Roy apparierte in dem Londoner Viertel, in dem seine Mutter gelebt hatte. Es war sechs Uhr morgens – die Zeit, zu der Harry hätte enthauptet werden sollen. Trotz der Kälte und Leere in ihm empfand Roy eine gewisse grimmige Genugtuung, Hermine um ihr zweites Opfer gebracht zu haben. Er hatte es geschworen: Ein weiteres würde es nicht geben. Zunächst brauchte er Geld. Er stellte sich in einen dunklen Hauseingang, steckte den Zaubererumhang in seine Tasche, zog eine Muggel-Jeansjacke über und machte sich unsichtbar.
Nicht weit davon zählte Hassan Jafari die Nachteinnahmen des Wonderland, eines Bordells, in dem Frauen aus aller Herren Länder arbeiteten, die wenigsten davon freiwillig, die meisten gefügig gemacht mit Drogen und Gewalt. Es war eine ertragreiche Nacht gewesen, in einer halben Stunde würden die letzten Freier gehen. Jafari legte das Geld in den Safe. Nur einen geringen Teil seiner Einnahmen würde er auf ein Konto einzahlen, den Rest anderweitig in Umlauf bringen und damit der Aufmerksamkeit der Finanzbehörden Ihrer Majestät entziehen.
Er schloss gerade den Tresor, als er hinter sich die Bürotür gehen hörte. Jafari fuhr herum. Die Tür stand offen, aber niemand schien eingetreten zu sein.
„Hallo?“, rief er unwirsch. Die Tür fiel wieder ins Schloss.
„Imperio!“, antwortete eine Stimme aus dem Nichts.
Jafari fühlte eine selige Leichtigkeit in sich aufsteigen, wie unter dem Einfluss gewisser Drogen, mit denen er handelte, ohne sie selbst je zu konsumieren. Er lebte von anderer Leute Sucht.
„Sie werden jetzt den Safe öffnen und das Bargeld auf ihren Schreibtisch legen“, befahl die Stimme. Willenlos tat Jafari, wie ihm geheißen. Die Geldbündel, die er auf den Tisch legte, schienen sich in Luft aufzulösen. Schließlich befahl die Stimme: „Sie werden den Tresor jetzt schließen und nicht vor heute Nachmittag wieder öffnen. Wenn Sie dann kein Geld darin finden, werden Sie glauben, Sie selbst hätten es ausgegeben. Sie werden vergessen, was Sie eben erlebt haben.“
Jafari nickte und schloss den Tresor. Die Bürotür öffnete sich wieder, und ihm war, ohne dass es ihn interessiert hätte, als hörte er Schritte sich entfernen. Er würde sich jetzt schlafen legen. Es war eine ertragreiche Nacht gewesen.
Gegen halb sieben spürte ein junger Mann, der gerade zur U-Bahn eilte, einen zuckenden Schmerz an der Kopfhaut, als würde ihm eine Haarsträhne ausgerissen. Er fuhr herum, aber niemand war in seiner Nähe. Verwundert rieb er sich den Hinterkopf. Dann zuckte er die Achseln, setzte seinen Weg fort und vergaß den kleinen Zwischenfall.
Roy hatte sich in einer öffentlichen Toilette eingeschlossen, machte sich wieder sichtbar, legte die Haare, die er eben dem jungen Mann ausgerissen hatte, in ein Schälchen Vielsafttrank, warf eine vergrößerte leere magische 24-Stunden-Kapsel hinein, ließ sie sich vollsaugen und verkleinerte sie wieder. Während er darauf wartete, dass die Kapsel sich wieder schloss, zählte er das Geld, das er in Jafaris Bordell erbeutet hatte. Es waren über einhundertzehntausend Pfund.
Nun hatte er ein Luxusproblem: So viel Geld würde in der kurzen Zeit, die er noch zu leben gedachte, auf keinen Fall brauchen. Wenn man ihn aber nach Hermines Tod verhaftete, würde das Geld dem Ministerium zufallen! Er verzog den Mund: Wenn es jemanden gab, dem er es nicht gönnte, war es das Ministerium. Er zählte zehntausend Pfund ab, die er behalten würde, dann nahm er den Vielsafttrank und verwandelte sich dadurch in einen Doppelgänger des unbekannten jungen Mannes. Schließlich machte er sich wieder unsichtbar.
Ganz in der Nähe kannte er eine kleine Parkanlage. Als Roy hinter einem Gebüsch lautes Schnarchen hörte, nachsah und einen graubärtigen Obdachlosen fand, der sich in seinen Schlafsack eingemummelt hatte, steckte er ihm – immer noch unsichtbar – kurzerhand hunderttausend Pfund in den Schlafsack und ging davon.
Selbst wenn der Obdachlose seine Geschichte der Presse erzählte und das Zaubereiministerium davon Wind bekam, würde niemand dort diese kuriose Sache mit ihm in Verbindung bringen.
Als er weit genug entfernt war, machte er sich in einer Toilette wieder sichtbar, bestieg die U-Bahn und wechselte in ein Viertel, in dem es genügend Hotels gab. Roy fühlte keine Müdigkeit – er fühlte überhaupt nichts –, aber er wusste, dass er schlafen musste. Er wählte ein mittelpreisiges Hotel, in dem sonst Geschäftsreisende mit knappem Spesenbudget abstiegen, gab einen falschen Namen an und bat den Portier, ihn um ein Uhr mittags zu wecken. Auf seinem Zimmer trank er einen Schluck des Traumhemmers, den die Elfen ihm überlassen hatten – er fühlte nichts, fürchtete aber seine Träume – und schlief sofort wie ein Stein.
***
Harry verabschiedete sich nach dem Mittagessen mit Handschlag von den Black Snakes, Rodolphus und Walden. Letztere sollten mit ihrer vergleichsweise seriösen Ausstrahlung dabei helfen, in Liverpool ein passendes Altersheim für die befreiten Todesser zu finden. Die Kosten würden die Black Snakes übernehmen, die nie Geldsorgen hatten.
Als Rodolphus und Walden disappariert waren und von den Black Snakes unter ihrem Unsichtbarkeitszauber nur noch das Röhren ihrer Maschinen am Himmel zu hören war, folgten Harry und Albus den anderen Unbestechlichen ins Haus. James, Rose und Victoire waren nicht zur Verabschiedung gekommen und saßen immer noch im Rittersaal. Harry schien es, als wolle sein Sohn hinter den anderen absichtlich ein wenig zurückbleiben.
„Meinst du“, raunte Albus ihm zu, „wir bekommen ihn noch einmal lebend zu sehen?“
„Du trauerst sehr um ihn, was?“
Albus nickte bedrückt. „Seit ich in Hogwarts bin, ist er für mich wie ein großer Bruder gewesen. Ihn zu verlieren ist so, als wenn James… Der letzte Mensch, der plötzlich nicht mehr er selbst war, war Hermine. Hermine werden wir retten – wir werden sie doch retten, oder?“, fragte er mit einem plötzlichen Anflug von Zweifel.
„Natürlich, Al, natürlich werden wir sie retten, ich habe auch schon einen Plan.“
„Wir werden schnell sein müssen, um Roy zuvorzukommen.“
„Wir werden schnell sein“, erwiderte Harry. „Morgen.“
„Morgen schon?“ Albus sah überrascht zu seinem Vater auf. „Gott sei Dank. Ich habe nur Angst, wenn Roy merkt, dass er sie nicht töten kann, tut er sich selbst etwas an.“
Harry blieb stehen und fasste seinen Sohn an beiden Schultern. „Wir konzentrieren uns zunächst auf Hermine. Sobald wir sie von Voldemort befreit haben, wird uns etwas für Roy einfallen. Versprochen.“
Albus nickte erleichtert. Wenn sein Vater so etwas sagte, würde er es auch schaffen. Sie betraten nun den Rittersaal, in dem Gryffindors und Slytherins einander gegenübersaßen und anschwiegen: auf der einen Seite James, Rose und Victoire, auf der anderen Julian, Ares, Orpheus, Scorpius und Bernie. Das Mittagessen war schon unter bedrückendem Schweigen verlaufen – mit der gestrigen Nacht war etwas zerbrochen. Während Harry neben Victoire Platz nahm, blieb Albus stehen. Ihm war, als sei ein stummer Krieg ausgebrochen, und er müsse sich für eine Seite entscheiden.
Julian bemerkte sein Zögern und meinte verständnisvoll:
„Albus, du kannst dich ruhig zu deiner Familie setzen.“
„Heißt das“, fragte Albus betroffen, „ich gehöre nicht mehr zu euch?“
„Quatsch!“, rief Ares unwirsch. „Selbstverständlich gehörst du zu uns, wir glauben nur, dass dein Vater dich momentan dringender braucht als wir.“
Albus setzte sich erleichtert neben Harry.
„Bis auf Weiteres“, unterbrach Julian das erneute Schweigen, „werden unsere Wege sich trennen müssen. Das, was du vorhast, Harry, werden wir nicht unterstützen, aber auch nicht verhindern. Wir konzentrieren uns darauf, Roys letzte Bitte zu erfüllen.“
Albus schluckte. Roys letzte Bitte – als wäre er schon tot!
„Wir werden uns von den Elfen einen eigenen Raum zuweisen lassen“, fügte Julian hinzu. Die Unbestechlichen erhoben sich und verließen den Rittersaal.
„Gut, dass die draußen sind!“, schnaubte Rose.
„Was soll denn daran gut sein?“, entrüstete sich Albus.
„Also, ich muss nicht mit Leuten zusammensein, die zum Feind halten.“
„Feind?“, fragte Albus fassungslos.
„Na, wie würdest du dieses Scheusal Roy denn nennen?“
„Er ist kein Scheusal!“ Albus sprang auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Nun sprang Rose auf: „Er will meine Mutter ermorden!“
„Deine Mutter wollte meinen Vater ermorden! Habe ich sie deswegen je ein Scheusal genannt?“
„Sie steht unter einem Fluch!“
„Und Roy hat alles verloren, was ein Mensch verlieren kann, und zwar ihretwegen!“
Albus und Rose waren aufeinander zugetreten und funkelten sich an.
„Dass du ihn auch noch verteidigst! Ich dachte, du… Ich dachte, wir wären…“ Tränen der Wut und Enttäuschung kullerten aus ihren Augen.
„Hast du nicht gesehen, wie sehr er Arabella geliebt hat?“, fuhr Albus sie an. „Was glaubst du, was ich mit jemandem machen würde, der mir dich wegnimmt? Wäre ich dann auch ein Scheusal?“
Selbstredend würde Albus nie so extrem reagieren wie Roy, insofern hatte er geflunkert – aber so charmant, dass Rose von ihrem Zorn abgelenkt wurde und ihn halb verwirrt, halb geschmeichelt ansah.
Harry nutzte die entstehende Pause: „Rose, Albus, würdet ihr euch bitte wieder hinsetzen? Wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn wir Roy zuvorkommen wollen.“
Die beiden setzten sich wieder, während sie verstohlene Blicke tauschten.
***
Als der Portier Roy um eins weckte, schoss sofort das Adrenalin in dessen Adern und vertrieb die Müdigkeit.
Er sprang unter die Dusche, zog sich an, ging in die nächstbeste Pizzeria und bestellte sich eine doppelte Portion Spaghetti Bolognese, denn der Tag würde wahrscheinlich lang, in jedem Fall aber anstrengend werden. Er dachte über seine Optionen nach. Unbemerkt ins Ministerium einzudringen würde fast unmöglich sein, nun, da eine Großfahndung nach den Befreiten und ihren Befreiern lief und Anderson damit rechnen musste, dass Harry seine Entführung zu wiederholen versuchen würde.
Hermine wohnte aber im Gästehaus. Roy kannte das Gebäude nicht, spekulierte aber, dass es wie die meisten magischen Gebäude in London – außer dem Ministerium – oberirdisch lag und daher zwar durch einen Verwirrungszauber vor Muggelblicken geschützt, aber gegen Eindringlinge schwerer abzusichern war als das Ministerium. Er musste es erst einmal ausfindig machen.
Harry hatte erwähnt, dass ein unterirdischer Gang direkt vom Ministerium zum Gästehaus führte, damit Gäste des Ministeriums nicht auf die Straße hinausmussten. Das Gebäude würde also in einem Umkreis von zweihundert, maximal dreihundert Metern um das Ministerium herum zu finden sein.
Einen Moment lang erwog er, einfach die Straßenzüge um das Ministerium herum im Taxi abzufahren und den Muggel-Fahrer bei jedem Gebäude zu fragen, ob er es sehen konnte – wenn nicht, war es das gesuchte. Er verwarf den Gedanken wieder: Das Haus wurde bestimmt beobachtet, und ein Taxi, das im Schritttempo – schneller würde es kaum gehen – das Ministerium umkreiste, musste noch dem dümmsten Auror verdächtig vorkommen.
Angenommen, überlegte er, ich wäre Anderson, wie würde ich das Gästehaus sichern? Ich würde auf jeden Fall dafür sorgen, dass niemand sich unsichtbar nähern kann.
Er starrte vor sich hin, während er automatengleich seine Spaghetti in sich hineinschaufelte, ohne den missbilligenden Blick des italienischen Kellners wahrzunehmen.
Wenn er sich als Mensch oder Möwe unsichtbar machte, würde er sichtbar werden, sobald er die Umgebung des Gästehauses betrat. Dann hatte er zwar das Haus identifiziert, war aber auch den Auroren aufgefallen.
Beim doppelten Espresso, mit dem er seine Mahlzeit abschloss, kam er auf die Lösung.
Roy zahlte, trat hinaus auf die Straße und begab sich in eine nahegelegene Grünanlage, wo er sich in ein Gebüsch schlug. Ein Unbeteiligter, der ihn zufällig sehen würde, würde denken, er müsse mal austreten. Er zauberte einen etwa zwanzig Zentimeter langen Zweig unsichtbar, nahm die Gestalt einer Möwe an, las den unsichtbaren Zweig mit dem Schnabel vom Boden auf und flog Richtung Ministerium davon. Das Ministerium lag in Themsenähe, dorthin konnte eine Möwe sich schon einmal verfliegen, ohne aufzufallen. Es war kurz vor halb drei, er würde noch etwa vier Stunden Tageslicht haben, das würde reichen. Es musste auch reichen, wenn er den Fern-Wettlauf mit Harry gewinnen wollte.
Gewiss, Harry hatte sich mit der Entführung – auf eine solche würde es hinauslaufen – das bei Weitem kompliziertere Unternehmen vorgenommen, insofern glaubte Roy einen kleinen Vorsprung zu haben, aber den durfte er nicht vergeuden: Harry wusste, dass ihm nicht viel Zeit bleiben würde, Hermine vor ihm oder Voldemort zu retten. Er würde sich nicht noch einmal drei Monate zur Vorbereitung nehmen, wahrscheinlich nicht einmal drei Tage.
Roy flog systematisch zunächst alle Gebäude ab, die dem Ministerium direkt gegenüberlagen. Fehlanzeige – der Zweig in seinem Schnabel blieb unsichtbar. Dann folgte er den Seitenstraßen, die am Ministerium entlang verliefen. In der vierten Straße, die er durchflog, vom Ministerium aus gesehen etwa zweihundert Meter straßenabwärts auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wurde er fündig: Er konnte den Zweig in seinem Schnabel plötzlich sehen, der wieder verschwand, als er das Gebäude passiert hatte. Einem Beobachter, auch wenn er Auror war, konnte der winzige Zweig unmöglich auffallen, der im Schnabel einer Silbermöwe jäh auftauchte und wieder verschwand – außer vielleicht Anderson selbst, dessen legendäre Beobachtungsgabe Harry gerühmt hatte, aber der schob bestimmt keinen Außendienst.
Methodisch, wie es seine Art war, durchflog Roy noch die übrigen Straßen in einem Umkreis von vierhundert Metern um das Ministerium herum, ob er ein weiteres Haus fand, an dem dieses Phänomen auftrat, dann aber war er sich seiner Sache sicher: Er hatte das Gästehaus, ein repräsentatives, aber keineswegs protziges vierstöckiges Gebäude im viktorianischen Stil, identifiziert.
Sechs Schornsteine ragten aus dem Dach des Gästehauses. Wahrscheinlich gab es im Haus Suiten oder Appartements für besonders wichtige Gäste – und bestimmt für die Ministerin –, die nach Zauberersitte mit einem offenen Kamin ausgestattet waren. Er begutachtete die Schornsteine: Eine Möwe würde hindurchpassen. Die Frage lautete, welcher von ihnen zur Suite der Ministerin führte. Einen Irrtum durfte er sich nicht erlauben, denn die Schornsteine waren zwar breit genug, um in ihnen nach unten zu gleiten, aber natürlich zu schmal, um mit der stattlichen Spannweite einer Silbermöwe durch sie wieder hinauszufliegen, und er musste damit rechnen, dass die Fenster aus Sicherheitsgründen auch von innen nicht geöffnet werden konnten – und wenn, würde ein offen zurückgelassenes Fenster die Auroren alarmieren. Entkommen würde er wohl nicht mehr, wenn er einmal drin war, und er hatte es, sofern nur sein Attentat gelang, auch nicht vor.
Roy ließ sich auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses nieder und dachte nach. Interessanterweise war sein Zweig wieder unsichtbar geworden, die Schutzglocke des Gästehauses reichte also nicht bis zu dem Haus, auf dem er saß, jedenfalls nicht bis zu dessen Dach. Er setzte sich auf die Dachrinne und ließ den Zweig auf den Gehweg vier Stockwerke unter ihm fallen. Er blieb unsichtbar.
Es würde sicherer sein, unter dem Schutz eines Unsichtbarkeitszaubers zurückzukehren – eine Möwe als solche war unauffällig, aber eine Möwe, die stundenlang auf einem Dach saß und das Gästehaus des Ministeriums anstarrte, würde vielleicht doch den einen oder anderen Auror dazu verleiten, sie sicherheitshalber mit dem Realcorpus-Zauber zu überprüfen.
Er flog ein Stück weit weg und kehrte wieder zurück, um, nunmehr unsichtbar, erneut seinen Beobachtungsposten zu beziehen. Es war unmöglich, durch die Fenster ins Haus hineinzusehen, wahrscheinlich waren sie magisch gegen Blicke abgeschirmt.
Roy wartete geduldig stundenlang, ohne dass sich am Gästehaus erkennbar etwas rührte oder irgendjemand ein- oder ausgegangen wäre. Das überraschte ihn nicht besonders, da das Haus ja unterirdisch mit dem Ministerium verbunden war und Hermine oder die Gäste des Zaubereiministeriums diesen Gang benutzen würden. Er wartete auf die Mitarbeiter des Hauses. Harrys Bericht über die gescheiterte Entführung hatte er entnommen, dass die Mitarbeiter des Ministeriums in Zwölf-Stunden-Schichten arbeiteten und morgens und abends jeweils um sieben Uhr abgelöst wurden. Vermutlich galt dieselbe Schichteinteilung auch für das Gästehaus.
Roy konnte auf keine Uhr sehen, verließ sich aber auf sein gutes Zeitgefühl. Es musste tatsächlich gegen sieben Uhr sein, als ein Mann das Haus verließ, auf dessen Dach Roy saß, schnurstracks die Straßenseite wechselte und ins Gästehaus eingelassen wurde, nachdem er ein Kennwort genannt hatte, das Roy von oben aus allerdings nicht verstehen konnte. Das gleiche wiederholte sich in kurzen Abständen noch drei Mal mit anderen Männern. Ein paar Minuten später verließen wiederum kurz nacheinander vier weitere Männer das Gästehaus, überquerten ihrerseits die Straße und verschwanden in demselben Haus, aus dem die anderen gekommen war.
Roy überlegte: Das Haus unter ihm musste Dienstwohnungen von Mitarbeitern beherbergen, und da man offenbar Wert darauf legte, sie in der Nähe zu wissen, würde es sich eher um Sicherheitspersonal handeln als um Köche oder Reinigungskräfte. Sie waren getrennt gegangen, was darauf hindeutete, dass jeder seine eigene Wohnung hatte.
Da es nun dunkel geworden war, schraubte Roy sich rund fünfzig Meter in die Höhe, aktivierte stumm den Calorate-Zauber und kehrte wieder auf sein Dach zurück.
Genau wie er spekuliert hatte, schirmten die Fenster nur austretende Licht-, nicht aber Wärmestrahlen ab, und er konnte jetzt an der Wärme erkennen, in welchen Zimmern und Appartements Menschen sich aufhalten und Kerzen brennen mussten – über Elektrizität verfügte in der magischen Welt nicht einmal das Ministerium, was aber niemanden störte, da magische Kerzen deutlich heller brannten als Muggelkerzen. Körperkonturen, an denen er Hermine vielleicht hätte erkennen können, konnte er zu seiner Enttäuschung allerdings nicht ausmachen. Er sah die Wärme als solche, aber die Fenster waren eigenartigerweise so gebaut, dass sie die Wärmestrahlung diffus streuten – wusste der Geier, wie und warum die Baumagier des Ministeriums das gemacht hatten.
Aus der Anordnung der erleuchteten und nicht erleuchteten Fenster konnte Roy Rückschlüsse auf die Lage der Appartements ziehen, auf die es ihm vor allem ankam. Da das Haus nur schwach belegt war, deutete ein einzelnes durch Wärme erleuchtetes Fenster auf ein einzelnes Zimmer, mehrere nebeneinander auf Suiten hin. Roy umflog im Lauf der folgenden Stunden das Gebäude in vorsichtigem Abstand mehrere Male und prägte sich die Lage aller erleuchteten Fenster genau ein. Anscheinend waren insgesamt zwei von vermutlich sechs Appartements im obersten Stockwerk und eines im zweiten belegt, während es im übrigen Gebäude nur Einzelzimmer zu geben schien und es im ersten Stock völlig dunkel war, offenbar war dort niemand untergebracht.
Als gegen elf Uhr nicht mehr zu erwarten war, dass in dieser Nacht noch irgendetwas geschehen würde, flog er zu seinem Hotel zurück. Kaum zu glauben, dachte er, dass wir uns vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden für den Angriff auf Askaban fertiggemacht haben. Keinen Tag war es her, und doch wie aus einem anderen Leben.
Er gab einen Weckauftrag für fünf Uhr und legte sich schlafen, vergaß aber, seinen Traumhemmer zu nehmen.
***
„Also“, begann Harry, „es führt wieder einmal kein Weg daran vorbei, Hermine zu entführen…“
„Wohin?“, wollte James wissen.
„Wieder in die Kammer des Schreckens.“
„Dort sucht man doch zuerst!“
„Nicht unbedingt, nur wenige wissen, wo die Kammer sich befindet, und die gehören alle zur Familie. Außerdem haben wir nicht die Zeit, ein neues Versteck einzurichten. Dann holen wir einen Heiler aus dem St. Mungo. Er muss den Horkrux aus ihrer Schädeldecke entfernen, damit wir ihn mit einem Basiliskenzahn oder dem Gryffindor-Schwert zerstören können.“
„Aber Papa“, wandte Albus ein, „wie soll irgendeiner von uns einen Heiler holen? Nach uns allen wird gefahndet!“
„Ich werde McGonagall darum bitten. Wir brauchen ohnehin ihre Hilfe, weil nur sie uns die Möglichkeit verschaffen kann, mit Hermine direkt im Klo der maulenden Myrte zu apparieren, um von dort aus in die Kammer des Schreckens zu kommen. Der alte Geheimraum, sofern er überhaupt noch existiert, ist mit Sicherheit inzwischen wieder appariergeschützt.“
„Und wie willst du Kontakt zu ihr aufnehmen?“, fragte Victoire zweifelnd. „Das Flohnetzwerk wird überwacht, Eulen werden überwacht, das Gelände soll nach wie vor von Dementoren umstellt sein, deinen Tarnumhang hast du nicht mehr, und Apparieren ist in Hogwarts nicht möglich!“
„Apparieren ist durchaus möglich“, korrigierte Harry. „Nur wir können es nicht.“
„Wer dann?“
„Elfen! Blubber könnte in Hogwarts apparieren und McGonagall einen von Roys Zauberspiegeln bringen, damit ich mit ihr sprechen kann. Wir werden allerdings warten müssen, bis Draco heute Abend aus dem Ministerium nach Hause kommt, denn nur er kann Blubber den Auftrag erteilen.“
„Wie willst du aus dem Ministerium disapparieren?“, fragte Victoire. „Das ist doch schon einmal schiefgegangen!“
„Ich war gerade dabei, Hermine mit dem Imperius zu belegen, um sie zu zwingen, mit mir zu disapparieren. Es hätte funktioniert, wenn Anderson mich nicht gestört hätte und ich nicht gezwungen gewesen wäre, Hermines Rolle zu spielen. Das brauche ich diesmal nicht zu tun, diesmal wird es klappen.“
„Und wenn es nicht klappt? Wenn Anderson die Apparierbestimmungen nochmals verschärft hat?“
„Notfalls verschanze ich mich im Ministerbüro, nehme Hermine als Geisel und erzwinge eine Untersuchung ihres Kopfes durch den Chefheiler des St. Mungo. Es wird für ihn ein Leichtes sein, den Goldnugget zu finden und die darin steckende Schwarze Magie zu identifizieren, wenn er erst einmal weiß, wonach er zu suchen hat.“
„Harry“, rief Victoire beunruhigt. „Du hattest Hermine schon einmal als Geisel, und es ist schiefgegangen.“
„Da musste ich auch improvisieren.“
„Und wenn die Auroren sich nicht auf deine Forderung einlassen, weil sie dir die Drohung, Hermine zu töten, nicht abnehmen? Wenn sie ein Sondereinsatzkommando mit ihren verdammten Blendgranaten schicken? Wenn…“
„Es ist ja auch nur Plan B!“, fiel Harry ihr genervt ins Wort. „Selbstverständlich ist er riskant, aber er hat eine reelle Erfolgschance.“
„Damit ist aber noch nicht das Hauptproblem gelöst, wie du ins Ministerium eindringen willst“, wandte James nun ein. „Roy hat fast den ganzen Vorrat an Vielsafttrank mitgenommen, den Rest haben seine Freunde, und die werden ihn nicht herausrücken.“
„Das macht nichts“, antwortete Harry. „Mit Vielsafttrank kommt man sowieso nicht mehr durch die Eingangskontrollen – ich fresse einen Besen, wenn Anderson die Sicherheitsbestimmungen nicht auch in diesem Punkt verschärft hat. Unsichtbarkeitszauber würde ich auch lieber nicht ausprobieren, vermutlich ist inzwischen das ganze Ministerium unter einer Schutzglocke, nicht nur die Ministerin.“
„Und wie dann?“, fragte Victoire.
„Als Animagus. Ich werde mich wie Albus in eine Fliege verwandeln.“
„Soll ich dann nicht besser mitkommen?“, fragte Albus. „Ich könnte sozusagen als Reserve bereitstehen, damit dir jemand helfen kann, falls etwas schiefgeht.“
„Ich hätte dich ohnehin darum gebeten.“
„Warum Al?“, rief James enttäuscht. „Warum der Jüngste? Warum nicht Victoire oder ich?“
„Ich rechne mit der Möglichkeit“, erwiderte Harry, „dass Roy zur selben Zeit zuschlägt wie wir und wir ihn vielleicht an seinem Anschlag hindern müssen. Dann ist Albus der Einzige, der Einfluss auf ihn hat.“
„Besonders beeindruckend war der Einfluss gestern ja nicht“, brummte James verdrossen, der gern bei dem Abenteuer dabeigewesen wäre.
„Er war immerhin groß genug, Roy in seinem desolaten Seelenzustand noch so etwas wie eine Gefühlsregung zu entlocken. Selbst jetzt noch weigere ich mich zu glauben, dass er Hermine tötet, solange Albus danebensteht.“
James grummelte missmutig etwas, das nach halber Zustimmung klang, bohrte aber sofort nach: „Sollten wir dann nicht Alle als Animagi eindringen?“
Harry schüttelte den Kopf.
„Damit erhöhen wir nur das Risiko, ohne einen nennenswerten Vorteil zu erzielen. Zahlenmäßig sind wir den Auroren ohnehin weit unterlegen, egal, ob wir zu zweit oder zu fünft eindringen. Wenn wir aber auffliegen und verhaftet werden, ist es besser, wenn noch drei von uns auf freiem Fuß sind.“
„James, er hat recht“, gab Victoire zu und ließ ihrem Cousin keine Wahl, als sich widerwillig geschlagen zu geben.
Den Rest des Nachmittags verbrachten sie mit Vorbereitungen: Harry ließ sich in einen Fliegen-Animagus verwandeln – es war fast Frühlingsanfang und damit nicht mehr ganz so schwer, eine lebende Fliege aufzutreiben – und gewöhnte sich gemeinsam mit Albus in das Leben einer Stubenfliege ein. Draco kam kurz nach sechs von der Arbeit und zeigte sich hilfsbereit: Er schickte Blubber zu McGonagall, die über den Zauberspiegel Kontakt zu Harry aufnahm, gegen sein Vorhaben keine Einwände erhob und noch am selben Abend das Klo der maulenden Myrte von der Appariersperre ausnahm. Alles klappte wie am Schnürchen.
Nachdem Harry und Albus den Plan gegen neun Uhr noch ein letztes Mal durchgesprochen hatten, wurde Albus mit einem Schlaftrunk der Elfen ins Bett geschickt. Er schlief in dem beruhigenden Bewusstsein ein, dass nichts schiefgehen würde.
***
„Vergiss die Dementoren, mein Bärchen, ich bin da“, flüsterte Arabella ihm zu, die sich auf dem Wolkenbett in ihrem Hochzeitszimmer an ihn gekuschelt hatte. „Niemand trennt uns, mein Bär, niemand trennt uns, niemand trennt uns…“
Das Telefon riss ihn aus dem Traum.
„Sie wollten um fünf Uhr geweckt werden, Sir.“
„Ich?“, murmelte er schlaftrunken. „Ja, danke.“
Schlagartig verdrängte die Wirklichkeit seinen Traum, und seine kaum angetaute Seele gefror wieder. Auf diese Weise aus einem Traum zu erwachen, war schlimmer, als einen Alptraum zu durchleiden. Arabella lag nicht neben ihm, wurde ihm bewusst. Sie hatte sich in Askaban erhängt.
Dafür stirbt das Schlammblut!
Jetzt war nicht die Zeit zu trauern.
Um halb sieben Uhr morgens stand er unsichtbar auf der dem Gästehaus gegenüberliegenden Straßenseite und wartete. Kurz vor sieben ging der erste der Auroren hinüber zum Dienst, kurz nach sieben schlug der erste Auror, der seine Nachtschicht beendet hatte, den entgegengesetzten Weg ein. Roy schlüpfte ihm unsichtbar in die Haustür hinterher und folgte ihm, während er schweren Schrittes in den zweiten Stock schlurfte.
Auf dem Klingelschild stand der Name „Bellamy“. Der Auror hatte soeben die Tür zu seiner Wohnung aufgeschlossen, als ein stummer Petrificus-Zauber ihn lähmte. Bevor er umkippen konnte, fing Roy ihn auf, denn das Poltern eines fallenden Körpers konnte er jetzt ebenso wenig brauchen wie den grellroten Blitz eines Schockzaubers, der womöglich draußen jemandem auffallen konnte. Er lehnte den Auror, der steif wie ein Brett war, gegen die Wand des kleinen Wohnungskorridors, schloss die Tür, schirmte zunächst die gesamte Wohnung nach außen mit einem Imperturbatio-Zauber und zum Sichtschutz mit einem Verwirrungszauber ab und vergewisserte sich, dass er mit dem Auror allein war.
Es handelte sich um eine Dienstwohnung, die im Wesentlichen aus einem kleinen Wohn- und einem noch kleineren Schlafzimmer bestand. Auf dem Nachttisch winkten eine Frau und zwei Kinder gemeinsam aus dem Rahmen ihres Bildes. Roy unterdrückte den Stich, den dieser Anblick ihm gab.
Der Auror war wohl ein treusorgender Familienvater, der nur seines Berufs wegen – und vielleicht nur vorübergehend – von seiner Familie getrennt leben musste. Das war gut. Familienväter konnten nicht ihr Leben riskieren, nur um ein Staatsgeheimnis zu wahren.
Roy schleppte den gelähmten Auror ins Wohnzimmer, verpasste ihm einen Schockzauber, hob die Lähmung wieder auf, fesselte ihn an einen Stuhl und weckte ihn wieder. Der Auror, der niemanden sehen konnte, sah sich verwirrt um.
„Imperio!“, befahl Roy. Der Auror stutzte einen Moment, dann nahm sein Gesicht jenen seligen, wenn auch nicht besonders intelligenten Ausdruck an, den Roy zuletzt an Wilkinson bemerkt hatte.
„Sie werden mir jetzt auf jede Frage die Wahrheit antworten, Bellamy, verstanden?“
„Ja, Sir“, nickte der Auror und sah freundlich etwa in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
„Sie tun Dienst im Gästehaus des Ministeriums?“
„Ja, Sir.“
„Was tun Sie dort?“
„Ich gehöre als Wachmann zum Sicherheitspersonal.“
„Die Ministerin wohnt im Gästehaus?“
„Ja, Sir.“
„Hat sie ein Zimmer oder ein Appartement?“
„Ein Appartement, Sir.“
„Wo?“
„Im ersten Stock, Sir.“
Roy stutzte.
„Wann kam sie gestern Abend nach Hause?“
„Gegen halb acht, Sir.“
„Und sie verbrachte den Abend in ihrer Wohnung im ersten Stock?“
„Ja, Sir.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Ich suchte sie vorschriftsgemäß während meines Rundganges um neun Uhr auf, um mich zu vergewissern, dass sie wohlauf ist.“
„Aha. – Wer ist in der obersten Etage untergebracht?“
„Die Appartements dort sind im Moment nicht belegt, Sir.“
Der Auror log wie gedruckt! Roy trat einen Moment ans Fenster und überlegte. Sein Imperiusfluch war fehlgeschlagen. Er könnte den Auror jetzt foltern – moralische Skrupel hatte er keine mehr –, aber Folter war ein grobschlächtiges, nicht unbedingt zielführendes Mittel, etwas für Dummköpfe, denen nichts Besseres einfiel. Er drehte sich wieder zu dem Auror um, ohne dass dieser es hätte sehen können.
„Wir werden mit Hilfe eines sehr einfachen Tests herausfinden, ob Sie mir die Wahrheit gesagt haben. Ich belege Sie jetzt mit dem Anti-Imperius. Wenn Sie die Wahrheit gesagt haben, wird mein Imperius aufgehoben. Haben Sie aber gelogen, dann stehen Sie gar nicht unter meinem Imperius. Als Auror wissen Sie, wie der Anti-Imperius wirkt, wenn er gegen jemanden gerichtet wird, der nicht dem Imperiusfluch ausgesetzt ist?“
„Ja, Sir, er würde bewirken, dass ich als Persönlichkeit ausgelöscht werde.“
„Richtig. Wenn Sie also gelogen haben, werden Sie für den kurzen Rest Ihres Lebens Ihre Frau und Ihre Kinder nicht mehr wiedererkennen!“ Roy wollte ganz sichergehen, dass der Auror ihn auch wirklich verstanden hatte.
„Ich weiß, Sir, ich habe aber die Wahrheit gesagt.“
Hatte er nicht und wusste es! Wenn er sich trotzdem vor dem Anti-Imperius nicht fürchtete, dann konnte dies nur eines heißen: dass Roys Fluch nicht am Widerstand des Aurors, sondern an einem bereits bestehenden Imperiusfluch gescheitert und der Auror sich darüber im Klaren war.
„Antimperio!“, rief Roy laut, während er den Zauberstab auf Bellamy richtete. Der Auror nahm wieder einen normalen Gesichtsausdruck an. Dann sagte Roy so leise, dass man es nicht einmal ein Flüstern nennen und der Auror es nicht hören konnte:
„Imperio!“
Sogleich – ohne den Sekundenbruchteil des Zögerns wie vorhin – wirkte der Auror wieder leicht bekifft. Diesmal musste der Fluch gewirkt haben.
„Sie werden mir jetzt auf jede Frage die Wahrheit antworten, Bellamy“, befahl Roy erneut.
„Ja, Sir.“
„Vorhin haben Sie es nicht getan, stimmt’s?“
„Nein.“
„In welcher Etage liegt das Appartement der Ministerin?“
„In der obersten.“
„Wie viele Appartements gibt es dort?“
„Sechs.“
„Außerdem noch Einzelzimmer?“
„Nein.“
„Welches der sechs Appartements ist das der Ministerin?“
„Die nordöstliche Ecksuite, Sir.“
In diesem Appartement hatte sich am Abend zuvor tatsächlich jemand aufgehalten.
„Verfügt dieses Minister-Appartement über einen offenen Kamin?“
„Ja, Sir“, antwortete der Auror.
„Die Ministerin war gestern Abend zu Hause?“
„Ja.“
„Und Sie haben sich vergewissert?“
„Ja, allerdings wie jeden Abend um halb zehn.“
„Wer außer der Ministerin betritt das Appartement noch?“
„Die Reinigungskräfte.“
„Immer um dieselbe Zeit?“
„Jeden Morgen um acht Uhr, da die Ministerin normalerweise kurz vor acht ins Büro geht.“
„Wie lange brauchen sie dort?“
„Nie mehr als fünf Minuten. Die Ministerin ist von sich aus sehr ordentlich.“
„Sonst betritt niemand die Wohnung?“
„Nein, Sir.“
„Sagen Sie, Bellamy, wie haben Sie es vorhin eigentlich geschafft, sich meinem Imperius zu entziehen?“
„Ich stand unter einem Schutzimperius, Sir.“
„Was ist das denn?“, fragte Roy ebenso verdutzt wie interessiert.
„Eine abgeschwächte Form des Imperiusfluchs“, entgegnete der Auror. „Zu schwach, um jemandem Befehle zu erteilen, aber stark genug, um den Imperiusfluch eines Dritten zu verhindern.“
„Eine Art Impfung?“, wollte Roy wissen.
„Kann man so sagen. Cesar Anderson hat diesen Schutzimperius entwickelt und eingeführt.“
„Was für ein Jammer“, spottete Roy, „dass Anderson sich für seine Kreativität kein anständiges Betätigungsfeld gesucht hat. Und mein Anti-Imperius hat den Schutzimperius dann aufgehoben?“
„Ja.“
„Werden alle Ministeriumsleute mit dem Schutzimperius geimpft?“
„Bisher nur Auroren, und unter diesen zunächst nur diejenigen, die direkt mit dem Schutz des Ministeriums oder der Ministerin zu tun haben, außerdem die Ministerin selbst. Die Einführung für sämtliche Auroren ist allerdings vorgesehen, falls der Schutzimperius sich bewährt, Sir.“
„Wovon im Moment wohl nicht die Rede sein kann“, schloss Roy trocken. „Es ist gut, Sie werden Ihre Frau und Ihre Kinder wiedersehen und wiedererkennen, Bellamy. Sie werden sich jetzt schlafen legen und alles vergessen, was Sie zwischen dem Verlassen des Gästehauses und dem Aufwachen erlebt haben.“
„Ja, Sir.“
Roy hob die Schutzzauber um die Wohnung auf und verließ sie, während der Auror sich schlafen legte. Es war kurz nach halb acht.
Als Möwe durch den Kamin zu purzeln und zunächst wehrlos zu sein, solange Hermine noch zu Hause war, war zu riskant. Wenn sie gegangen war, musste er abwarten, bis auch die Putzzauberer ihre Arbeit getan hatten. Daher frühstückte er zunächst einige Querstraßen weiter, denn er wusste nicht, wie viel Zeit er in der Ministerwohnung würde verbringen müssen.
Gegen Viertel nach acht verließ er das Frühstückslokal, verwandelte sich wieder in die Silbermöwe und flog zum Gästehaus zurück. Es war nicht ganz risikofrei, sich am helllichten Tage in den Kamin der Ministerin hinabgleiten zu lassen, schließlich konnte er gesehen werden. Roy hatte erwogen, aber wieder verworfen, die Dunkelheit abzuwarten. Er wollte nicht mehr warten!
Er flog den fraglichen Schornstein an, setzte sich nur für einen Sekundenbruchteil an dessen Rand und ließ sich hineinrutschen. Unsanft, aber unverletzt landete er auf den Ascheresten eines erkalteten offenen Kamins, hüpfte in die Suite und verwandelte sich wieder in einen Menschen.
Der Vielsaft, den er am Morgen zuvor eingenommen hatte, hatte seine Wirkung inzwischen verloren, Hermine würde ihn erkennen. Sie sollte ihn auch erkennen! Sie sollte wissen, wer sie tötete und warum!
Roy sah sich um. Dass es die Wohnung einer Frau war, war offensichtlich, aber war es auch wirklich die von Hermine? Als er im Kleiderschrank unter anderem drei scharlachrote Businesskostüme und in einer Schublade Hermines alten Zauberstab aus Weißdorn fand, den Harry beschrieben hatte, hatte er Gewissheit.
Roy stellte einen Stuhl in diejenige Ecke des Wohnzimmers, die von der Tür verdeckt werden musste, wenn Hermine hereinkam. Sie würde ihn erst sehen, wenn es für sie zu spät war.
Er vermutete, dass sie nicht vor abends nach Hause kommen würde, und dann bei ihrer berüchtigten Arbeitswut eher spät als früh. Aber wer weiß? dachte er. Da sie es nicht weit hat, kommt sie vielleicht auch einmal zwischendurch zurück, um sich frischzumachen.
Er würde jederzeit bereit sein. Das Wettrennen mit Harry glaubte er jedenfalls gewonnen zu haben. Halb neun. Er konnte warten.
***
Draco apparierte im Ministerium um zehn vor halb acht und damit etwas früher als sonst, um seinen beiden winzigen Mitreisenden Gelegenheit zu geben, auf Percy umzusteigen, der, wie jeden Morgen, um sieben Uhr neunundzwanzig die Eingangskontrollen passierte und den Ministeraufzug bestieg, nicht ahnend, dass er von seinem Schwager und seinem Neffen begleitet wurde, die es sich in Fliegengestalt auf seinem Umhang bequem gemacht hatten.
Als Percy die Vorlagenmappe auf Hermines Schreibtisch legte, wussten Harry und Albus, die über diesem Schreibtisch an der Decke hingen, dass es genau zehn vor acht war. Nur noch wenige Minuten.
Hermine apparierte diesmal um Punkt acht Uhr in ihrem Büro, wünschte Percy einen guten Morgen und nahm auf ihrem Chefsessel Platz. Dass sie die Tür zum Vorzimmer offengelassen hatte, war für Albus das Zeichen, zu Percy hinüberzufliegen. Vom Vorzimmer aus behielt er zunächst noch Hermine im Blick.
Er sah seinen Vater hinter ihr wie aus dem Boden wachsen und Hermine, von einem stummen Petrificuszauber gelähmt, erstarren. Alles geschah völlig lautlos. Percy konnte sie – nicht aber Harry – zwar sehen, doch bevor ihm ihre Starre auffallen konnte, hatte Albus sich schon hinter ihn gesetzt und sich lautlos wieder in einen Menschen verwandelt.
„Stupor!“
Der rote Blitz aus Albus‘ Zauberstab traf Percy am Kopf, woraufhin dessen Oberkörper auf den Schreibtisch sank. Albus sah Harry grinsend den Daumen heben, warf einen schnellen Blick auf die Karte des Rumtreibers, stellte fest, dass die maulende Myrte nicht in ihrem Klo war und hob seinerseits den Daumen. Dann verwandelte er sich augenblicklich in eine Fliege zurück. Es war vereinbart, dass er nicht nach Hogwarts mitkommen, sondern das Ministerium als Animagus verlassen und dann nach Rockwood Castle disapparieren sollte.
Harry richtete seinen Zauberstab auf Hermines Kopf:
„Imperio.“
Dann hob er den Petrificuszauber auf. Hermine – oder Voldemort in Hermines Gestalt – sah sich verwirrt um.
„Guten Morgen, Potter“, sagte er freundlich.
„Du wirst mit mir disapparieren“, befahl Harry, „und zwar nach Hogwarts ins Klo der maulenden Myrte.“
Voldemort stand auf.
„Halt dich an mir fest, Potter.“ Harry ergriff Hermines Arm, Voldemort drehte sich, dann sah Albus sie beide disapparieren.
Er selbst machte es sich über der Vorzimmertür bequem. Über kurz oder lang musste jemand hereinkommen und feststellen, dass die Ministerin verschwunden und ihr persönlicher Referent geschockt war, und bei dem dann entstehenden Durcheinander würde niemand auf eine Fliege achten, die den Raum und das Ministerium verließ. Albus atmete nicht auf – als Fliege hatte er keine Lungen –, aber er war erleichtert. Alles war glattgegangen.
„Hilfe, Cesar!“, schrie Voldemort mit Hermines Stimme, und schlagartig wurde Harry klar, dass sie nicht in Hogwarts, sondern im Büro des Amasi-Chefs appariert waren. Sein Imperiusfluch hatte versagt!
Anderson feuerte blitzartig einen Schockzauber auf Harry, der durch eine Reflexbewegung gerade noch ausweichen konnte.
„Alarm!“, brüllte Anderson mit verstärkter Stimme, während er und Voldemort ihre Zauberstäbe auf Harry richteten. Harry konnte sie nicht beide gleichzeitig ausschalten. Er hechtete auf den Gang hinaus, wobei zwei weitere Schockzauber ihn knapp verfehlten. Gleich würden Auroren herbeieilen. Er hatte keine Zeit, sich in eine Fliege zu verwandeln, er musste weg! Harry rannte die paar Meter zum Ministerbüro und schaffte es gerade noch hineinzuschlüpfen. Er schlug die Tür hinter sich zu.
„Imperturbatio!“, schrie er, während Albus sich wieder in einen Menschen verwandelte.
„Was ist passiert, Papa?“
„Sie ist bei Anderson appariert“, antwortete Harry hastig, während er in Windeseile Decke, Wände und Boden des Vorzimmers gegen Sprengzauber sicherte.
„Sie kann im Ministerium frei apparieren?“
„Ich wusste es auch nicht.“
„Ja, aber Papa, dann kann sie doch auch hier wieder apparieren!“, schrie Albus – und beide schraken zusammen, als sie Hermines Stimme hinter sich hörten:
„Du sagst es, Albus! Expelliarmus!“ Die Zauberstäbe wurden ihnen aus den Händen gerissen.
„Incarcerus!“ Augenblicklich lagen Harry und Albus, verschnürt wie Pakete, auf dem Boden, und ein „Realcorpus!“, erstickte im Keim ihren Versuch, sich wieder in Fliegen zu verwandeln.
Voldemort richtete sie mit einem Zauber halb auf, schob sie gegen eine Wand, sodass sie sich dagegen lehnen konnten, und sah grinsend auf sie hinab.
„Danke für den Imperturbatio“, spottete er, „so sind wir ungestört in unserer Dreisamkeit. Du lernst es nicht, Potter, was? Kaum dem Henker entwischt und schon wieder abenteuerlustig! Allmählich solltest du wissen, dass Cesar dir immer eine Nasenlänge voraus ist. Vielen Dank übrigens“, höhnte er, „dass du mir diesen hervorragenden Personenschützer zur Seite gestellt hast.“
„Keine Ursache“, knurrte Harry. „Warum hast du ihn nicht mitgebracht?“
„Ach, weißt du, Potter – das, was ich jetzt tue, braucht Cesar nicht zu sehen. Es wird wie ein glatter Fall von Notwehr aussehen. Und diesmal benutze ich keinen Zauberstab.“
Während ein kalter Schauer durch Albus‘ Körper fuhr, ging Voldemort an Hermines Schreibtisch und entnahm einer Schublade einen langen, spitzen Gegenstand, den er grinsend hochhielt. Einen Basiliskenzahn.
„Den haben wir in Askaban sichergestellt“, sagte er. „Bevor du stirbst, Potter, darfst du noch zusehen, wie ich ihn deinem Sohn ins Herz bohre.“ Während er – gemächlich, um die Situation auszukosten – auf Albus zuging, schienen sich für diesen die Sekunden zu dehnen, die ihn noch vom Tod trennten.