Um neun Uhr – der Anwalt hatte sich gegen acht verabschiedet – saß Ginny über dem Brief an ihre Söhne, als sie jemanden vor dem Haus apparieren hörte und es an der Tür klingelte. Es war Ron, kreidebleich. Die Geschwister fielen sich in die Arme.
„Ginny, ich kann nichts dafür“, schluchzte Ron, „ich habe alles versucht. Als sie nach Hause kam, habe ich sie sofort zur Rede gestellt, aber sie ist völlig verbohrt…“
„Ich weiß“, meinte Ginny, „komm erst einmal herein.“
„Ich habe einen Entschluss gefasst“, sagte Ron, als er auf Ginnys Sofa saß. „Ich weiß noch nicht, ob ich mich scheiden lasse, aber in jedem Fall werde ich mich von Hermine trennen.“
„Das wirst du nicht tun!“, entgegnete seine Schwester streng. „Du wirst bei ihr bleiben, koste es, was es wolle, und du wirst sogar besonders lieb zu ihr sein. Sie braucht dich jetzt mehr als je zuvor.“
Ron starrte Ginny an, als sei sie nicht ganz bei Trost.
„Du machst dir Gedanken darüber, was Hermine braucht? Hast du jetzt keine anderen Sorgen?“
„Doch“, antwortete Ginny, „aber die Sorge um Hermine war der Grund, aus dem Harry sich überhaupt in diese Situation gebracht hat. Er hat versucht, dich herauszuhalten, aber beim jetzigen Stand solltest du einige Dinge wissen.“
Sie erzählte ihm von dem Fluch, von Odysseus und der Tonaufzeichnung. Ron hörte mit offenem Mund zu.
„Verstehst du jetzt, warum du bei ihr bleiben musst?“, schloss sie ihre Erzählung. „Das, was dir als ‚Hermine‘ gegenübertritt, ist nicht Hermine, höchstens ein blasses Abbild. Ihre wirkliche Seele, ihr wahres Ich, ist in ihr selbst eingemauert und todkrank, spürt aber die Anwesenheit der Menschen, die sie lieben. Wahrscheinlich lebt sie überhaupt nur noch von dieser Liebe. Und weil der, der sie kontrolliert, das weiß, versucht er dich aus ihrem Leben hinauszugraulen, genau wie er Harry, Albus und mich daraus vertrieben hat.“
„Mein Gott“, sagte Ron, „jetzt geht mir ein ganzer Kronleuchter auf! Das erklärt alles, ihre diktatorische Politik, Harrys Entlassung, ihre Streitsucht zu Hause… Aber verdammt nochmal, warum hat Harry mir denn nichts gesagt? Ich hätte sie doch viel leichter entführen können als er!“
„Hättest du es auch getan? Ich meine vor dem heutigen Tag?“, fragte Ginny. „Und selbst wenn: Hätte Harry es wissen können? Sagen wir es deutlich: Was Harry vorhatte, war ein Staatsstreich, der Hermines Karriere beendet hätte, die sie sich in jahrelanger Arbeit aufgebaut hat. Hätte er wirklich darauf bauen sollen, dass du dafür die Verantwortung übernimmst? In jedem Fall hätte er dich in einen Konflikt gestürzt, den er dir ersparen wollte.“
„Das ist ja ganz toll von ihm, aber ich hätte lieber diesen Konflikt ausgestanden, als meinen besten Freund an den Henker zu verlieren.“
„So schnell verlieren wir ihn nicht.“ Das Gespräch mit Greengrass hatte Ginny zuversichtlich gestimmt. Jetzt konnte sie auch Ron in die Strategie einweihen. Es tat ihr gut, nach dem monatelangen Zerwürfnis endlich wieder vertraut mit ihrem Bruder sprechen zu können.
Ron überlegte. „Habt ihr das Versteck noch?“
„Ja“, entgegnete sie verwundert.
„Ist es weit von hier?“
„Es ist die ehemalige Kammer des Schreckens, wenn du es genau wissen willst. Wir haben sie für Hermine zur Luxus-Suite umgebaut. Warum möchtest du das wissen?“
„Nun ja, wer hindert mich daran, sie selbst zu entführen?“
Ginny lächelte. „Niemand. Nur hätte das im Moment nicht viel Sinn, denn was willst du erreichen? Sie als Geisel nehmen, um Harry freizupressen? Selbst wenn es dir gelingen sollte, was alles andere als sicher ist, wäre Harry den Rest seines Lebens auf der Flucht. Oder den ursprünglichen Plan verfolgen und jemand Anderen an ihre Stelle setzen? Wer soll das sein? Ich könnte die private Hermine imitieren, habe aber keine Ahnung von den Abläufen im Ministerium. Sogar Harry muss irgendeinen Fehler gemacht haben. Es käme allenfalls als letztes Mittel in Frage, um Hermine am Urteilsspruch zu hindern, falls der Gamot Harry schuldig spräche, aber ich glaube nicht, dass dann noch Zeit bliebe.“
Ron grübelte.
„Und das Problem, dass Hermine unter einem Fluch steht“, fuhr Ginny fort, „hättest du damit immer noch nicht gelöst, weil du kein Mittel hast, den Fluch zu brechen.“
„Ich werde trotzdem noch einmal darüber nachdenken“, erwiderte Ron. „Es muss irgendeine Lösung geben.“
„Tu das“, meinte seine Schwester. „Aber solange uns nichts wirklich Brillantes einfällt, konzentrierst du dich darauf, Hermines Seele zu streicheln, um sie am Leben zu erhalten. Versprochen?“
Ron konnte nicht mehr antworten, denn in diesem Moment wurde der Raum von blendendem silberfarbenem Licht erfüllt, das von einer großen Kobra ausging.
„Lass dich nicht unterkriegen“, sagte die Schlange. „Dein Mann wird den Dementoren trotzen, das hat er gelernt. Deinen Söhnen geht es gut, sie sind stolz auf dich und ihren Vater. Der Bär hat die Schlangen ausgeschickt. Entspann dich und geh morgen Abend in den Zoo.“
Die Schlange verschwand.
Ron starrte auf die Stelle, an der eben noch die Schlange gewesen war.
„Ein Patronus“, stammelte er und sah nicht besonders schlau aus.
„Klug erkannt“, strahlte Ginny ihn an.
„Ja, aber wessen Patronus? Ich meine, wer zur Hölle hat eine Schlange…“
Er unterbrach sich, weil er merkte, dass seine Schwester sich über ihn amüsierte.
„Eine Schlange, ja, ich kann mir schon denken, dass es ein Slytherin ist…“
Ginny nickte, und der glühende Stolz in ihrem Gesicht brachte Ron schließlich auf die richtige Spur:
„Albus?“, fragte er fassungslos. Und da sie wieder nickte: „Al kann einen gestaltlichen Patronus erzeugen? Mit elf?“
„Sein Vater hat es ihm beigebracht.“
„Harry? Wann und wo hat er das denn gemacht?“
„Vor zwei Monaten in Hogwarts. Und weil das außer ihm und den Unbestechlichen niemand weiß, hat Albus seine Botschaft so formuliert, dass für einen Außenstehenden nicht ohne Weiteres klar ist, dass der Patronus von ihm kommt. Er konnte ja nicht wissen, wer möglicherweise anwesend ist und mithört. Deshalb auch die verschlüsselte Sprache.“
„Was soll denn das heißen“, fragte Ron ratlos, „der Bär hat die Schlangen ausgeschickt?“
„Der Bär ist Roy MacAllister, die Schlangen sind die Slytherins. Sie werden uns in irgendeiner Weise helfen, ich weiß allerdings noch nicht, wie. Um das zu erfahren, gehe ich morgen Abend in den Zoo.“
„In den Zoo?“, fragte Ron verwirrt.
„Zu den Unbestechlichen.“
„Die ‚Unbestechlichen‘ – das sind doch die…“
„… die deine Tochter freundlicherweise die ‚führenden Todesser des Hauses Slytherin‘ nennt. Albus ist einer von ihnen, er ist stolz darauf, und wir sind es auch.“
„Merkwürdige Freunde, die ihr da habt…“
„Nicht so merkwürdig wie deine Ehefrau.“
Sein Versprechen, unbedingt an Hermines Seite zu bleiben, konnte Ron nicht erfüllen. Als er spät in der Nacht nach Hause zurückkehrte, fand er einen kurzen Brief seiner Frau vor. Sie hatte ihre Sachen gepackt und war ins Gästehaus des Ministeriums gezogen. Ihren Sohn Hugo ließ sie zurück.
Gegen Ende des Dialogs muss es heißen „die deine Frau…“ und nicht „die deine Tochter…“. Sehr spannend geschrieben mit raffinierten Analogien zu aktuellen Zeitläuften.
Danke für den Hinweis (undnatürlich für das Lob), aber „Tochter“ ist korrekt: Es handelt sich um eine Anspielung auf Roses Bemerkung vom Weihnachtstag.