Zur selben Zeit, als die Malfoys über ihr weiteres Vorgehen beratschlagten, lächelte Albus in der großen Halle verträumt vor sich hin. Vor ihm lag der Tagesprophet, der auf Seite 1 mit der Resolution der Gryffindors samt allen Unterschriften aufmachte.
„Nanu, Albus?“ Roy hatte sich neben ihm aufgebaut und grinste fast von einem Ohr zum anderen. „Ich dachte, ich müsste dich nach dem hier“ – er deutete auf den Tagespropheten – „erst wieder aufbauen, stattdessen schaust du drein, als wäre gerade Weihnachten.“
„Sowas Ähnliches“, strahlte Albus ihn an. Und da Roy fragend die Brauen hob: „Sie hat nicht unterschrieben!“
„Wer?“
„Rose. Rose Weasley! Sie hat nicht unterschrieben! Obwohl sie damit nicht nur ihr Haus, sondern sogar ihre Mutter gegen sich aufbringt! Hermine wird toben, wenn sie das liest!“, rief er glückselig. Dann stutzte er: „Und was ist mit dir, Roy? Du siehst auch aus, als ob gerade Weihnachten wäre.“
Roy lachte: „Auch sowas Ähnliches!“
Albus war in Gedanken schon wieder bei Rose. „Ich bin so stolz auf sie, sie ist so mutig – ich könnte sie küssen!“
„Tu dir keinen Zwang an“, meinte Roy grinsend. „Da kommt sie gerade!“
Albus fuhr herum, aber sein glückliches Strahlen fiel in sich zusammen, als er Rose sah. Sie war nicht so bleich und verweint wie gestern und am Sonntag, aber sehr ernst. Nach Küssen war ihr jetzt bestimmt nicht zumute.
„Es ist passiert!“, sagte sie, setzte sich zu Albus und legte zwei Briefe auf den Tisch. „Meine Mama hat meinen Papa verlassen!“
Albus fragte „Darf ich?“, und nahm die beiden Briefe: knapp, kühl und sachlich der von Hermine, ausführlich und voller Wärme der von Ron. Dass Ron seiner Tochter einschärfte, Hermine auch in Zukunft ganz oft zu schreiben, rührte Albus besonders.
Sie stützte ihr Kinn auf ihre Hände, starrte ins Leere und schüttelte den Kopf.
„Ich kann nicht einmal weinen, ich fühle mich nur leer – die ganze Zeit seit Weihnachten ist wie ein Alptraum, der immer schlimmer wird. Und ich wache einfach nicht auf!“ Sie sah zu Albus und lächelte schwach. „Na gut, ab und zu schon. Wenn du da bist.“
Albus nahm ihre Hand in seine.
***
Es war schon abends viertel nach sieben, als sich die Tür des Geheimraums öffnete, in dem die Unbestechlichen auf Ginny warteten. Sie zogen reflexartig ihre Zauberstäbe, dann erst machte Ginny sich sichtbar.
„Mama, wir dachten, du würdest apparieren!“
„Ich bin schon seit anderthalb Stunden in Hogwarts“, entgegnete Ginny, während sie ihren Sohn kurz umarmte. „Ich habe lange mit James gesprochen, nachher wäre es zu spät gewesen.“ Sie wandte sich an Roy: „Was hast du bis jetzt unternommen?“
„Alle Slytherins haben ihren teils einflussreichen Familien klargemacht, dass wir von ihnen jede Unterstützung erwarten, um Harry freizubekommen. Die Malfoys haben schon umfassende Hilfe zugesagt. Außerdem hat Bernie seinen Vater, den Muggelpremier, bearbeitet, und im Übrigen haben wir Albus den Rücken gestärkt. Und du, was hast du unternommen?“
„Mit dem Anwalt die Strategie besprochen. Wir gehen auf einen glatten Freispruch aus…“
„…den Hermine politisch nicht überleben kann“, ergänzte Roy.
Ginny nickte. In ihrem Blick lag wieder der gewisse stählerne Glanz, den Albus schon einmal an ihr gesehen hatte.
„Der Freispruch ist Plan A“, sagte sie. „Auf den Zaubergamot wird mit allen Mitteln Einfluss genommen. Ich bin zuversichtlich, aber selbstverständlich könnte der Plan auch scheitern. Wir brauchen einen Plan B.“
„Ich nehme an“, fragte Ares, „ein Attentat auf die Ministerin ziehst du immer noch nicht in Erwägung?“
„Nein. Harry würde seines Lebens nicht mehr froh werden, wenn es mit ihrem bezahlt worden wäre.“
„Ich bewundere dich“, sagte Roy, „ich glaube, wenn Arabella in derselben Lage wäre, würde ich auf Menschenleben keine Rücksicht mehr nehmen.“
„Und wenn es zum Beispiel Julians Leben wäre?“, wollte Ginny wissen. „Wenn er unter diesem Fluch stünde?“
Julian half Roy aus der Verlegenheit: „Auch dann würde er es nicht tun. Und ich billige es. Er könnte nicht anders.“
„Gut“, sagte Ginny, „das müsst ihr wissen. Ich bleibe bei meiner Entscheidung und weiß, dass Harry es auch täte. Wir können auch nicht anders.“
„Gut, dass wir darüber gesprochen haben“, meldete sich Orpheus nun schmunzelnd. „Es geht also um eine Gefangenenbefreiung, richtig?“
„Richtig“, bestätigte Ginny. „Kann ich auf euch zählen?“
„Selbstverständlich, was für eine Frage!“, antwortete Roy stellvertretend für Alle.
„Wir wissen nicht wie viel Zeit uns zwischen einem Schuldspruch und der Hinrichtung bleibt“, erläuterte Ginny. Es könnten Wochen, aber auch nur Stunden sein. Wir brauchen einen Plan, der jederzeit aus dem Stand umgesetzt werden kann.“
„Wir brauchen mehr als nur einen Plan“, warf Ares ein. „Wenn wir Pech haben, bleiben uns zwischen einer Verurteilung und der Hinrichtung nicht einmal Stunden, sondern nur Minuten, wenn das Urteil nämlich direkt im Gebäude des Ministeriums vollstreckt wird. In diesem Fall müssen wir die Befreiung direkt aus dem Gerichtssaal versuchen. Einen zweiten Plan, nämlich die Befreiung aus Askaban brauchen wir für den Fall, dass sich bereits vor dem Urteil im Zaubergamot eine Mehrheit für die Verurteilung abzeichnet. In diesem Fall sollten wir das Urteil gar nicht erst abwarten und ihn aus Askaban befreien. Eine Befreiung aus Askaban ist schwierig, aber sicherlich immer noch leichter als direkt aus dem Ministerium.“
„Woher sollen wir wissen, was im Zaubergamot vor sich geht?“, fragte Albus.
„Die Malfoys halten uns auf dem Laufenden“, entgegnete Ginny. „Sie haben zu vielen Mitgliedern Kontakt. Unser Anwalt wird auch gut informiert sein.“
„Das sollte also das geringste Problem sein“, meinte Roy. „Nur werden sowohl Askaban als auch das Ministerium schwer bewacht sein. Um Pläne auszuarbeiten, müssen wir etwas über die Verhältnisse und die Sicherheitsvorkehrungen vor Ort wissen.“
„Was Askaban angeht, kein Problem“, sagte Ares. „Mein Vater war in Askaban, etliche seiner alten Kameraden waren dort, zum Teil sind sie erst vor ein oder zwei Jahren freigelassen worden.“
„Mein Großvater kennt sich auch gut dort aus“, fügte Julian hinzu.
„Gut, dann noch eine Frage“, kam Roy zum nächsten Punkt. „Wir sind ganze sieben Personen. Je nach Plan könnte das genügen oder auch nicht. Wie viele Leute würden sich noch an einer Gefangenenbefreiung beteiligen?“
„Der ganze Weasley-Clan“, erwiderte Ginny, „vor allem jetzt, wo Hermine Ron verlassen hat: meine Eltern, alle meine Brüder außer Percy, außerdem Fleur, James, Victoire… außer mir mindestens neun.“
„Mein Großvater“, ergänzte Julian.
„Mein Vater“, fügte Ares hinzu. „Für so etwas ist er bestimmt zu haben. Außerdem werde ich diskret fragen, wie viele seiner Kumpels mitmachen. Ein Dutzend könnte ich mir schon vorstellen. Am besten fragen wir gleich nach, wenn wir Erkundigungen über Askaban einziehen.“
Ginny sah die beiden zweifelnd an. „Und ihr glaubt wirklich, die alten Todesser helfen uns, ausgerechnet Harry Potter herauszuholen?“
„Warum nicht?“, fragte Ares achselzuckend. „Sie alle hassen das Ministerium, sie alle haben noch ein Hühnchen mit den Dementoren zu rupfen. Außerdem helfen sie Harry nicht. Du hilfst Harry, wir helfen dir, mein Vater hilft uns, und die Todesser helfen meinem Vater. Es könnte höchstens sein, dass sie eine Bedingung stellen.“
„Die da wäre?“, fragte Ginny misstrauisch. Die Aussicht, mit echten Todessern zusammenzuarbeiten, gefiel ihr ungefähr so wie die auf einen Kuhfladen zum Mittagessen.
„Dass auch die noch einsitzenden Todesser befreit werden.“
„Begeistert wäre ich davon nicht“, sagte Ginny, „aber ich werde nicht zulassen, dass mein Mann stirbt, nur um Andere im Gefängnis zu halten.“
„Dann wäre das also geklärt“, fasste Roy zusammen, „Julian und Ares, ihr nehmt Kontakt zu den Todessern auf und holt jede Information über die Bedingungen in Askaban heraus, die ihr bekommen könnt. Nächster Punkt: Das Ministerium.“
„Das übernimmt mein Vater“, antwortete Ginny. „Die Räumlichkeiten kennt er wie seine Westentasche, und was die Sicherheitsmaßnahmen angeht, so weiß er genau, wen er fragen und wem er vertrauen kann. Außerdem könnte ich Draco Malfoy bitten, sich umzuhören, vor allem bei den Slytherin-Kollegen. Am besten wäre es natürlich, einen der Auroren als Informanten zu haben. Ich kenne einige Kollegen meines Mannes, bin aber mit keinem so eng befreundet, dass ich sicher auf ihn zählen würde.“
„Gracchus Barclay vielleicht?“, fragte Arabella.
Ginny schüttelte den Kopf. „Barclay ist bestimmt nicht glücklich über die Entwicklung, aber er ist Beamter bis auf die Knochen und würde nie etwas Illegales tun. Vergesst Barclay. – Ich muss es mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen, vielleicht fällt mir jemand ein.“
„Was wissen wir bisher schon über Askaban?“, wollte Roy wissen. „Kennen wir zum Beispiel die genaue geographische Lage?“
„Mein Mann hat mir einiges über Askaban erzählt“, antwortete Ginny, „weil er manchmal dienstlich dort zu tun hatte. Es liegt vor der schottischen Küste ungefähr fünfzehn Meilen östlich des Fischerdorfs Branness auf einer Insel in der Nordsee…“
„Englische Meilen oder Seemeilen?“, hakte Roy nach.
„Englische Meilen, nehme ich an, Harry rechnet nicht in Seemeilen. Für Muggel ist es nicht zu orten, und ihre Schiffe werden magisch daran vorbeigelotst. Für uns ist es ebenso gut sichtbar wie Hogwarts. Askaban liegt unter einer halbkugelförmigen magischen Schutzglocke, das heißt man kann dort nicht apparieren oder disapparieren, und wer unter einem Unsichtbarkeitszauber in die Schutzglocke eindringt, wird automatisch sichtbar. Flüche oder Zauber von außen prallen an der Schutzglocke ab, aber innerhalb der Glocke kann man sie anwenden.“
„Das sind ja fürs erste gar nicht so wenige Informationen“, nickte Roy zufrieden. „Wie groß ist der Radius der Schutzglocke?“
„Eine Meile.“
„Wenn man dort nicht apparieren kann“, fragte Julian, „wie bringen sie dann ihre Gefangenen hin?“
„Soviel ich weiß, gibt es eine kleine Insel knapp außerhalb der Glocke, auf der sie apparieren. Von dort aus bringen sie die Gefangenen auf einem kleinen Schiff nach Askaban. Das ist jedenfalls das normale Verfahren.“
Roy dachte laut und konzentriert nach: „Wir brauchen die Auskünfte der ehemaligen Gefangenen, um Genaues über das Innere der Festung zu erfahren: die genaue Lage der Zellentrakte, Treppen, Türen und so weiter.“ Er stockte, überlegte einen Moment, dann fuhr er fort:
„Was Wach- und Sperranlagen, die Stärke der Besatzung, mögliche Angriffspunkte und so weiter angeht, also wo es um Schwachstellen für ein Eindringen geht, sind ihre Auskünfte möglicherweise nicht präzise genug, weil sie hauptsächlich im Gebäudeinneren waren. Außerdem dürften ihre Kennnisse veraltet sein. Hermine hat die Dementoren erst vor Kurzem zurückgeholt, ich glaube nicht, dass sie einfach die Dienstvorschriften von vor zwanzig Jahren übernommen haben.“
„Und das heißt?“, fragte Arabella.
„Dass wir uns nicht nur auf Auskünfte aus zweiter Hand verlassen dürfen“, erwiderte Roy. „Wir müssen uns selbst ein Bild machen und die Festung auskundschaften – und zwar so genau wie nur möglich. Das übernehme ich.“
Alle starrten ihn mit offenem Mund an. „Wie willst du das machen?“, wollte Julian wissen. „Aus einer Meile Entfernung wirst du nicht viel sehen, und wenn du mit einem Besen näher heranfliegst, hast du sofort die Dementoren auf dem Hals.
Roy grinste. „Lass mich mal machen.“