Oder sie konnte es nicht hören, dann war es sinnlos, noch mehr Kräfte zu verpulvern. Seine Flügel schmerzten von dem anstrengenden Flug. Ich muss ihr irgendein Zeichen hinterlassen, aber dazu muss ich etwas sehen. Am besten, ich ruhe ein wenig aus. Er steckte den Kopf ins Gefieder und schlief ein.

Es war kein langer Schlaf, aber als er erwachte, fühlte er sich ein wenig erholt. Der Himmel über ihm war jetzt etwas heller, obwohl es noch nicht Tag war. Als er in dem schwachen Dämmerlicht die Umrisse eines Steins ausmachen konnte, kam ihm eine Idee. Er hob den Stein mit dem Schnabel an und trug ihn an den Fuß jenes Mauervorsprungs, auf dem er gesessen hatte, als Harry beim Hofgang seine Runden drehte. Dann rupfte er sich fünf seiner silberfarbenen Schwungfedern aus, legte sie leicht fächerförmig nebeneinander und beschwerte ihre Kiele mit dem Stein, der heller war als der Untergrund. Mit ein bisschen Phantasie konnte man das Gebilde als Darstellung einer Bärentatze deuten. Dementoren sahen schlecht, Auroren würden den Innenhof nur im Notfall betreten und auch dann kaum die richtigen Schlüsse ziehen. Die Gefangenen aber mussten auf ihrem Hofgang daran vorbeikommen. Arabella, Julian, Orpheus, Ares – sie alle würden wissen, was eine Bärentatze, dargestellt mit Hilfe von Möwenfedern, zu bedeuten hatte. Er schämte sich ein bisschen, dass er die ganze Zeit kaum an die drei anderen Unbestechlichen gedacht hatte, erst recht nicht an die Potters und Weasleys, aber die Sorge um Arabella hatte alles Andere verdrängt. Jetzt würden auch sie erkennen können, dass er hier gewesen war.

Er musste zurück, in Rockwood Castle würde man sich wundern, wenn er nicht zum Frühstück da war. Er breitete die Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Da der Sturm etwas nachgelassen hatte, er jetzt bessere Sicht hatte und auch nicht unbedingt darauf angewiesen war, in Branness zu landen, konnte er sich etwas mehr vom Wind treiben lassen als beim Hinflug, trotzdem war es immer noch anstrengend. Nach etwa einer halben Stunde Flug ließ er sich auf einem Felsen ein paar Meilen südlich des Fischerdorfs nieder. Es war nicht mehr stürmisch, regnete aber so heftig, dass er in den wenigen Sekunden zwischen seiner Rückverwandlung in einen Menschen und dem Disapparieren bis auf die Haut durchnässt wurde.

Gleich darauf stand er wieder in seinem Zimmer in Rockwood Castle. Es war halb sieben, und er hatte einen Bärenhunger. Die Anderen würden noch schlafen, aber die Hauselfen waren bestimmt schon in der Burgküche am Werk. Ohne sich umzuziehen, schlüpfte er aus seinem Zimmer – und lief geradewegs Albus in die Arme.

„Roy!“ Albus war entsetzt, als er seinen Freund vor sich stehen sah: klatschnass, bleich, übernächtigt und vor Entkräftung zitternd. „Woher kommst du? Wo bist du gewesen?“

„In Askaban“, brummte Roy und wollte sich an Albus vorbeischieben, aber der hielt ihn fest.

„Wozu das denn?“

„Um ihr nahe zu sein.“

„Roy, das hat doch keinen Sinn, sie kann dich doch weder gesehen noch gehört haben!“, rief Albus leicht verzweifelt.

„Hat sie auch nicht, aber ich konnte nicht anders.“

„Roy!“ Angst zitterte in Albus‘ Stimme. „Du darfst jetzt nicht kopflos werden! Das Leben meiner Eltern hängt davon ab, und auch das von Arabella und unseren Freunden, dass du deinen kühlen Verstand behältst. Tu das, was du am besten kannst: Nachdenken! Du hilfst niemandem, wenn du deine Kraft in sinnlosen und gefährlichen Aktionen verpulverst und dich in Askaban herumtreibst!“

„Ich habe auf dem Innenhof ein Zeichen hinterlassen, das nur die Gefangenen deuten können. Sie sollen wissen, dass ich sie befreien werde!“

„Aber Roy, das weiß Arabella doch auch so, und die Anderen auch.“

„Woher sollen sie wissen, dass ich auf freiem Fuß bin?“, fragte Roy in einer plötzlichen Eingebung. „Du hast Julian doch gehört, sie haben untereinander keinen Kontakt, und da sie bewusstlos aus Hogwarts hinausgeschafft wurden, können sie nicht wissen, dass ich frei bin, ich könnte ebenso gut, wie sie, in Askaban sitzen, ohne dass sie mich je zu Gesicht bekommen würden. Es war wichtig, ihnen zu sagen, dass das nicht der Fall ist, und dass ich an ihrer Befreiung arbeite, um ihnen Zuversicht einzuflößen.“

„Ach so!“ Albus atmete auf. „Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? So verstehe ich es doch, und jetzt, wo du es so erklärst, finde ich, du hast recht. Entschuldige bitte, dass ich einen Moment dachte, du hättest völlig den Kopf verloren.“

„Kein Problem. Kommst du mit in die Küche? Ich habe Hunger.“

„Gern. Aber zuerst… du gestattest?“ Albus zog seinen Zauberstab, zauberte Roy trocken und verpasste ihm einen Aufmunterungszauber. Dann gingen sie hinunter Richtung Küche.

Auf dem Weg zur Küche ging Roy im Stillen hart mit sich ins Gericht: Dass es sinnvoll gewesen war, ein Zeichen zu hinterlassen, stimmte zwar, war ihm aber erst während des Gesprächs mit Albus eingefallen, eigentlich war es eine Ausrede. Albus hatte recht gehabt, er hatte völlig den Kopf verloren! Roy schämte sich, Albus, der ihn brauchte, ihn bewunderte und auf ihn baute, derart verunsichert zu haben. Er selbst hatte ihm, als Harry verhaftet wurde, eingeschärft: Wir sind Slytherins! Wenn wir einen Schlag einstecken müssen, halten wir den Kopf gerade, verziehen keine Miene, bleiben auf beiden Beinen stehen und lassen uns von nichts und niemandem niederstrecken, verstanden? Und nun flatterte er selbst mit der Panik eines aufgescheuchten Huhns herum! Das würde ihm nicht noch einmal passieren!

Sie brauchten gar nicht bis zur Küche zu gehen: Kaum hatten die Elfen bemerkt, dass zwei ihrer Gäste bereits auf den Beinen waren, zauberten sie ein üppiges Frühstücksbuffet in den Rittersaal. Die beiden Freunde ließen sich nieder, und während Albus sich mit einem Toast und einem Rührei begnügte, fraß Roy sich durch das Buffet und trank dazu etliche Tassen eines – nach britischen Maßstäben – extra starken Kaffees.

Alsbald trudelten nach und nach auch die Anderen ein, die es ebenfalls nicht mehr im Bett gehalten hatte. Roy erzählte von seinem nächtlichen Ausflug und stellte ihn so dar, als sei er eine von Anfang an wohldurchdachte Aktion gewesen. Da niemand von ihm etwas Anderes als wohldurchdachte Aktionen erwartete, glaubten sie ihm.

„Sehr gut“, lobte Macnair. „Auf diese Weise hast du ihnen Bescheid gegeben, ohne tage- oder wochenlang darauf warten zu müssen, dass jeder einzelne Gefangene seinen Hofgang absolviert. Womöglich wären dann selbst diese unterbelichteten Dementoren darauf gekommen, dass mit dieser Möwe etwas nicht stimmt. Außerdem wirst du hier gebraucht.“

„Ich weiß“, sagte Roy, der es dabei vermied, von seinem Teller aufzusehen.

58 – Der neue Plan

 

Greengrass erschien gegen halb zehn und begann gleich, seine Zuhörer ins Bild zu setzen:

„Ich habe leider eine schlechte Nachricht“, hob er an. „Die Todesstrafe droht aufgrund der neuesten Notverordnung nicht nur Harry, sondern auch den inhaftierten Unbestechlichen.“

Er verlas den Text der Notverordnung. Roy, der so etwas schon geahnt hatte, blieb seinem Entschluss treu, keine Nerven mehr zu zeigen, und verzog keine Miene.

„Ja, aber das gilt doch dann auch für meine Mutter“, warf Albus entsetzt ein.

„Und für meine Eltern. Für die ganze Familie“, fügte Victoire hinzu.

„Was das betrifft“, erwiderte der Anwalt, „habe ich eine gute Nachricht, die mir die Leiterin der Magischen Strafverfolgung heute Morgen von Kollege zu Kollege persönlich gesteckt hat: Die Ministerin legt großen Wert darauf, die Loyalität ihres wichtigsten Mitarbeiters Percy Weasley nicht überzustrapazieren und hat ihm im Beisein von Susan Bones versichert, dass seine Blutsverwandten strafrechtlich nicht verfolgt werden, sie will sie nur eine Weile aus dem Verkehr ziehen.“

Man glaubte den Stein hören zu können, der Albus, James, Rose und Victoire vom Herzen fiel.

„Damit komme ich zur guten Nachricht Nummer zwei: Die Weasleys, einschließlich Ginny Potter, sind nicht in Askaban inhaftiert, sondern stehen im sogenannten Fuchsbau unter Hausarrest, ebenfalls aus Rücksicht auf Percy. Sie werden streng bewacht, aber von Auroren, nicht Dementoren, und in ihrer vertrauten Umgebung.“

„Ganz schön raffiniert“, warf Victoire ein. „Hermine spielt die Großmütige und verpflichtet sich Percy dadurch, zugleich hält sie die Familie praktisch als Geiseln, um seiner Loyalität ein wenig nachzuhelfen.“

„Sie sagen es“, bestätigte der Anwalt unter wohlgefälligem Blick auf die schöne Victoire. „Leider ist eine Kontaktsperre verhängt worden, ich kann sie daher nicht sprechen, und sie dürfen auch keine Briefe schreiben oder empfangen.“

„Was ist mit unserer Schwester Lily?“, wollte James wissen.

„Und mit meinem Bruder Hugo?“, fügte Rose hinzu.

„Die sind ebenfalls im Fuchsbau, keine Sorge. Harry allerdings ist kein Blutsverwandter von Percy und wird nicht geschont, die Unbestechlichen erst recht nicht. An ihnen allen soll ein Exempel statuiert werden.“ Er sah auf Roy. „Haben Sie den Tagespropheten schon gelesen?“

Da Roy verneinte, zog der Anwalt sein Exemplar aus dem Umhang und schob es ihm hinüber. Auf der Titelseite prangten die Portraits von Roy und von Walden Macnair. Auf Roys Ergreifung war eine Belohnung von zehntausend Galleonen ausgesetzt, auf die von Macnair nur zweitausend.

„Also ehrlich“, murrte Macnair, „was muss man denn noch alles anstellen, damit ein anständiges Kopfgeld auf einen ausgesetzt wird? Als in Ehren ergrauter alter Todesser habe ich doch wohl einen größeren Anspruch darauf als unser junger Hüpfer hier. Zweitausend Galleonen, was für eine Beleidigung! Ich glaube, ich werde das Ministerium verklagen.“

Der Anwalt, der sich an Macnairs speziellen Humor noch nicht gewöhnt hatte, brauchte einen Moment, um den Witz als solchen zu erkennen. Dann schmunzelte er.

„Ich glaube, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Mister Macnair, dass Sie mehr aus propagandistischen Gründen mit auf der Titelseite sind. Als alter Todesser sollen Sie wohl illustrieren, in welch schlechter Gesellschaft sich Mister MacAllister bewegt. Gut, weiter mit den Neuigkeiten: Miss Bones hat mir heute Morgen mitgeteilt, dass ein Verfahren gegen die inhaftierten Unbestechlichen erst nach einem Urteil im Prozess gegen Harry Potter stattfinden wird, und dass dieser Prozess am 1. März eröffnet wird.“

Rings um den Tisch vernahm man vielstimmiges Stöhnen. Noch drei Wochen nervenzerrendes Warten allein bis zum Beginn des Prozesses!

„Wie lange wird der Prozess voraussichtlich dauern?“, wollte Roy wissen.

„Da die Beweislage klar ist“, antwortete Greengrass, „und es nur auf die Beweiswürdigung ankommt, rechne ich mit drei, maximal vier Verhandlungstagen für den ganzen Prozess einschließlich der Plädoyers. Für die Urteilsverkündung wird wohl ein eigener Termin anberaumt werden. Wenn die Ministerin, die selbst den Vorsitz führen wird, zügig durchverhandelt, könnte das Urteil schon am Dienstag, dem 6. März, vorliegen.“

„Wie stehen Harrys Chancen? Wir müssen das unbedingt genau wissen, weil…“

„…Sie ihn sonst vorher heraushauen, ich weiß, Ginny hat mir die Problematik erst gestern in unserem letzten Gespräch vor ihrer Verhaftung erläutert. Ich sage Ihnen dasselbe, was ich schon ihr gesagt habe…“

Der Anwalt erklärte nun ausführlich, dass und warum er einen Freispruch für so gut wie sicher hielt.

„Ich weiß nicht“, brummte Roy skeptisch, nachdem Greengrass geendet hatte. „Ich glaube nicht so recht an diesen Freispruch. Es würde Hermine überhaupt nicht ähnlich sehen, sich so mir nichts, dir nichts vom Zaubergamot vorführen zu lassen, ohne noch den letzten miesen Trick versucht zu haben. Deswegen bin ich mir auch nicht sicher, ob wir es wirklich darauf ankommen lassen sollten. Am liebsten würde ich die Gefangenen sofort befreien, zumal wir in neun Tagen Neumond haben – eine günstige Voraussetzung.“

„Davon kann ich nur dringend abraten“, erwiderte Greengrass. „Bedenken Sie: Wenn Sie die Gefangenen vorzeitig befreien und der Prozess nicht stattfindet, zwingen Sie nicht nur Harry und die Unbestechlichen auf unabsehbare Zeit in den Untergrund, sondern verpassen auch die einmalige Gelegenheit, die Zaubereiministerin zu stürzen! Mrs. Granger-Weasley hat sich in eine gefährliche Lage manövriert, und sie würden ihr geradezu aus der selbstgeschaffenen Patsche helfen, wenn Sie vor der Zeit losschlagen. Sollte es wider Erwarten zu einem Todesurteil kommen, können Sie die Gefangenen immer noch gewaltsam befreien…“

„…falls dazu dann noch Zeit bleibt“, warf Albus ein.

„Es wird Zeit bleiben“, versicherte Greengrass. „Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe wurde auch eine Reihe alter Ausführungsgesetze wieder in Kraft gesetzt. Eines davon besagt, dass zwischen einem Todesurteil und seiner Vollstreckung mindestens zehn Tage liegen müssen.“

Roy sah ihn betrübt an. Merkst du eigentlich nicht, dass du dich auf Regeln verlässt, die Hermie nach Belieben umwirft, wenn sie ihr im Weg stehen? dachte er, behielt es aber für sich, zumal sich nun Macnair zu Wort meldete:

„Ich sage es nur ungern“, knurrte er, „weil ich mich auf den Angriff freue, aber ich fürchte, Greengrass hat recht. Wenn der Freispruch wirklich erfolgt, haben wir alle Fliegen mit einer Klappe geschlagen, wenn nicht, können wir immer noch zuschlagen.“

Roy sah in die Runde. Niemand schien anderer Meinung zu sein, und auch er, wenn er ehrlich war, musste zugeben, dass Greengrass‘ Argumente stark waren.

„Gut“, sagte er. „Wir müssen unsere Vorbereitungen aber so treffen, dass wir ab dem ersten März jederzeit losschlagen können.“

„Ich glaube“, sagte der Anwalt und griff nach seiner Aktentasche, „für heute bleibt mir hier nichts mehr zu tun. Ich halte Sie auf dem Laufenden.“ Er verbeugte sich knapp und disapparierte.

Roy betätigte die magische Klingel, um Blubber herbeizurufen.

„Blubber“, wandte er sich an den Hauselfen. „Können Sie dafür sorgen, dass wir ab jetzt immer den aktuellen Tagespropheten bekommen?“

„Sehr wohl, Sir“, antwortete der Elf und verneigte sich.

„Danke.“ Er wandte sich wieder den Anderen zu. „Die Pläne für die Befreiung Harrys waren so gut wie fertig, als Ginny und unsere Freunde gestern verhaftet wurden. Wir sollten sie aber noch einmal durchsprechen.“

„Ja“, meinte Victoire, „allein schon, weil sich die Voraussetzungen geändert haben. Fast alle Familienmitglieder, die teilnehmen sollten, sind in Haft, und von den Unbestechlichen sind nur zwei noch auf freiem Fuß.“

„Vier“, korrigierte Roy.

Alle sahen ihn verblüfft an.

Scorpius und Bernie gehören ab sofort dazu“, sagte er in dem beiläufigen Tonfall, in dem man Selbstverständlichkeiten erwähnt, freute sich aber im Stillen, als er die beiden strahlen sah. Er erläuterte jetzt ausführlich den letzten Stand des Plans, wie er ihn mit Ginny besprochen hatte.

„Lässt sich hören“, meinte Lestrange.

„Hat aber ein paar Schwachpunkte“, gab Roy zu, „vor allem jetzt, wo wir nur noch zehn Personen sind, Draco Malfoy mitgerechnet, die aber nicht Alle den Patronuszauber beherrschen. Walden, wie lange werden Sie brauchen, um Ihre alten Kameraden herzubringen?“

„Schwer zu sagen, zumal praktisch nur noch diejenigen in Frage kommen, die wie Rodolphus in der Muggelwelt untergetaucht sind. Die anderen…“

Er schob Roy den Tagespropheten wieder hin und deutete auf Seite zwei. Hermine ließ sich für einen großangelegten Schlag gegen das Todessertum feiern: Die gestrige Razzia hatte sich nicht nur gegen die Unbestechlichen und die Weasleys gerichtet. Fast gleichzeitig waren praktisch alle bekannten ehemaligen Todesser mit Ausnahme der Malfoys unter Präventivarrest gestellt worden, wie man das jetzt nannte, das heißt, sie waren, wie die Weasleys, Gefangene in ihrem eigenen Haus.

„Ich selbst bin offenbar nur um Haaresbreite davongekommen“, meinte Macnair, „weil ihr mich geholt habt. Fünf oder sechs kann ich vielleicht in der Muggelwelt auftreiben. Sie sind in Liverpool untergetaucht, soviel ich weiß. Wie lange das dauert? Schwer zu sagen. Kann schnell gehen, kann aber auch zwei Wochen dauern.“

„Beherrschen sie den Patronus?“

„Kaum.“ Macnair schüttelte den Kopf. „Ich beherrsche ihn selber nicht.“

„Ich schon“, sagte nun Rodolphus Lestrange.

„Gut, Walden, dann werden Sie ihn üben, sofern Ihnen Zeit dazu bleibt. Die Suche nach Ihren alten Kumpels hat aber Vorrang.“

Macnair schüttelte den Kopf. „Den Patronus muss man lernen, solange man jung ist. In meinem Alter wird daraus nichts mehr. Und was meine Kumpels angeht: Dir ist hoffentlich klar, dass die nur mitmachen, wenn wir auch die noch einsitzenden Todesser herausholen?“

„Vollkommen klar“, antwortete Roy. „Nächster Punkt: Wir hatten den 17. Februar oder den 18. März als Termine ins Auge gefasst, weil dann Neumond ist und Unsichtbarkeitszauber in Askaban nicht funktionieren. Inzwischen habe ich aber Bedenken: Wir müssen damit rechnen, dass die Auroren mittlerweile den Calorate-Zauber kennen, sodass Sie uns auch bei Neumond im Anflug beobachten können.“

„Glaube ich nicht“, warf James ein. „Mein Vater hat sich immer darüber geärgert, wie lange es dauert, einen neuen Zauber bei den Auroren einzuführen, weil dabei tausend bürokratische Vorschriften zu beachten sind, und den Calorate können sie, wenn überhaupt, noch nicht lange genug kennen.“

„Ich glaube, sie kennen ihn überhaupt nicht“, ergänzte Scorpius. „Sonst hätten sie ihn bei der Razzia in Hogwarts benutzt. Stattdessen verwendeten sie offenbar den Disinvisibilis.“

„Gut“, meinte Roy, „das kann sich aber bis dahin geändert haben. Wir müssen des Weiteren damit rechnen, dass wir uns den Zeitpunkt nicht aussuchen können, zum Beispiel falls Hermine den Hinrichtungstermin für Harry vorverlegt. Wir sollten daher den Plan ein wenig abwandeln. Ich schlage vor, dass ich in Gestalt einer Möwe – ich bin Animagus – das Vorauskommando mache und das Finsternispulver verschieße. In der allgemeinen Verwirrung habt ihr Zeit, herunterzukommen, um euren Posten auf dem Burgturm einzunehmen beziehungsweise in den Zellentrakt einzudringen.“

„Wir könnten der Verwirrung noch ein bisschen nachhelfen“, ließ sich nun überraschenderweise Scorpius vernehmen. „Mit Schlangen.“

„Schlangen?“, wunderte sich Victoire. „Wie kommst du ausgerechnet auf Schlangen?“

Scorpius sah Albus fragend an.

„Sag‘s ruhig“, meinte dieser, „es ist zu wichtig, um es in dieser Runde zu verschweigen.“

Scorpius nickte dankbar. „Albus spricht Parsel.“

Da nur Roy dies bisher wusste, richteten sich die Blicke aller Anderen völlig überrascht auf Albus.

„Stimmt“, bestätigte dieser. „Nur, Scorpius, ich verstehe nicht ganz, was uns das nützen soll.“

„Du könntest eine ganze Armee von Schlangen dirigieren!“ Scorpius war Feuer und Flamme. „Stellt es euch doch einmal vor: Wenn es einfach nur dunkel ist, werden sich die Auroren Richtung Burg tasten, in jedem Fall sind sie gewarnt und können handeln. Und nun stellt euch aber vor, es ist stockfinster, sie sehen überhaupt nichts, spüren aber Schlangen auf sich herumkriechen! Da kann kein Mensch einen klaren Gedanken fassen, da herrscht nur noch die blanke Panik!“

Einen Moment lang herrschte verblüfftes Schweigen. Dann begann Roy zu grinsen.

Scorpius“, meinte er, „du bist ja ein ganz durchtriebener…“

„Aber Scorpius“, fiel Albus ihm ins Wort, „wo willst du denn so viele Schlangen hernehmen, wie wir dafür bräuchten? Willst du in einen Zoo einbrechen?“

Nun war es Scorpius, der verblüfft dreinsah.

Albus“, fragte er, „hat dein Vater dir nie den Serpensortia-Zauber gezeigt?“

Da Albus den Kopf schüttelte, zog Scorpius seinen Zauberstab, schwenkte ihn locker aus dem Handgelenk und rief: „Serpensortia!

Aus dem Stab sprang eine Schlange und wand sich am Boden direkt neben Rose, die aufschrie.

Scorpius“, rief Roy tadelnd, „musst du das Mädchen so erschrecken?“

Er hob die Schlange mit einem Schwebezauber an und setzte sie einige Meter von Rose entfernt sanft wieder auf dem Boden ab. Die Schlange hob den Kopf und sah sich um.

„Sprich mit ihr“, forderte Roy Albus auf.

„Verstehst du, was ich sage?“, wollte Albus von der Schlange wissen.

„Ja, Meister.“

„Würdest du tun, was ich dir befehle?“

„Selbstverständlich, Meister.“

„Dann möchte ich, dass du dich jetzt wieder auflöst.“ Die Schlange verschwand.

„Komisch“, fand Scorpius. „Ich weiß bestimmt, dass dein Vater diesen Zauber seit seiner Zeit in Hogwarts kennt, genauer seit der zweiten Klasse. Und er war doch schon öfter in Situationen, in dem es für ihn als Parselmund nützlich gewesen wäre, eine Schlange zu beschwören. Ist ja auch nicht schwer.“

„Sicher“, entgegnete James anstelle seines Bruders, „aber unserem Vater waren seine Parselkenntnisse selber immer unheimlich, er hat sie nur benutzt, wenn es nicht anders ging.“

„Also, ich habe keine Probleme damit“, meinte Albus. „Nicht erschrecken, Rose!“ Er zog nun seinerseits den Zauberstab und beschwor ebenfalls eine Schlange, allerdings so weit wie möglich von Rose entfernt. Dann ließ er das Tier wieder verschwinden.

„Ist wirklich ein Kinderspiel. Aber wir werden Hunderte davon brauchen, das kann dauern. Und ich muss sie doch vor Ort beschwören – ich wüsste jedenfalls nicht, wie wir sie sonst nach Askaban schaffen sollen. In Askaban selbst habe ich aber gar nicht die Zeit dazu.“

„Das werden wir sehen“, antwortete Roy nachdenklich. „Ob man sie wohl duplizieren kann?“

„Tiere kann man nicht duplizieren, das musst du doch wissen“, sagte Victoire, und es klang wie ein Vorwurf.

„Normalerweise nicht“, erwiderte Roy, „da es sich aber nicht um ein natürliches, sondern um ein magisch erzeugtes Tier handelt, könnten andere Gesetze gelten. Serpensortia!“, rief er und schwang den Zauberstab. Als wieder eine Schlange erschien, richtete er seinen Zauberstab auf sie: „Geminio!“

Aus der einen Schlange wurden zwei. Roy schwenkte den Stab über beide.

Wieder rief er „Geminio!“ Nun wanden sich schon vier Schlangen am Boden. Roy ließ sie wieder verschwinden.

„Es geht“, stellte er zufrieden fest. „Um tausend Schlangen zu erzeugen, muss man nicht tausendmal den Serpensortia ausüben, sondern nur einmal. Dann zehnmal Geminio, und man hat 1024 Schlangen. Das sollte für unsere Zwecke genügen.“

„Aber ich muss doch dabeisein und ihnen befehlen“, wandte Albus ein, „sonst halten sie dich für ihr Frühstück. Wie soll ich aber ungesehen dorthin kommen, vor allem, wenn nicht Neumond ist?“

„In der Tat…“ murmelte Roy. Er sah einen Moment überlegend in die Luft, während alle Anderen schwiegen. „Genau wie ich – als Animagus! Ich würde es dir gern ersparen, weil dann ewig die Gefahr der Enttarnung als nicht gemeldeter Animagus über dir schwebt. Ich glaube aber, es geht nicht anders.“

„Und in was für ein Tier soll ich mich verwandeln? In eine Möwe, so wie du?“ Albus‘ Augen leuchteten. „Wir fliegen gemeinsam voraus und…“

„Ich würde es dir zwar gönnen, es macht einen Heidenspaß“, räumte Roy ein, „du solltest aber bedenken, dass du diese Entscheidung nicht mehr ändern kannst, wenn du dich einmal auf ein Tier festgelegt hast. Deshalb solltest du die Entscheidung unter dem Gesichtspunkt treffen, dass sie für dich als führenden Todesser des Hauses Slytherin“, – Roses Bemerkung vom Weihnachtstag war bei den Unbestechlichen längst ein Running Gag –, „von Nutzen ist. Sie sollte dir ermöglichen, dich gegebenenfalls einer Verhaftung zu entziehen und in jeden Raum einzudringen, aus dem das Regime dich fernhalten will.“

„Und das heißt?“

„Mach’s wie Wilkinson.“

„Iiiiieh!“ Albus verzog das Gesicht. „Eine Fliege?“

„Wenn unsere Freunde diese Möglichkeit gehabt hätten“, gab Roy zu bedenken, „wären sie jetzt nicht in Askaban.“

„Na gut“, murrte Albus, „ich sehe es ein. Aber als Fliege kann ich doch unmöglich die fünfzehn Meilen von Branness nach Askaban fliegen, wahrscheinlich nicht einmal eine.“

„Ich nehme dich in meinem Schnabel mit.“

„Okay, aber verschluck dich nicht.“

Nun klingelte Roy, und Blubber trat ein. „Sie wünschen, Sir?“

„Blubber, besorgen sie uns bitte eine lebende Stubenfliege.“

Der Elf verzog keine Miene. Man konnte nicht erkennen, ob er Roy für übergeschnappt hielt.

„Sehr wohl, Sir.“

Er verbeugte sich und verließ den Rittersaal.

Da immer noch Winter war, dauerte es eine Weile, bis die Elfen eine Fliege in einem warmen Vorratsraum fanden und einfingen. Blubber servierte sie auf einem kleinen Silbertablett.

„Ich habe mir erlaubt, sie durch einen Petrificus-Zauber bewegungsunfähig zu machen, Sir“, erklärte der Elf.

„Sehr gut, Blubber, vielen Dank.“

Roy erklärte Albus nun in allen Einzelheiten den Animagus-Zauber, was einige Zeit in Anspruch nahm. Die Anderen hörten gebannt zu. Schließlich atmete Albus tief durch. Ihm war mulmig, aber er würde bestimmt nicht feiger sein als Wilkinson. Er berührte die Fliege mit der Spitze seines Zauberstabes, und wie einige Wochen zuvor über Roys Möwe glitten über den Körper des Insekts pulsierende blaue Lichtstreifen. Am Ende war Albus scheinbar verschwunden. Roy fand ihn auf der Sitzfläche seines Stuhls, wo er als Fliege unschlüssig ein wenig hin und her krabbelte, bevor er sich wieder in einen Menschen verwandelte.

„Irre.“ Albus schüttelte den Kopf. „Du hast irgendwie komisch ausgesehen, Roy.“

„Das machen wahrscheinlich die Facettenaugen. Jetzt versuchen wir den Flug in meinem Schnabel.“

Roy verwandelte sich in eine Möwe und hüpfte auf den Tisch. Als Albus sich ebenfalls darauf setzte und wieder Fliegengestalt annahm, sperrte Roy den Schnabel auf und präsentierte der Fliege seinen Unterschnabel wie eine Gangway. Albus krabbelte in den Schnabel, der sich daraufhin schloss. Roy breitete die Flügel aus, flog ein paar Runden durch den Raum, landete auf dem Tisch und ließ Albus wieder herauskrabbeln. Dann nahmen beide erneut ihre normale Gestalt an.

„Na?“, fragte Roy.

„Ich werde Ihre Airline weiterempfehlen, Sir“, antwortete Albus unter allgemeinem Gelächter.

Sie beschlossen, erst einmal eine Mittagspause einzulegen. Während des Essens wurde am Tisch lebhaft über den Befreiungsplan diskutiert.

Nach dem Essen fasste Roy den neuesten Stand der Planung zusammen und beendete seinen Vortrag mit einem knappen „Noch Fragen?“.

„Wer hat das Kommando?“, wollte Macnair wissen.

„Ich“, antwortete Roy ganz selbstverständlich.

Macnair stutzte, sagte dann aber nur: „Okay.“

Albus grinste in sich hinein. Roys Autorität hatte schon etwas Magisches. Nicht einmal die beiden Alten zweifelten sie an.

„Sie sind aber auch offen für gute Ratschläge, Commander?“, hakte Macnair nach.

„Ich bitte sogar darum. Mir fällt kein Zacken aus der Krone, wenn ich einen guten Rat annehme, schon gar nicht von einem erfahrenen Kämpfer wie Ihnen.“

„Gut. Ihr Plan ist hervorragend, besteht aber aus etlichen Komponenten, die sorgsam aufeinander abgestimmt sein müssen. Jeder einzelne Schritt muss geübt werden, bis er hundertprozentig beherrscht wird.“

„Drillmäßig“, bestätigte Roy. „Alle müssen den Sturzflug beherrschen. Der Schub eurer Feuerblitze wird durch die Schwerkraft verstärkt, ihr kommt also wirklich mit einem Affenzahn herunter und müsst dann sicher abbremsen, nicht zu früh, nicht zu spät, und das auch noch in enger Formation. Bei den Muggeln ist das eine Aufgabe für erstklassige Kampfpiloten, und ihr habt nur drei Wochen Zeit. Weiter: Alle müssen zielgenau Finsternispulver verschießen können, Albus und ich außerdem das Erzeugen und Verschicken der Schlangen sicher beherrschen. Rodolphus, Sie kennen sich in Askaban besser aus als wir alle. Sie übernehmen die Führung der Gruppe, die in die Zellentrakte eindringt, und natürlich auch deren Training. In diesem alten Gemäuer hier sollte es geeignete Übungsmöglichkeiten geben. Und Alle müssen ihre Kampfzauber auffrischen.“

„Habe ich dabei eigentlich auch eine Aufgabe?“, fragte Bernie traurig. „Ich habe zwar Zauberkraftverstärker, aber nicht genug, um wochenlang üben zu können.“

„Du bekommst trotzdem eine wichtige Aufgabe, Bernie“, beruhigte ihn Roy. „Wir wollen keine vermeidbaren Todesopfer, auch nicht unter den Auroren. Nachdem wir die drei Auroren per Petrificus außer Gefecht gesetzt haben, die über Askaban Patrouille fliegen – den Blitz eines Schockzaubers würde man bei Nacht meilenweit sehen –, werden wir sie an deinen Besen binden, und du wirst sanft mit ihnen landen. In dem Getümmel, das da unten herrschen wird, wird nicht auffallen, dass du sie absetzt und sofort wieder davonfliegst, zuerst aus dem Schutzradius, dann unsichtbar zum Treffpunkt. Im Übrigen wirst auch du den Sturzflug üben, überhaupt muss Jeder alles üben, egal, ob es zu seiner vorgesehenen Aufgabe gehört oder nicht, damit wir flexibel sind und notfalls umdisponieren können.“

Den Nachmittag verbrachten sie damit, gemeinsam alle Details der Befreiungsaktion durchzusprechen und einen detaillierten Trainingsplan für die kommenden Wochen auszutüfteln. Als sie gegen sieben Uhr fertig waren und das Abendessen serviert wurde, waren sie alle sehr zufrieden und sehr zuversichtlich.

59 – Die Black Snakes

 

James Wright war ein Polizeibeamter jener Sorte, die die Figur des englischen Bobbys weltberühmt gemacht hat: ein Polizist, zu dem jeder Bürger Vertrauen hat, stets höflich und zuvorkommend, korrekt und hilfsbereit auch gegenüber dubiosen Zeitgenossen. Etwa gegenüber dem älteren, aber drahtigen Mann in Lederjacke, der an diesem späten Freitagnachmittag Wrights Polizeiwache in Liverpool betrat, und dessen Aura seltsam an einen Piraten erinnerte.

„Was kann ich für Sie tun, Sir?“, fragte Wright den Besucher.

„Ich hätte gerne eine Auskunft.“ Er hielt es offenbar nicht für nötig, sich vorzustellen.

„Worum handelt es sich?“

Der Besucher zog seine Lederjacke aus und zeigte dem Beamten eine Tätowierung auf seinem linken Unterarm. Sie zeigte einen Totenkopf, aus dessen Kiefer sich eine Schlange wand. Wright schrak ein wenig zusammen, ließ sich aber nichts anmerken.

„Haben Sie dieses Zeichen schon einmal irgendwo gesehen?“, wollte der Besucher wissen.

„In der Tat, Sir“, erwiderte Wright reserviert, aber höflich.

„An wem?“

„Da Sie selbst dieses Zeichen tragen, sollten Sie es doch am besten wissen, Sir.“

„Ich weiß es aber nicht. Also an wem?“

„Ich fürchte, Sir, darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben. Sie verstehen, der Datenschutz…“

Imperio!“, knurrte der Besucher, worauf der distanzierte Ausdruck aus Wrights Gesicht wich.

„Es handelt sich um das Zeichen der Black Snakes, einer sechsköpfigen Rockerbande, die vor ungefähr zwanzig Jahren in Liverpool aufgetaucht ist und seitdem ihr Unwesen treibt. Die Mitglieder sind in zahlreiche kriminelle Machenschaften verstrickt – Waffenschiebereien, Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Falschgeld –, aber wir konnten ihnen nie etwas nachweisen. Beweise verschwinden spurlos, Verdächtige, die am Tatort gesehen wurden, legen hieb- und stichfeste Alibis vor, Zeugen leiden plötzlich unter Gedächtnisschwund – es ist wie verhext!“

Der Besucher grinste und murmelte: „Es ist verhext!“

„Wie meinten Sie, Sir?“

„Ach nichts. Ich glaube, das sind die, die ich suche. Wo finde ich sie?“

„Ich könnte Ihnen die Adressen geben, Sir…“

„Tun Sie das.“

„Gerne. Aber Sie werden selten einen von ihnen in seiner Privatwohnung antreffen. Sie haben sich in einer aufgegebenen Kfz-Werkstatt eine Art Clubhaus eingerichtet, wo sie meistens herumhängen. Dort dürften Sie sie am ehesten finden.“

Er gab dem Besucher die Adressen der Rocker und ihres Clubhauses und, da der Besucher offenbar nicht aus Liverpool stammte, auch eine Wegbeschreibung mit.

„Gut“, brummte der Besucher zufrieden. „Sie werden jetzt vergessen, dass ich hier war und wonach ich Sie gefragt habe. Sie haben mich nie gesehen, klar?“

„Wie Sie wünschen, Sir“, bestätigte der Bobby, während der Besucher seine Lederjacke wieder anzog und den Zettel mit den Adressen einsteckte. Dann verschwand er aus der Polizeiwache und aus Wrights Gedächtnis.

 

Das stählerne Rolltor, das zur Werkstatt führte, war verschlossen, unüberhörbar aber waren die rauen Stimmen, die dahinter ein Lied grölten, das dem Besucher noch wohlvertraut war. Er musste heftig an die Tür pochen, um zu erreichen, dass der Gesang erstarb und jemand rief:

„Wer da?“

Walden Macnair!“

Die Tür wurde aufgerissen, und Macnair sah sich Roger Blacksmith gegenüber, den er noch aus früheren Tagen gut kannte. Seine graue Mähne hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und mit seiner vierschrötigen Gestalt, die in einer schwarzen Lederkluft steckte, entsprach er perfekt dem Erscheinungsbild eines in die Jahre gekommenen Muggelrockers.

„Macnair, ich glaub’s ja nicht!“, dröhnte es aus seinem mächtigen Brustkasten. Er drehte sich zu seinen Kumpanen um. „Jungs! Schaut mal, wer da ist!“

Macnair wurde mit viel Schulterklopfen begrüßt. Als erstes reichte man ihm eine Flasche Bier.

„Sagt mal“, wollte Macnair wissen, „wie kommt es, dass das Ministerium euch noch nicht geschnappt hat? Sicher, wir sind hier in Liverpool, nicht in London, aber das Todessermal muss doch irgendeinem aufgefallen sein.“

Blacksmith und seine Kumpels grinsten einander an. „Siehst du hier irgendwo ein Todessermal, Macnair?“

Macnair sah nun genauer hin: In der Tat hatten alle sechs einen Totenkopf auf ihren linken Unterarm tätowiert, aber es war nicht das Todesseremblem, denn zwei Schlangen umrahmten den Schädel, sie krochen nicht aus ihm heraus. Dasselbe Emblem war auf die Rückseiten ihrer Jacken genäht und prangte auf einer großen Flagge an der Wand.

„Verstehe ich nicht.“ Walden Macnair schüttelte den Kopf. „Wieso kannte es dann der Muggelpolizist?“

„Schon mal was von einem Verwirrungszauber gehört, Macnair?“, fragte Blacksmith unter selbstgefälligem Grinsen. „Da die Muggel nicht wissen, was es mit unserem Todessermal auf sich hat, können sie es ruhig sehen – Zauberern und Squibs spiegeln wir eine abgewandelte Version vor. Wir bemühen uns schon, unauffällig zu bleiben. Wir haben uns unseren Platz hier erobert und einige andere Gruppen zurückgedrängt. Wir werden gefürchtet, sogar die Hell’s Angels machen einen Bogen um uns, seit ihnen“ – er grinste – „merkwürdige Dinge passiert sind, schmelzende Motorräder und solche Sachen, aber zu einem Bandenkrieg, der uns in die überregionalen Zeitungen bringen würde, lassen wir es nicht kommen. Hauptsächlich leben wir von Prozenten aus dem Rotlichtmilieu und von kleineren Geschäften und lassen es uns gutgehen. Und du, Macnair? Wieso haben sie dich noch nicht geschnappt?“

„Ich war im Ausland und konnte dann unbehelligt heimkehren, weil die beiden Zaubereiministerien einen Handel miteinander machten. Momentan bin ich allerdings wieder im Untergrund, deshalb bin ich hier. Es geht um meinen Sohn.“

„Hey, du hast einen Sohn?“

„Ja, ich habe im Ausland eine Familie gegründet.“

„Und dein Sohn hat Ärger?“

„Er sitzt in Askaban.“

Die Runde vernahm es mit sichtbarer Genugtuung.

„Glückwunsch, Macnair, da ist der Apfel wohl nicht weit vom Stamm gefallen, was?“

„Das kann man wohl sagen, er macht mir Ehre. Ich werde ihn heraushauen. Macht ihr mit?“

„Klar“, meinte Blacksmith, „wenn du einen vernünftigen Plan hast.“

„Habe ich.“

„Wie ist dein Sprössling denn nach Askaban gekommen?“, wollte nun Greg Miles wissen, der als Einziger der Black Snakes vergleichsweise normal gebaut war, jedenfalls nicht so aussah, als hätte er die letzten zwanzig Jahre Gewichte gestemmt.

„Er hat mit seinen Freunden geplant, Harry Potter aus dem Gefängnis zu befreien.“

Die Black Snakes schauten drein, als seien sie soeben eimerweise mit Eiswasser überschüttet worden.

Harry Potter?“, fragte Miles entgeistert.

Harry Potter!“, bestätigte Macnair.

„Ich gebe zu, wir bekommen nur noch wenig von dem mit, was in der magischen Welt vor sich geht“, meldete sich nun wieder Blacksmith. „Daher zwei Fragen. Erstens: Wie ist Potter ins Gefängnis gekommen, wo seine Schlammblut-Freundin doch Zaubereiministerin ist? Zweitens: Wie kommt dein Sohn dazu, ausgerechnet Potter zu befreien?“

Macnair nahm einen Schluck Bier, um abzuwarten, ob einer von Hermines Ministeriumsleuten apparierte, da das Wort „Schlammblut“ gefallen war. Daraus, dass nichts dergleichen geschah, schloss er, dass die Black Snakes mächtige Schutzzauber eingerichtet hatten, und beantwortete die Frage seines alten Kumpels:

„Das Schlammblut treibt die Dinge derart auf die Spitze, dass es seine besten Freunde gegen sich aufbringt. Potter hat ein Bündnis mit dem harten Kern der Slytherins geschlossen. Er wollte das Schlammblut in einem Staatsstreich entmachten und wurde bei dem Versuch verhaftet…“

„Eier hat er, das muss man ihm lassen“, grunzte einer der Black Snakes anerkennend.

„Nun wollten die Slytherins Potter befreien – genauer gesagt die Gruppe der ‚Unbestechlichen‘, zu der auch mein Sohn Ares gehört, wollte das, zusammen übrigens mit dem Weasley-Clan…“

„Mit den Weasleys? Wird ja immer krasser…“ brummte Miles.

„Fast alle Weasleys stehen jetzt unter Arrest, mein Sohn und drei seiner Freunde sitzen wie Potter in Askaban.“

„Das heißt, wir hauen nicht nur deinen Sohn und seine Slytherins heraus, sondern auch Potter?“

„Yep.“

„Nur unter einer Bedingung…“

„Ich weiß. Die alten Kameraden holen wir auch heraus“, nahm Macnair Miles das Wort aus dem Mund. „Die Anderen haben es schon akzeptiert.“

„Wer sind die Anderen?“

Draco Malfoy und Rodolphus Lestrange…“

„Lestrange?“, rief Blacksmith. „Ich dachte, der wäre tot!“

„Dachten wir alle, aber er war in der Muggelwelt untergetaucht, genau wie ihr.“

„Sehr gut, wer noch?“

„Ein gemischter Kindergarten aus Gryffindors und Slytherins, die meisten allerdings ziemlich begabte Zauberer, darunter Potters Söhne und Nichten.“

„Wer hat das Kommando?“, wollte nun Blacksmith wissen. „Du, Lestrange oder Malfoy?“

„Keiner von uns“, gab Macnair gleichmütig zur Antwort. „Die Führung hat MacAllister, Vertrauensschüler von Slytherin.“

„Ein Schüler?“, fragte Blacksmith, als glaubte er sich verhört zu haben. „Wir sollen Askaban unter der Führung eines Milchbubis angreifen?“

„Keine Sorge“, beruhigte Macnair ihn. „Der Milchbubi hat mehr auf dem Kasten als wir alle zusammen und Tatkraft für drei. Ich vertraue ihm.“

Die Black Snakes starrten ihn noch einen Moment lang an, dann gab Blacksmith sich zufrieden:

„Gut, Macnair, wenn du es sagst, vertrauen wir auf dein Urteil. Wann soll die Party steigen?“

„Im März. Der genaue Termin steht noch nicht fest. Aber es ist ein militärisches Unternehmen, das heißt: Die Zeit nutzen wir, um drillmäßig zu üben. Viel Schweiß, wenig Bier, verstanden?“

„Na hör mal“, empörte sich Miles. „Du tust gerade so, als könnten wir nur saufen!“

Macnair warf einen süßsauren Blick in die Ecke des Raumes, in der rund zweihundert leere Bierflaschen standen.

„Die haben sich in Wochen angesammelt, Macnair“, brummte Blacksmith entschuldigend. „Wir waren nur zu faul zum Aufräumen.“

Macnair grinste. „Schon gut. Aber Zeit haben wir nicht zu verlieren. Wir sollten so bald wie möglich nach Rockwood Castle aufbrechen.“

„Dann sofort. Wir brauchen die Dunkelheit.“

„Zum Apparieren?“, fragte Macnair verwirrt.

„Wir apparieren nicht. Wo immer wir hingehen – nie ohne unsere Maschinen!“

Mit einem Schlenker seines Zauberstabs ließ Blacksmith eine Wand verschwinden, hinter der sechs schwere Harleys zum Vorschein kamen.

„Findet ihr denn den Weg?“, fragte Macnair zweifelnd. „Also, ich kenne mich mit dem Muggel-Straßennetz nicht aus.“

„Straßen brauchen wir nicht.“ Blacksmith winkte lässig ab. „Sobald wir Liverpool verlassen haben, fliegen wir.“

„Ohne Scheinwerfer, hoffe ich.“

„Natürlich. Einmal haben wir sie angelassen, wisst ihr noch, Jungs?“

Dröhnendes Gelächter antwortete ihm.

„Bei den Muggeln ist eine UFO-Panik ausgebrochen! Eine Woche lang haben sie überall nur noch Außerirdische gesehen. Was hatten wir für eine Gaudi…“ Er lachte Tränen. „Kann man natürlich nur einmal machen. Nein“, sagte er und wurde wieder ernst. „Wir fliegen ohne Licht.“

 

***

 

In Rockwood Castle hatten sie sich gerade das Abendessen schmecken lassen, saßen noch am Tisch im Rittersaal zusammen und unterhielten sich leise. Nur Roy beteiligte sich nicht an den Gesprächen. Er träumte vor sich hin, träumte gegen seine Angst um Arabella an, träumte von dem Leben mit ihr. Er war entschlossen, sich nicht von seiner Panik beherrschen zu lassen, und verzichtete auch nachts auf die traumhemmenden Tränke, um die er die Elfen zunächst gebeten hatte. Seit er in jeder freien Minute tagträumte, suchten ihn auch nachts keine Alpträume mehr heim.

Er würde sie aus Askaban befreien, dann würden sie das Jahr in Hogwarts hinter sich bringen. Roy bezweifelte nicht, dass er seine Familie würde ernähren können, er würde schon einen Weg finden, seine Erfindungen zu Geld zu machen.

Sie würden Kinder haben. Die Mädchen sollten möglichst ihrer Mutter ähneln und beim Lachen die gleichen süßen Grübchen haben wie Arabella. Jungs – o je, womöglich würden sie seinen Querkopf erben. Er würde tolerant sein müssen, aber so schwer würde ihm das nicht fallen. Sie alle – Mädchen wie Jungs – müssten Rückgrat und Charakter haben. So wie Albus, wie Rose, wie Scorpius und Bernie.

Bernie? dachte er, als er ihn nicht bei den Anderen sitzen sah. Wo steckt er eigentlich? Er sah sich um.

Bernie saß abseits der Anderen und starrte trübsinnig in die Flamme der Kerze, die vor ihm auf dem Tisch stand. Seine Augen schimmerten feucht.

„Bernie?“, fragte Roy zaghaft, als er sich zu ihm setzte. „Was ist? Bist du traurig?“

Bernie nickte.

„Wegen deines Vaters?“

Bernie schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er und seufzte. „Ich denke nur daran, dass ich irgendwann in die Muggelwelt zurückmuss. Und dass ich dann nicht mehr zu euch gehöre.“

„Bernie, du wirst immer einer von uns sein, immer ein Slytherin und immer ein Unbestechlicher, selbst wenn du zurückmusst… Aber das ist doch noch gar nicht gesagt!“

„Ach Roy, wir wissen doch beide, dass ich keine Chance habe, jemals meine ZAG-Prüfungen zu schaffen.“

„In Zauberkunst und Verwandlung nicht, aber in allen anderen Fächern schon.“

„Stimmt nicht, sobald wir unsere Zutaten selbst verzaubern müssen, bin ich auch in Zaubertränken aufgeschmissen. Und die Fächer, in denen ich gut bin, nützen mir nichts, wenn ich nicht zaubern kann. Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen, Roy. Du hast von Anfang an recht gehabt und der Sprechende Hut auch: Ich gehöre nicht in eure Welt. – Aber in einem Punkt“, schnitt er Roy das Wort ab, noch bevor dieser etwas sagen konnte, „hattest du unrecht: Du meintest, ich würde in Hogwarts nicht glücklich werden, und das stimmt nicht. Ich war noch nie so glücklich wie in Hogwarts! Ich will nicht weg!“

Bernie blinzelte ein paar Mal heftig seine Tränen weg und fuhr dann fort:

„Aber ich weiß, dass ich es irgendwann muss, genau wie die vielen Squibs, die die magische Welt verlassen, weil sie dort keine Zukunft haben, auch wenn sie aus ihr kommen.“

„Bernie, du bist hochtalentiert…“

„Aber nicht fürs Zaubern! Und deshalb muss ich in einer Welt leben, die meine Talente braucht.“

„Du glaubst wirklich, wir brauchen dich nicht?“, entrüstete sich Roy. „Als Slytherin völlig isoliert war, hast du dich für uns verbürgt! Wahrscheinlich warst du derjenige, der Hermines Plan vereitelt hat, die Häuser gegeneinander zu hetzen. Falls du das schon vergessen hast – wir haben es nicht vergessen! Du hast jetzt schon für die magische Welt mehr getan als mancher Zaubereiminister!“

Nun lächelte Bernie doch ein wenig.

„Danke. Aber ich rede nicht von Charakter, ich rede von Talent! Du siehst es doch jetzt bei der Befreiungsaktion: Ihr habt mit Müh und Not noch eine Aufgabe für mich gefunden, und ja, wenn alle Stricke reißen, kann ich den unwiederbringlichen Zauberkraftverstärker schlucken und euch zu Hilfe eilen, aber um wirklich nützlich zu sein, müsste ich auch ungedopt zaubern können – und widersprich mir nicht! Ich bin nicht aus Zucker, ich brauche keine freundlichen Lügen!“

Roy schwieg, denn Bernie sagte die Wahrheit.

Sie konnten nicht weiterreden, denn aus dem Innenhof vernahm man nun, von den Burgmauern tausendfach zurückgeworfen und verstärkt, das ohrenbetäubende Dröhnen von Motorrädern. Alle Anwesenden stürzten an die Fenster und sahen sechs Maschinen federnd auf dem Pflaster des Burghofs aufsetzen. Ein letztes Aufheulen, dann wurden die Motoren abgestellt.

„Das müssen Macnair und seine Todesser sein! Mein Gott, was für Typen!“, rief Rose angewidert, als sie die sechs bulligen, verwegenen Gestalten sah, die nun mit Macnair von ihren Maschinen stiegen und von Blubber mit einer tiefen Verbeugung begrüßt wurden.

Rose“, antwortete Roy. „Wir planen kein Teekränzchen, sondern einen Überfall auf Askaban, und dafür scheinen sie mir genau die richtigen Typen zu sein.“

Rose rümpfte die Nase.

Einen Moment später betrat Macnair an der Spitze seiner illustren Freunde den Saal. Indigniert musste Rose feststellen, dass Albus, James, Scorpius und Bernie nicht ohne Faszination die grobschlächtigen Gesellen betrachteten, die ihre Motorradjacken längst in schwarzlederne Todesserumhänge zurückverwandelt hatten.

„Es ging schneller als ich dachte, die Polizei war ein wirklicher Freund und Helfer“, lachte Macnair und stellte alle Anwesenden einander vor. Wie auf Verabredung verzichtete man auf großes Händeschütteln, nur Lestrange wurde, wie zuvor Macnair, von den Black Snakes mit Schulterklopfen begrüßt.

Kaum hatten die Rocker das freie Ende der Tafel okkupiert, da standen auch schon die Speisen vor ihnen, die die Elfen im Nu herbeigezaubert hatten. Ohne von den Anwesenden weiter Notiz zu nehmen, langten die Black Snakes hin und schlemmten mit einem Appetit, der selbst Roys berüchtigte Esslust in den Schatten stellte.

Victoire und Rose setzten sich zu Roy.

„Sag mal, Roy“, flüsterte Rose. „Fühlst du dich eigentlich wohl in… dieser Gesellschaft?“ Sie deutete mit einem gewissen Ekel auf die Black Snakes.

Roy lachte leise.

„In eurer Gesellschaft fühle ich mich wohler, wenn dich das beruhigt, aber wie ich schon sagte…“

„Ja, ich weiß, kein Teekränzchen und so, aber…“ Sie druckste ein wenig.

„Was denn?“

„Nun ja“, griff nun Victoire ein, die sah, dass ihre Cousine sich nicht traute. „Du hast es dir immer verbeten, wenn man euch Slytherins ‚Todesser‘ genannt hat – aber kaum arbeiten wir mit dir zusammen, sitzen wir als Gäste einer alten Todesserfamilie in einem Todesserunterschlupf zusammen mit den alten Todessern Macnair und Lestrange, die ihre Todesserfreunde holen, um andere Todesser aus Askaban zu befreien…“

„Und nun fragst du dich, ob der Tagesprophet nicht vielleicht recht hat und ich nur ein ganz besonders raffiniert getarnter Todesser bin?“, fragte Roy mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nein, so direkt nicht…“ Victoire lief rosa an.

„Aber indirekt schon.“

Roy schluckte seinen Ärger herunter. Rose und Victoire waren schließlich Gryffindors, und er hielt ihnen zugute, dass sie, gemessen daran, schon ziemlich wenig Vorurteile hatten. Konnten sie ganz frei davon sein? Das wäre zu viel verlangt. Im Übrigen, gab er im Stillen zu, war die Frage von ihrer Warte aus durchaus verständlich.

„Nur nochmal zur Erinnerung“, sagte er. „Die Malfoys sind an Bord, weil Scorpius mit Albus befreundet ist, Macnair und Lestrange, weil sie Ares‘ und Julians Vater und Großvater sind, die Black Snakes, weil sie Freunde von Macnair sind…“

„Ich bin nicht dutzelig, das ist mir alles klar“, warf Victoire ein. „Trotzdem irritiert mich deine Unbefangenheit im Umgang mit solchen Leuten. Ich meine, du bist muggelstämmig, wenn es nach denen ginge, dürftest du in der magischen Welt gar nicht leben.“

„Wenn es nach ihnen ginge, oder jedenfalls nach ihren früheren Zielen, würde ich das Zuhause, das ich in der magischen Welt gefunden habe, dadurch verlieren, dass sie mich nicht dulden würden“, bestätigte Roy unter Victoires zustimmendem Nicken.

„Da es aber nicht nach ihnen, sondern nach der Zaubereiministerin geht“, fuhr Roy fort, „soll ich es dadurch verlieren, dass die magische Welt sich in der Muggelwelt auflöst wie ein Stück Zucker im Kaffee. Für mich ist das Ergebnis dasselbe. Nur dass das eine eine reale Gefahr ist und das andere nicht.“

„Ist es wirklich dasselbe?“, fragte Victoire zweifelnd. „Vor zwanzig Jahren hätten diese Todesser dir wegen Diebstahls von Magie den Prozess gemacht und dich wahrscheinlich hingerichtet.“

„Und heute droht Hermine mich hinzurichten. Ich bin ganz entschieden der Meinung, dass man gegen diejenige Diktatur kämpfen sollte, die gerade an der Macht ist, nicht gegen eine, die schon vor zwanzig Jahren gestürzt wurde, und deren wenige versprengte Anhänger sich vor den Auroren verstecken müssen.“

Victoire seufzte. „Mit dir zu diskutieren ist wirklich schwer. Das ist alles logisch und richtig, aber man kann doch nicht mit Leuten zusammenarbeiten, die das Gegenteil von dem wollen, was man selber will.“

„Wollen sie denn das Gegenteil?“, fragte Roy und fügte, als Rose und Victoire ihn verwirrt anstarrten, erklärend hinzu: „Ich meine, wollen sie im Hinblick auf die entscheidenden Fragen – nämlich ob euer Onkel Harry leben und die magische Welt weiterhin existieren soll – nicht genau dasselbe wie wir? Ich würde auch lieber ohne sie auskommen, aber soll ich ernsthaft ein Problem damit haben, dass sie jetzt etwas Richtiges tun, nur weil sie vor zwanzig Jahren etwas Falsches getan haben? Es gibt nur eine Front, Victoire, und die hat deine Tante gezogen, weil nur sie die Macht hat, eine zu ziehen. Auf der einen Seite die, die die magische Welt zerstören, auf der anderen Seite die, die sie erhalten wollen. Ihr beide, euer Onkel Harry, eure ganze Familie hat ihre Wahl getroffen, und diese Wahl bringt es ganz von allein mit sich, dass die alten Todesser auf derselben Seite der Front stehen wie ihr und ich. Lieben müsst ihr sie deswegen nicht, ich tue es auch nicht.“

Nun lächelten die beiden Mädchen versöhnlich.

„Das glaube ich dir“, sagte Victoire, „und es beruhigt mich.“

60 – Generalprobe

Es war Dienstag, der 28. Februar, die Befreier saßen in Rockwood Castle beim Abendessen.

Drei Wochen lang hatten sie jede Einzelheit ihrer Aktion wieder und wieder geübt, bis sie jedes Manöver, jeden Handgriff blitzschnell im Schlaf beherrschten. Für heute Abend nun hatte Roy die große Generalprobe angesetzt. Morgen würde der Prozess gegen Harry beginnen. Selbst wenn Hermine ihn noch am selben Tag zum Tode verurteilen sollte: Seine Befreier würden bereitstehen! Alle loderten vor Vorfreude.

Als sie gegessen hatten, betrat Blubber den Rittersaal, verteilte mit einem eleganten Schwebezauber die Abendausgabe des Tagespropheten und brachte dadurch die lebhaften Gespräche an der Tafel abrupt zum Verstummen:

 

REFORM DES ZAUBERGAMOTS

Ministerin Granger ernennt neue Mitglieder

London, 28. Februar. Zaubereiministerin Hermine Granger hat im Wege einer Notverordnung den Zaubergamot reformiert und von bisher 78 auf 234 Mitglieder aufgestockt. Die Ministerin begründete ihren lang erwarteten, zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch überraschenden Schritt mit der Notwendigkeit, das oberste beschlussfassende und rechtsprechende Gremium der Magischen Welt Großbritanniens, dessen letzte Reform 228 Jahre zurückliegt, zu modernisieren und an neue Gegebenheiten anzupassen, insbesondere eine breitere Repräsentation der magischen Gemeinschaft zu ermöglichen.

Der Gamot, der Neumitglieder bisher kooptiert, das heißt selbst ausgewählt hat, habe sich, so die Ministerin, zu einem elitären Gremium entwickelt, von dem weite Teile der Hexen- und Zauberergemeinschaft faktisch ausgeschlossen seien. Die Ernennung von 156 neuen Mitgliedern aus allen Schichten der Hexen- und Zauberergemeinschaft entspreche insofern dem demokratischen Gedanken, von dem das Ministerium sich leiten lasse.

In Zukunft, so sieht das neue Gesetz vor, werden zwei Drittel aller Sitze im Gamot vom Ministerium, das restliche Drittel weiterhin vom Gamot selbst besetzt. Das Gesetz tritt sofort in Kraft, der Gamot tagt daher ab 1. März in seiner neuen Zusammensetzung.

 

„Damit“, sagte Victoire, die als eine der ersten ihre Fassung wiedergewann, „ist der neue Gamot auch für den Prozess gegen Harry zuständig, und Greengrass‘ Verteidigungsstrategie hängt in der Luft! Hermine hat ihr einfach den Boden entzogen! Und natürlich tut der Tagesprophet so, als sei ihm dieser Zusammenhang nicht geläufig!“

Roy lächelte bitter. „Hast du etwas Anderes erwartet, als dass Hermine noch im letzten Moment ein As aus dem Ärmel zieht? Auch die Begründung ist ganz ihr Stil: Sie redet von Demokratie und meint damit, dass sie selbst Alles unter Kontrolle hat! Und was den Tagespropheten angeht: Wundert dich das noch?“

„Weasley will sie wohl auch nicht mehr heißen“, meinte Rose pikiert. „Heiße ich selbst jetzt eigentlich noch so, oder muss ich damit rechnen, dass meine Mutter mich in ‚Granger‘ umbenennt?“

„Keine Angst, Rose, das ist gesetzlich nicht möglich“, versuchte Victoire sie zu beruhigen, aber Rose antwortete mit einem verächtlichen Schnauben:

„Per Notverordnung ist in diesem Land offenbar Alles möglich.“

„Ist doch egal, Rose“, warf James lässig dazwischen, der es selbst jetzt nicht lassen konnte, seinen kleinen Bruder aufzuzwicken. „In ein paar Jahren heißt du doch sowieso Potter, oder?“

Während Roses Gesicht eine Farbe annahm, die der einer Rose tatsächlich ziemlich nahekam, funkelte Albus seinen Bruder an: „Vorausgesetzt, meine Schwiegermutter lässt mir meinen Kopf.“

James grinste noch breiter: „Dann aber schon, stimmt’s?“

Nun lief auch Albus rot an. Womit hatte er nur diesen Bruder verdient?

„Wie dem auch sei“, würgte Roy das Geplänkel ab, „mit dem neuen Gamot fertigzuwerden ist das Problem des Anwalts. Wir hier planen ohnehin unter der Voraussetzung, dass es zu einem Todesurteil kommt, für uns ändert sich also nichts, außer dass sich jetzt niemand mehr Illusionen darüber machen kann, dass Harrys, Arabellas, Julians, Orpheus‘ und Ares‘ Leben von ihrer gewaltsamen Befreiung abhängt. Das sollte für uns alle Grund genug sein, bei der heutigen Generalprobe unser Bestes zu geben. Es ist jetzt halb acht. Die Jüngsten nehmen jetzt ihre Alterungstränke, in genau einer Stunde treffen wir uns im Innenhof.“

 

Bisher waren Albus, James, Rose, Scorpius und Bernie ohne Alterungstrank ausgekommen, aber Roy hatte entschieden, dass sie beim echten Angriff auf Askaban körperlich kräftiger sein mussten als normalerweise – man musste auf Alles vorbereitet sein, auch auf den Fall, dass das Unternehmen nicht nach Plan lief. Deshalb sollten sie sich schon für die Generalprobe sieben Jahre älter machen, als sie waren.

Sie nahmen die Alterungstränke auf ihren Zimmern. Als Albus auf den Korridor hinaustrat, sah er James, Scorpius und Bernie sich unter Roys belustigtem Grinsen wie Pfauen vor Spiegeln drehen, die sie wohl eigens herbeigezaubert hatten.

„Boah, fühlt sich das gut an!“, schwärmte Bernie mit Bassstimme, während er seine Oberarme betastete.

Auch Scorpius war mit seinen Einsneunzig sichtlich zufrieden, obwohl er immer noch schlank bis hager war und nicht Bernies Muskelpakete vorzuweisen hatte.

Richtig verliebt in sein Spiegelbild war allerdings James, der ganz verzückt posierte und sich an sich selbst kaum sattsehen konnte (Er sieht aber auch wirklich verdammt gut aus!, gestand Albus sich ein.), bis ihm das Wichtigste einfiel. Er schenkte seinem Spiegelbild noch einmal ein selbstgefälliges Grinsen und meinte: „So, jetzt gehe ich zu Victoire!“

Albus lachte schallend mit den anderen mit, bis er sich zufällig umdrehte und sich Rose gegenübersah, die eben aus Ihrem Zimmer gekommen war.

Sie war bildschön.

Albus fühlte seine Knie weich werden und merkte kaum, dass Rose ihn mindestens so fasziniert anstarrte wie er sie. Er, der offenbar die Neigung der Weasley-Männer zu hohem Wuchs geerbt hatte, sah seinem Vater immer noch ähnlich, wirkte aber stattlicher und markanter als Harry.

Als Rose freilich bemerkte, dass auch James‘, Scorpius‘ und Bernies Blicke an ihr hingen und auf ihrem Körper herunterwanderten, wurde sie rot, machte auf dem Absatz kehrt und rannte in ihr Zimmer zurück.

„Was müsst ihr sie so anstarren?“, stauchte Roy die drei zusammen. „Seht ihr nicht, dass es ihr peinlich ist?“

„Muss es nicht“, fand James, „sie sieht toll aus!“

„Sie ist erst elf!“, schnauzte Roy. „Victoire kann mit so etwas umgehen, aber Rose noch nicht! In Zukunft benehmt ihr euch wie Gentlemen!“

Etwas kleinlaut trotteten sie von dannen.

 

„Uhren auf Punkt Mitternacht stellen“, kommandierte Roy um halb neun, als sie alle im Innenhof der Burg standen. Macnair hatte von seinem Ausflug in die Muggelwelt einen Satz mechanischer Armbanduhren mitgebracht, Elektronik hätte magisch gestört werden können. „Jetzt Uhren starten und fertigmachen zum Disapparieren.“

Bernie hielt sich an Roy fest, Scorpius an Albus, Rose an Victoire, James an Draco.

„Zum Treffpunkt disapparieren!“, befahl Roy, und alle verschwanden, um fünfzehn Meilen weiter westlich an einem Ort wiederaufzutauchen, der eine Klippe etwas nördlich von Branness repräsentieren sollte.

Scorpius beobachtete Albus, wie er sich in eine Fliege verwandelte und in Roys Möwenschnabel kroch. Dann hob er den Daumen. „Er ist drin.“ Roy schloss den Schnabel. Victoire zauberte alle Anwesenden unsichtbar und führte dann den Calorate-Zauber aus, damit sie einander sehen konnten.

Die Möwe hob ab. Da die Feuerblitze deutlich schneller waren als sie, ließen die Zurückbleibenden dem Vorauskommando zehn Minuten Vorsprung. Dann schwangen sie sich auf ihre Besen und flogen Richtung Rockwood Castle, das von den Elfen mit einer ähnlichen Schutzglocke versehen worden war, wie sie auch über Askaban lag.

In einer Höhe von etwas mehr als einer Meile über der Burg kreisten Lucius, Astoria und Narzissa Malfoy, die die Aurorenpatrouille über Askaban darstellten. Roy und Rodolphus hatten einige Nächte zuvor das Verhalten der wirklichen Askaban-Patrouille studiert und herausgefunden, dass die Auroren keinen Calorate-Zauber benutzten, sonst hätten sie Rodolphus trotz seines Unsichtbarkeitszaubers sehen müssen – Roy war als Möwe zur Absicherung mitgeflogen.

Sie wussten, dass die Ablösung alle zwei Stunden stattfand, auch um Mitternacht. Um diese Zeit war daher – laut Übungsszenario – die gegenwärtige Patrouille aufgestiegen. Die drei Malfoys waren unsichtbar, konnten auch einander nicht sehen, flogen, um nicht zusammenzustoßen, in unterschiedlichen Höhen und riefen einander, ganz wie die echten Auroren, in regelmäßigen Abständen Losungsworte zu: „Bei“ – „Merlins“ – „Bart“.

Jeweils zwei der Verfolger setzten sich unsichtbar hinter die Aurorendarsteller. Dann gab Macnair mit einer Handbewegung das Startzeichen. Die Malfoys wurden mit einem Petrificuszauber gelähmt und mit einem Schwebezauber in der Luft gehalten, ihre Besen gestoppt. Dann band man sie magisch aneinander und hängte sie an Bernies zum Muggelbesen umgebauten Feuerblitz. Macnair sah auf die Uhr. Halb eins. Er zog seinen Zauberspiegel heraus.

 

Roy war zu dieser Zeit längst auf dem Fenstersims vor dem geräumigen „Speisesaal“ der Baracke gelandet, die von den Elfen als „Aurorenunterkunft“ hergerichtet worden war. Die Möwe war jetzt sichtbar, da sie sich innerhalb der Schutzglocke befand. Roy öffnete das Fenster mit einem stillen Alohomora und hüpfte in den dunklen Raum. Er ließ Albus heraus, und beide nahmen wieder menschliche Gestalt an. Alles lief ab, wie sie es Dutzende Male geübt hatten: Roy beschwor eine Schlange und duplizierte sie zehn Mal: zwei Schlangen, vier, acht, sechzehn, zweiunddreißig, vierundsechzig, hundertachtundzwanzig, zweihundertsechsundfünfzig, fünfhundertzwölf, eintausendvierundzwanzig.

Nach jeder Verdopplung befahl Albus den neuen Schlangen auf Parsel: „Bleibt liegen, rührt euch nicht, und gebt keinen Laut von euch!“ Bei den Übungen hatte er die Schlangen anfangs gefragt, ob sie ihn verstehen konnten, und beide – vor allem Roy, der kein Parsel verstand – waren zusammengezuckt, so ohrenbetäubend war das bestätigende Zischen von über tausend Schlangen gleichzeitig gewesen. Das hätte ganz Askaban aufgeweckt, sie mussten still bleiben. Roy ließ seinen Zauberstab mehrfach über die Schlangen gleiten, um sie magisch zu wärmen. Schlangen sind wechselwarme Tiere, ihnen durfte nicht zu kalt werden.

„Hört her“, zischte Albus auf Parsel. „Wir werden Einige von euch gleich durch die Luft fliegen und auf Türmen landen lassen. Dort ist jeweils ein Elf. Tut ihnen nichts, aber nehmt ihnen ihre Besen und die Stäbe weg, die sie in der Hand halten, dann schmiegt ihr euch an sie und wärmt euch an ihnen. Sollten sie zu fliehen versuchen, schlingt ihr euch um ihre Beine. Die anderen Schlangen, die wir nicht schweben lassen, kriechen durch die Tür da vorne, sobald ich sie öffne. Verteilt euch auf die ganze Baracke und macht mit den Elfen dort dasselbe wie mit denen auf den Türmen.“

Für die Übung war es gut, dass die Elfen, die die Auroren darstellen sollten, von Natur aus keine Angst vor Schlangen hatten – mit ihren Zauberkräften hätten sie sie jederzeit verschwinden lassen können. Die Übung war nicht ganz realistisch, weil die Malfoys bei weitem nicht so viele Elfen beschäftigten, wie Auroren und Dementoren in Askaban stationiert waren, aber zur Übung der Abläufe musste es genügen.

„Ihr werdet jetzt gleich anders sehen als bisher“, fuhr Albus fort. „Alles, was Ihr hell seht, ist auch warm. Dort sollt ihr euch ankuscheln, nur bei uns nicht. – Calorate.“

Einen Moment später fühlte Roy den Zauberspiegel an seinem rechten Handgelenk vibrieren.

„Ja?“

„Bereit“, hörte er Macnair flüstern.

„Fertigmachen zum Sturzflug!“, erwiderte Roy. Oben hob Macnair die Hand. Roy zählte herunter:

„Zehn – neun – acht – sieben – sechs“, – oben spreizte Macnair die rechte Hand und ließ dann mit jeder Zahl einen Finger verschwinden –, „fünf – vier – drei – zwo – eins – go!“ Macnair senkte den Daumen und gab Draco und den Black Snakes damit das Zeichen zum Sturzflug.

Nun spreizte Lestrange ebenfalls die rechte Hand und zählte fünf Sekunden herunter. Auch sein Kommandotrupp, bestehend aus ihm selbst, James und Victoire, stürzte sich in die Tiefe.

Unterdessen hatten Roy und Albus die von ihnen aus sichtbaren Türme in Finsternis getaucht und schleuderten jetzt Schlangen hinterher. Sie hatten es so oft geübt, dass sie dazu kaum länger brauchten als die beiden Kommandotrupps für ihren Sturzflug. Zum Schluss öffnete Albus die Tür zu den Aurorenschlafsälen, feuerte peruanisches Finsternispulver hinein und schickte die verbliebenen Schlangen los. Er und Roy sprangen aus dem Fenster, wo Draco sie mit zwei Besen empfing, und schossen zur Burg hinauf.

Der erste Alarmruf der Auroren ertönte im selben Moment, als Rodolphus die Tür zum Zellentrakt mit einem Sprengzauber zerfetzte, Roy und Albus im Innenhof landeten, alle fünf ihre Patroni beschworen und diesen hinterher in den Zellentrakt eindrangen. Die Dementoren-Elfen wurden ins tiefste Untergeschoss getrieben, bis auf zwei, die von den Patroni in Schach gehalten wurden und nun nach einer Namensliste die Türen zu den Zellen der Gefangenen öffnen mussten. Letztere mussten mangels Übungspersonals durch Puppen dargestellt werden. Als alle Befreiten im Hof standen, stießen Macnairs Todesser vom Turm herab zu ihnen, und Roy gab Rose und Scorpius per Zauberspiegel das Zeichen, ihren Beobachtungsposten hoch oben über der Burg zu verlassen. Jeder Befreier nahm einen Gefangenen auf seinen Besen, und sie schossen westwärts in die Nacht, bis sie die Schutzzone verließen und wieder unsichtbar wurden, dann schwenkten sie nach Norden. Das Wasser eines Weihers, der die Nordsee darstellte, ließen sie magisch gefrieren, um auf dem Eis festen Stand zu haben, und disapparierten zurück nach Rockwood Castle. Roy blieb einen Moment zurück, um auf Bernie zu warten, der die Malfoys sicher und sanft auf dem Burggelände abgesetzt hatte und nach einer Minute eintraf.

Als Roy und Bernie als Letzte in Rockwood apparierten und Roy mit erhobenem Daumen „Übungsende!“ rief, brachen Alle in erleichterten Jubel aus, fielen einander in die Arme und klatschten sich ab – sogar die Gryffindors und die Black Snakes! –, und selbst die Elfen hatten Mühe, ihren distanzierten Habitus zu wahren.

„Genau so muss es im Ernstfall laufen!“, rief Roy. „Schluss für heute. Jetzt noch einen Schlummertrunk und dann ab ins Bett! Ab morgen müssen wir jederzeit bereit zum Ausrücken sein!“