Am folgenden Vormittag saß Anderson zur täglichen Lagebesprechung im Büro der Ministerin und informierte sie ausführlich über den Bericht, den Wilkinson am Morgen durchgegeben hatte.
„Wenn das stimmt“, schloss er seine Ausführungen, „und ich habe keinen Zweifel daran, dann haben wir es mit einer großangelegten Verschwörung mit dem Ziel zu tun, Sie zu ermorden, um einen Umsturz herbeizuführen, und die Drahtzieher müssen hier im Ministerium sitzen.“
„Aber konkrete Hinweise, wer es sein könnte, haben Sie nicht?“, wollte Hermine wissen.
Anderson schüttelte den Kopf. „MacAllister und seine Jungs kennen ihre Kontaktperson wohl selber nicht. Ein Teil ihrer Diskussion bezog sich darauf, dass es sich um eine Falle handeln könnte, die ich ihnen stelle.“
„Verdammt ausgeschlafene Bürschchen“, murmelte Hermine. „Und wie wollen sie dieser vermeintlichen Falle entgehen?“
„Sie haben dem Unbekannten gegenüber ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit bereits erklärt und intern beschlossen, auch den Anschlag durchzuführen – vorausgesetzt, er gibt sich persönlich zu erkennen, statt, wie bisher, durch magisches Briefpapier Kontakt zu halten. Das heißt, sie wollen ihn in der Nähe von Hogwarts treffen. Dabei soll er ihnen auch seine genauen Pläne offenlegen.“
„Und bei dieser Gelegenheit nehmen wir sie alle hoch“, ergänzte Hermine.
„Nicht unbedingt. Wir erfahren, wer ihr Kontaktmann im Ministerium ist. Er muss nicht unbedingt der Kopf der Verschwörung sein, aber wir können ihn von da an observieren, um seine Mitverschwörer zu identifizieren. Außerdem erfahren wir, wie der Anschlag genau vonstattengehen soll, und können geeignete Gegenmaßnahmen treffen. Zuschlagen werden wir aber erst, wenn wir das ganze Verschwörernetz kennen. Erst wenn wir sicher sind, dass uns keiner durch die Lappen geht, schalten wir das ganze Komplott mit einem Schlag aus!“
„Sehr gut!“
„Bis dahin müssen wir allerdings innerhalb des Ministeriums ermitteln. Ich werde zunächst versuchen, den Kreis der Verdächtigen so einzugrenzen, dass wir sie beobachten können.“
„Gut, Cesar, Sie haben freie Hand, ich verlasse mich auf Sie. Gibt es für heute sonst noch etwas Wichtiges zu besprechen?“
„Ja, in der Tat…“, erwiderte Anderson zögernd, „und es ist ein wenig unangenehm.“
„Nun schießen sie schon los!“
„Ich habe, wie Sie wissen, ein Netz von Zuträgern im ganzen Land aufgebaut, die routinemäßig berichten, wenn etwas Merkwürdiges oder Verdächtiges geschieht. Einer von ihnen hat sich jetzt gemeldet. Er arbeitet bei einem Flugbesenhersteller. Dieser Mann berichtet, dass eine Firma, die bisher noch nie solche Besen bestellt hat, vor kurzem nicht weniger als neun Feuerblitze auf einmal geordert hat!“
„Das ist zweifellos eine auffällige Bestellung, Cesar“, antwortete Hermine – in der Tat waren Feuerblitze in der magischen Welt ungefähr das, was in der Muggelwelt Ferraris waren –, „aber muss ich mich als Ministerin dafür interessieren?“
„Ich fürchte ja, und deshalb ist es mir so unangenehm. Dieser ungewöhnliche Kunde ist die Firma Weasleys zauberhafte Zauberscherze.“
Jetzt horchte Hermine auf. „Haben Sie eine Vermutung, was der Zweck dieser Bestellung sein könnte?“
„Es ist natürlich nur Spekulation“, wiegelte Anderson vorsichtig ab, „aber wenn ich vorhätte, Potter zu befreien, würde ich genau solche Besen benutzen.“
„Ron und George“, murmelte Hermine gedankenverloren. „Ja, es würde beiden ähnlich sehen. Andererseits – vielleicht planen sie auch nur eine spektakuläre Werbeaktion oder so etwas…“ Hermine überlegte einen Moment, dann fixierte sie wieder ihren Geheimdienstchef. „Trotzdem sollten wir der Sache auf den Grund gehen, und ich vermute, Sie möchten für Ermittlungen gegen die Firma meines Mannes meine ausdrückliche Genehmigung?“
Anderson nickte.
„Sie haben sie.“
Damit war die Unterredung beendet. Anderson kehrte in sein Büro zurück.
„Rebecca“, befahl er seiner Sekretärin, „bringen Sie mir sämtliche Dossiers über die Kunden von Magic Luck.“
Magic Luck war eine berüchtigte magische Spielhölle, deren Inhaber Grimbuck, ein Kobold, früher für die Gringotts-Bank gearbeitet hatte. Gerüchten zufolge war er wegen der Veruntreuung von Kundengeldern entlassen worden, aber da die Kobolde gegenüber dem Ministerium eisern schwiegen, lag nichts gegen ihn vor, als er sich um die Erteilung einer Spielbank-Konzession bemühte. Das Ministerium hatte ihm die Konzession unter der Auflage einer strengen Gewinnbeschränkung erteilt.
Leider hielt er sich nicht an die Auflage. Zu der Zeit, als Hermine das Amt für Magische Sicherheit gründete, waren die Auroren Grimbucks betrügerischen Spielmanipulationen auf der Spur, mit denen er die Kunden seines Casinos um phantastische Summen geprellt hatte. Seine überfällige Verhaftung wurde indes im letzten Moment von Anderson verhindert, der den Fall kraft seiner Sondervollmachten der Abteilung für Magische Strafverfolgung entzog und dem Amt für Magische Sicherheit übertrug – sehr zum Verdruss der Auroren, die sich dadurch um die Früchte eines ganzen Jahres zäher Ermittlungen gebracht sahen.
Vor die Wahl gestellt, mit dem Geheimdienst zu kooperieren und sich weiterhin bereichern zu dürfen – nicht ohne einen Obolus an die Schwarzen Kassen des Amasi abzuführen – oder auf etliche Jahre in Askaban zu landen, entschied Grimbuck sich für die Zusammenarbeit und lieferte Anderson Dossier um Dossier über auffällige, vor allem spielsüchtige Kunden. Anderson brauchte die einzelnen Dossiers nur zu überfliegen, um sich diejenigen Details herauszupicken, die ihm vielleicht noch einmal von Nutzen sein konnten. Für Informationen dieser Art hatte er ein schier unerschöpfliches Gedächtnis.
Jetzt erinnerte er sich daran, dass unter seinen Dossiers auch das eines Buchhalters gewesen war…
Darius Green war ein unbescholtener Bürger des Magischen Staates, glücklich verheiratet, Vater zweier Kinder, ein beliebter Nachbar, dem man bedenkenlos die Schlüsselzauber anvertraute, wenn man in Urlaub disapparierte, ein korrekter Buchhalter, der das volle Vertrauen seiner Chefs genoss. Dass er ein Doppelleben führte, wusste niemand. Fast niemand.
Als er am späten Nachmittag das Gebäude seiner Firma durch den Seiteneingang für Angestellte verließ und auf die Winkelgasse hinaustrat – direkt aus dem Firmengebäude zu disapparieren, war wegen der dortigen Schutzzauber nicht möglich – sprach ihn ein unauffällig wirkender Mann an.
„Mister Green?“
„Ja, bitte?“
„Edward Saunders“, stellte der Mann sich vor. „Ich bin Auror.“
Green warf einen flüchtigen Blick auf den Ministeriumsausweis.
„Was kann ich für Sie tun, Sir?“
„Würden Sie mich bitte ins Ministerium begleiten? Es gibt einen Sachverhalt zu klären.“
Green, der noch nie mit einem Auror zu tun gehabt hatte, spürte, wie ihm heiß wurde. „Das kommt mir jetzt sehr ungelegen… Darf ich fragen, worum es geht?“
„Fragen dürfen Sie“, antwortete der Auror mit leiser Ironie. „Die Antwort bekommen Sie vor Ort. Würden Sie bitte meinen Arm berühren?“
Sich einem Auror zu widersetzen, kam für Green selbstverständlich überhaupt nicht in Betracht. Er berührte Saunders‘ Arm, und Sekunden später standen beide im Atrium des Ministeriums, aus dessen Durchgangsschleusen zahlreiche Beamte in den wohlverdienten Feierabend strömten.
Der Auror führte Green in einen Aufzug, und Green stellte beklommen fest, dass er ohne Halt in die Ministeretage fuhr. Der Ansage im Lift entnahm er, dass in dieser Etage auch das Amt für Magische Sicherheit untergebracht war. Er schluckte.
Kurze Zeit später saß er Cesar Anderson gegenüber, der sich lässig in seinem Chefsessel zurücklehnte, in einer Akte blätterte und mehrere Minuten lang so tat, als bemerke er seinen Besucher gar nicht. Plötzlich, scheinbar immer noch in die Akte vertieft, begann er zu sprechen:
„Sie heißen Darius Malcolm Green, geboren am 18. Juni 1982 in London, verheiratet, zwei Kinder, seit 2012 Buchhalter bei Weasleys zauberhafte Zauberscherze?“
„Das ist richtig, Sir.“
Nun sah Anderson ihn an:
„Verdienen Sie gut in Ihrem Job?“
„Nun, äh – man hat sein Auskommen, Sir.“
„Gehören zu dem Auskommen auch Einkommen, die Sie an der Steuer vorbeigeschmuggelt haben?“
„Ich muss doch sehr bitten, Sir! Selbstverständlich nicht!“, rief Green, ehrlich empört.
„Beruhigen Sie sich, Mister Green, ich glaube Ihnen.“ Anderson ließ ihn ein wenig zappeln und betrachtete ihn ungefähr wie eine Schlange das vor ihr zitternde Kaninchen, bevor er zuschlug: „Gerade deshalb muss ich mich aber fragen, woher die zwanzigtausend Galleonen stammen, die Sie in nur drei Monaten bei Magic Luck verzockt haben. Nun?“
Green fing sichtbar an zu schwitzen.
„Äh… Sir, ich hatte Ersparnisse…“ stammelte er.
„Hatten Sie nicht. Wir haben Ihren Hintergrund durchleuchtet.“
„Wie können Sie…“ Er geriet in Panik. „Das Bankgeheimnis…“
„Sie wissen, dass ich kein normaler Auror bin, Mister Green?“
„Nein, Sie leiten das Amt für Magische Sicherheit, ich weiß.“
„Dann sollte Ihnen klar sein, dass es für mich keine Geheimnisse gibt, schon gar keine Bankgeheimnisse.“
Green konnte nicht wissen, dass Anderson nur bluffte, Gringotts war sogar für ihn eine uneinnehmbare Festung. Er hatte es aber in nur wenigen Monaten geschafft, seinem Geheimdienst in den Augen der Öffentlichkeit eine Aura von Allwissenheit zu verschaffen, die auf jeden Bürger einschüchternd wirken musste.
„Ich, äh, ich hatte meine Ersparnisse zu Hause.“
„Zwanzigtausend Galleonen unterm Kopfkissen? Wo sie keine Zinsen abwerfen? Sie als Buchhalter?“, höhnte Anderson.
„Ohne meinen Anwalt sage ich überhaupt nichts mehr!“, rief Green verzweifelt.
„Der Anwalt wird Ihnen wenig nützen, wenn ich die Herren Weasley über Ihre teure Freizeitgestaltung informiere und die sich mit Unterstützung der Magischen Strafverfolgung in Ihre Bücher vertiefen!“
„Bitte, Sir… Ich wollte es zurückgeben…“
Anderson grinste. Er hatte ins Blaue gezielt und ins Schwarze getroffen.
„Das sagen sie alle.“
„Bitte nicht, Sir! Ich verliere meine Stellung, ich bin ruiniert, wenn…“
„Nun, Mister Green, ich bin, wie ich schon sagte, kein normaler Auror. Ich kann die Justiz einschalten, ich muss aber nicht. Im Grunde hängt es ganz von Ihrem Verhalten ab.“
In seiner Panik griff Green sofort nach dem Strohhalm: „Bitte, Sir, was muss ich tun?“
„Mir wahrheitsgemäß alles berichten, was in Ihrer Firma vor sich geht.“
„Muss das sein, Sir? Die Weasleys waren immer gut zu mir…“
„Was Sie nicht gehindert hat, ihnen in die Kasse zu greifen“, spottete Anderson. „Aber bitte, wenn Sie nicht wollen…“
„Doch, doch“, beeilte Green sich zu versichern. „Ich werde Ihnen alles sagen, was Sie wissen möchten.“
„Sehr schön. Und versuchen Sie gar nicht erst, mich hinters Licht zu führen. Einige Dinge wissen wir bereits, und daher merke ich auch, wenn Sie mir etwas verschweigen! Wenn Sie das tun, ist Ihre Akte schneller bei der Magischen Strafverfolgung, als Sie brauchen, um ‚Unterschlagung‘ zu sagen!“
„Ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß, Sir.“
„Sehr klug. Nun, hat die Firma in letzter Zeit auffällige Bestellungen aufgegeben?“
„Äh, auffällige Bestellungen, Sir?“
„Spielen Sie nicht den Papagei und langweilen Sie mich nicht!“, donnerte Anderson ihn an. „Ja oder nein?“
„Ja, Sir“, bestätigte der eingeschüchterte Buchhalter. „Neun Feuerblitze. Ich habe Ron Weasley gefragt, wozu wir die brauchen, wir führen doch gar keine Flugbesen, aber Mister Weasley meinte, das sei nicht mein Problem. Er ist in letzter Zeit ziemlich barsch, müssen sie wissen – die Trennung von seiner Frau…“
„Ich weiß“, unterbrach ihn Anderson. „Was noch?“
„Eine ungewöhnlich große Menge an peruanischem Finsternispulver. Wir kaufen das regelmäßig ein, aber diesmal war die Charge doppelt so groß wie sonst. Ich wollte aber nicht mehr fragen.“
Anderson speicherte auch diese Information in seinem Gedächtnis ab.
„Weiter?“
„Sonst nichts, Sir, also keine auffälligen Bestellungen. Aber andere Dinge waren seltsam.“
Anderson hörte es mit Genugtuung. Seine Quelle begann richtig zu sprudeln. „Und zwar?“
„Zwei, wie soll ich sagen, Konferenzen, an denen fast die gesamte Familie Weasley teilnahm.“
„Wann?“
„Eine am 18. Januar und eine gestern, also am 31., und jeweils neun Uhr morgens. Und sie sicherten beide Male die Tür durch einen Imperturbatio-Zauber. Als sie herauskamen, konnte ich aber zumindest sehen, wer dabei war.“
„Wer?“
„Moment, das waren“, – er überlegte –, „Arthur, Molly, Bill, Charlie und Fleur Weasley, dazu natürlich Ron und George Weasley, und Ginny Potter.“
Andersons Gesicht blieb undurchdringlich.
„Konnten Sie irgendetwas von ihrem Gespräch hören?“
„Nein, Sir, die Tür war, wie gesagt, durch einen Zauber geschützt. Ach doch, beim Herauskommen gestern sagte Ginny Potter zu den anderen: ‚Wir sehen uns Mittwoch‘.“
„Wo fanden diese Zusammenkünfte statt?“
„Beide im Büro von Ron Weasley, Sir.“
„Haben Sie Zugang zu diesem Büro?“
„Nicht allein, aber ich bin jeden Montag, Mittwoch und Freitag zur Geschäftsbesprechung dort.“
„Immer zur selben Uhrzeit?“
„Elf Uhr vormittags.“
Anderson lehnte sich zurück und sah zunächst sinnend zur Decke. Dann fixierte wieder er seinen Gesprächspartner.
„Guuuut“, sagte er schließlich gedehnt. „Dann erledigen wir zunächst eine kleine Formalität.“
Anderson schob Green das gleiche Verpflichtungsformular über den Tisch, das auch schon Wilkinson hatte unterschreiben müssen. Green, der keine andere Wahl zu haben glaubte, unterschrieb.
„Na dann“, – Anderson erhob sich und reichte Green die Hand, als hätten sie beide soeben ein Bombengeschäft gemacht –, „auf gute Zusammenarbeit!“
Green sah aus wie jemand, der zu lächeln versucht, nachdem er in eine Zitrone gebissen hat.
„Ja, Sir“, seufzte er schicksalsergeben.
„Ich muss Sie wohl ein wenig motivieren, Green? Also: Wenn Sie Ihren ersten Auftrag ordentlich erledigt haben, wird das Amt sich erkenntlich zeigen.“
„Erkenntlich?“
„Ich glaube, tausend Galleonen wären für den Anfang ein gutes Honorar, finden Sie nicht auch?“
„O ja, Sir, vielen Dank, Sir! Und wie lautet der Auftrag?“
„Hören Sie zu…“