42 – Armeen machen mobil

 

Es dauerte Minuten, bis wieder Gespräche in Gang kamen, ernst und gedämpft wie bei einer Beerdigung.

Am Slytherin-Tisch saß Roy mit den Unbestechlichen zusammen und stierte auf den Tagespropheten, ohne den Artikel nochmals zu lesen. Er kannte ihn schon auswendig. Seine beiden geballten Fäuste lagen auf der Zeitung. Er schnaufte vor Zorn.

„Diese Schweine!“, murmelte er. „Diese Schweine, diese Schweine, diese Schweine! Sie können überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür haben, dass Harry sie ermorden wollte, sie behaupten es nur, um…“

Er schwieg. Langsam wich die Wut in seinen Zügen dem Ausdruck konzentrierten Nachdenkens.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Julian.

Roy sah auf. „Als erstes bringen wir unsere Slytherins auf Linie!“

Erst als er aufstand, merkte er, dass sämtliche Slytherins nur darauf gewartet hatten, was die Unbestechlichen tun würden. Nun erhoben sie sich ebenfalls. Schweigend verließen die Slytherins geschlossen die Große Halle, schweigend gingen sie in den Gemeinschaftsraum.

Dort angekommen, legte Roy los:

„Niemand, der Harry Potter kennt, kann auch nur eine Sekunde lang glauben, er habe die Ministerin ermorden wollen! Diese Anschuldigung ist eine Lüge! Der Sinn dieser Lüge erschließt sich aus dem Inhalt von Grangers Notverordnung. Diese Verordnung sieht rückwirkend die Todesstrafe für Taten vor, die zum Tatzeitpunkt nicht mit dem Tod bedroht waren. Sie sieht ferner die Todesstrafe für Taten vor, die an sich geringer bestraft werden und nur dann mit dem Tod geahndet werden sollen, wenn der Täter politische Motive hatte.

Wenn so etwas einmal gemacht werden kann, kann es immer gemacht werden. Niemand wird sich mehr darauf verlassen können, dass das, was in einem Gesetz steht, auch gilt. Es wird immer unter einem politischen Vorbehalt stehen, und jeder Bürger ist dann in Gefahr, wegen geringfügiger oder sogar erlaubter, aber nachträglich verbotener Taten von der Justiz umgebracht zu werden, wenn er der Regierung im Weg steht!

Ein solches Gesetz wäre von der magischen Gemeinschaft unter normalen Umständen niemals akzeptiert worden! Die Mordanklage soll nur dazu dienen, die Empörung der Öffentlichkeit anzustacheln, damit sie es akzeptiert und zulässt, dass Regierungsgegner unter Ausnahmerecht gestellt werden! Ihr werdet sehen: Sie werden den Mordvorwurf gegen Potter stillschweigend fallen lassen, aber das Gesetz, das sie ohne diesen Vorwurf gar nicht hätten durchsetzen können, gibt ihnen die Handhabe, ihn am Ende wegen Hochverrats oder auch wegen Körperverletzung oder ähnlicher Dinge aufs Schafott zu bringen!

Ein Volk, das sich ein solches Gesetz gefallen lässt, hört auf, ein freies Volk zu sein! Wir lassen es uns nicht gefallen!“

Tosender Beifall antwortete ihm. Roy ballte die Faust:

„Erst recht werden wir nicht dulden, dass einer von uns, ein Slytherin, aufgrund eines solchen Gesetzes und durch einen Justizmord seinen Vater verliert!“

Der Gemeinschaftsraum erbebte unter minutenlangem Jubel. Als er endlich abebbte, fuhr Roy fort:

„Wir wissen nicht, was das Ministerium an belastbaren Fakten gegen Potter in der Hand hat. Eines aber wissen wir: Den Vorwurf des Hochverrats, selbst wenn sie ihn in einem formalen Sinne beweisen könnte, kann diese Regierung gar nicht erheben, weil sie selbst eine Regierung von Hochverrätern ist, die man deswegen überhaupt nicht verraten kann!“

Wieder donnernder Jubel. Roy benutzte die Pause, um seinen Zorn in den Griff zu bekommen.

„Jetzt kommt es darauf an“, fuhr er etwas ruhiger fort, „den Spieß umzudrehen: Dieser Prozess, den die Ministerin dazu benutzen will, ihren ältesten und besten Freund zu ermorden, muss ein Prozess gegen Granger selbst werden! Wenn sie mit ihrer Anklage nicht durchkommt, wird sie stürzen! Und sie muss stürzen!“

Bevor der Beifall erneut aufbranden konnte, redete Roy weiter:

„Einer von uns ist durch diesen Staat angegriffen worden! Slytherin muss jetzt wie ein Mann hinter Albus stehen, und damit auch hinter seinem Vater! Und wenn ich ‚Slytherin‘ sage, meine ich nicht nur uns hier in Hogwarts, ich meine auch die Ehemaligen, von denen viele jetzt in einflussreichen Positionen sitzen, zum Teil auch im Zaubergamot, vor dem der Prozess voraussichtlich stattfinden wird. Fast alle sind sie Verwandte von euch. Macht ihnen klar, dass Slytherin eine Position hat, dass sie diese Position verdammt nochmal zu unterstützen haben, und dass es Verrat ist, wenn sie es nicht tun!“

Roy atmete durch, während es zustimmende Zurufe prasselte. Er hatte sich wieder in Rage geredet. Sein Atem ging schwer, seine Lippen zitterten. Arabellas besorgten Blick bemerkte er nicht.

„Das ist das Mindeste, was wir tun können und werden! Aber ich bitte jeden Einzelnen von euch, sich zu fragen, was er noch für Albus tun kann, um ihm jetzt beizustehen, jetzt, wo er diesen Beistand mehr braucht als irgendjemand sonst! Der Sprechende Hut sagt uns jedes Jahr, in Slytherin findet man echte Freunde! Jetzt ist der Zeitpunkt, es zu beweisen! Danke!“

 

***

 

Victoire führte Rose, Albus und James in ein leeres Klassenzimmer. Keiner von ihnen wollte sich setzen. Albus, der immer noch Roses Hand hielt, hatte sich wieder im Griff.

„Wir alle kennen Papa“, begann er, „und wissen, dass er und Hermine füreinander immer wie Geschwister waren. Ich hoffe, keiner von uns glaubt diesen Quatsch mit dem Mordanschlag.“

„Natürlich nicht!“, rief James.

„Nein“, sagte Victoire.

Rose sah Albus lange an, dann schüttelte auch sie den Kopf.

„Nein“, flüsterte sie.

Albus beschloss, den Anderen so weit wie möglich – das heißt, soweit er es konnte, ohne seinen Vater, sich selbst und die anderen Unbestechlichen zu gefährden, vor allem, ohne seine Mitwisserschaft zuzugeben – die Wahrheit über die Hintergründe der Aktion Odysseus zu sagen. Es musste sein! Er nahm Roses beide Hände in seine.

Rose“, sagte er mit leiser, aber fester Stimme, „ich muss dir etwas sagen, was ich dir an sich lieber verschwiegen hätte, um dich nicht noch mehr zu beunruhigen.“

James und Victoire sahen ihn erstaunt an, Rose wirkte verwirrt.

„Was denn?“, fragte sie.

„Als ich dir am Sonntag im Zug versprochen habe, mit deiner Mutter werde alles wieder gut werden, hast du dich über dieses Versprechen gewundert.“

„Allerdings“, meinte sie.

„Es war nicht nur ein gutgemeinter Trostspruch“, fuhr Albus fort. „Du weißt, dass mein Vater als Auror für die Erkennung und Bekämpfung Schwarzer Magie ausgebildet ist.“

Rose nickte mit sich weitenden Augen, während die beiden Anderen gebannt zuhörten.

„Er vermutet schon länger, dass deine Mutter…“ Er stockte. Es Rose gegenüber auszusprechen war schwerer, als er geglaubt hatte. „…dass sie unter einem Fluch steht.“

„WAS?“, riefen Rose, James und Victoire gleichzeitig.

„Sag, dass das nicht wahr ist“, flehte Rose ihn hilflos an.

Albus seufzte. „Dieser Fluch ist der Grund dafür, dass du sie in letzter Zeit kaum wiedererkannt hast. Sie wird von einem fremden Willen kontrolliert.“

Rose sah aus, als würde ihr gleich etwas zustoßen.

Albus“, rief Victoire und rüttelte an seiner Schulter, als wolle sie ihn aus einem Traum wecken, „das… das ist doch nicht möglich!“

„Du hast doch im Tagespropheten diese Notverordnung gelesen“, erwiderte Albus traurig. „Glaubst du wirklich, Hermine, also die wirkliche Hermine, wäre zu so etwas fähig?“

Die drei Anderen schüttelten den Kopf. Albus fuhr fort:

„Am zweiten Weihnachtstag“, sagte er zu James, „während du im Fuchsbau warst, stieß unser Vater auf den Beweis. Und er versprach, diesen Fluch zu brechen.“

Er wandte sich wieder Rose zu:

Deshalb konnte ich dir versprechen, dass Alles gut werden würde. Ich wusste, dass er etwas unternehmen würde, ich wusste nur nicht, was. Ich bin ganz sicher, dass er deswegen ins Ministerium eingedrungen ist: um sie zu retten, nicht, um sie zu töten!“

„Und jetzt, wo er verhaftet wurde“, sagte Rose tonlos, „gibt es keine Rettung mehr…“

Albus zog sie an sich. „Es gibt immer Rettung!“, versuchte er sie zu trösten, doch diesmal schob sie ihn fort.

„Das hast du am Sonntag auch gesagt!“, schrie sie, „und jetzt ist alles schlimmer als vorher!“ Sie warf sich Victoire in die Arme und weinte und schluchzte in tiefster Verzweiflung.

Albus, der zusammen mit James der Szene beklommen zusah, raunte seinem Bruder zu: „Hätte ich es ihr nicht sagen sollen?“

„Dann hätte sie glauben müssen“, raunte James zurück, „ihre Mutter oder ihr Onkel seien Mörder. Verglichen damit ist es doch geradezu tröstlich zu wissen, dass Hermine das Opfer eines Fluches ist, den man vielleicht noch brechen kann.“

Rose brauchte eine ganze Weile, um sich wieder zu beruhigen, während Victoire ihr immer wieder begütigend durchs Haar strich. Schließlich löste Rose sich aus der Umarmung.

„Entschuldige bitte, Al“, sagte sie, „du kannst ja auch nichts dafür. Danke, dass du es mir gesagt hast. Aber was tun wir jetzt?“

„Eigentlich müssten wir Harry aus dem Gefängnis und Hermine von diesem Fluch befreien“, überlegte Victoire. „Hermine befreien können wir aber nicht ohne Harrys Hilfe, weil keiner von uns weiß, wie man Schwarze Magie bekämpft. Wir müssten uns also zuerst darauf konzentrieren, Harry freizubekommen. Siehst du das auch so, Rose?“

Rose nickte, aber man sah ihr an, dass sie auch dem Gegenteil zugestimmt hätte. Zu einem klaren Gedanken war sie momentan nicht fähig.

Victoire seufzte. „Das Problem ist, dass wir völlig machtlos sind. Wir sitzen hier in Hogwarts, während Hermine den ganzen Apparat des Ministeriums auf ihrer Seite hat.“

„Aber ihr seid Gryffindors, genau wie Hermine und Harry!“, rief Albus aufgeregt. „Wenn Gryffindor öffentlich erklärt, dass es die Notverordnung und ihre Anwendung missbilligt…“

Theoretisch war es eine gute Idee. Die besondere Stellung, die Hogwarts im Gefüge der magischen Gesellschaft innehatte, brachte es in der Tat mit sich, dass die Schüler eines Hauses, wenn sie sich einig waren, einen Einfluss ausüben konnten, von dem Muggelschüler nicht einmal träumen würden. Nicht umsonst behielt Hermine Hogwarts stets aufmerksam im Blick und suchte den Zugriff auf die Schule, nicht umsonst scharte Roy in kritischen Situationen stets zuerst seine Slytherins hinter sich.

James und Victoire allerdings tauschten nur wehmütig-mitleidige Blicke.

„Aussichtslos!“, befand Victoire.

„Aber wieso?“, bohrte Albus nach, der eine Idee nicht so schnell aufgab. „Du bist Vertrauensschülerin, und dein Kollege Ethelbert…“

„…wäre wahrscheinlich auch dafür“, unterbrach ihn Victoire, die verstand, worauf Albus hinauswollte. „Nur ist unsere Position in Gryffindor bei weitem nicht mit der vergleichbar, die dein Freund Roy bei den Slytherins hat. Spätestens seit auch Patricia Higrave ihn unterstützt, kommandiert MacAllister praktisch eine Armee. Die Gryffindors sind auch eine Art Armee, aber Hermines Armee, und wir, Ethelbert und ich, können froh sein, wenn diese Armee nicht einfach über uns hinwegtrampelt.“

„Ja, aber ihr habt doch auch den Frieden mit Slytherin durchgesetzt…“

„Ja“, bestätigte Victoire, „aber nur unter Ach und Krach, und seitdem sind wir praktisch täglich damit beschäftigt, fanatische Hermine-Anhänger zu beschwichtigen, die uns deshalb schon als unsichere Kantonisten verdächtigen. Das bisschen Autorität, das ich noch habe, habe ich eigentlich nur, weil ich Hermines Nichte bin.“

Albus starrte sie mit offenem Mund an.

„Du kannst es ihr ruhig glauben“, bestätigte James. „Du machst dir keinen Begriff davon, wie die Gryffindors auf Hermine eingeschworen sind! Und, mal ehrlich, bis vor drei Monaten waren Victoire und ich auch nicht anders. Uns hat erst MacAllister dazu gebracht, darüber nachzudenken, was wir da eigentlich tun. Die meisten Gryffindors aber, vor allem die, deren Meinung bei den Mitschülern zählt, würden bedenkenlos aus dem siebten Stock springen, wenn Hermine es ihnen befehlen würde.“

„Würden sie auch morden?“, fragte Albus beklommen.

James und Victoire wechselten einen schnellen Blick.

„Ich glaube schon“, meinte James.

„Puhhh…“ Das musste Albus erst einmal verdauen.

„Verstehst du jetzt“, fragte Victoire, „warum es völlig utopisch ist, von Gryffindor eine öffentliche Kritik an Hermine zu erwarten? Wir können froh sein, wenn sie sie nicht auch noch anstacheln.“

Albus nickte resigniert. „Dann hat es wohl auch keinen Sinn, ihnen von dem Fluch zu erzählen?“

„Um Gottes willen!“, antwortete James. „Sie würden behaupten, wir würden Hermine verleumden, um Papa herauszuholen.“

Sie schwiegen.

„Ich glaube nicht, dass uns heute noch irgendetwas Vernünftiges einfällt“, sagte Victoire schließlich. „Wir sollten das alles erst einmal sacken lassen und überschlafen.“

Sie verließen das Klassenzimmer, vor dem sich ihre Wege trennten, weil Albus ins Untergeschoss zu den Slytherins musste.

„Noch etwas“, sagte Victoire. „Da ich hier in Hogwarts die Clanälteste bin, bin ich jederzeit für euch da, wenn ihr mich braucht. Das gilt auch für dich, Al!“

„Trotz Slytherin?“, fragte Albus, der trotz allem ein leichtes Grinsen zustande brachte.

„Ich finde immer noch, dass du sehr gut nach Slytherin passt“, erwiderte Victoire lächelnd, „aber heute darfst du es ruhig als Kompliment auffassen.“

„Das mit der Dummbratze tut mir leid“, sagte Albus.

„Mir tut es leid, dass ich wirklich eine war, und mir tun auch die zehn Punkte leid.“

Sie umarmte ihn zum Abschied und küsste ihn auf die Wange – was Albus im Stillen besonders genoss, Victoire war siebzehn und bildschön –, dann umarmten sogar die beiden Brüder sich – eine wirkliche Seltenheit –, und schließlich hielten Albus und Rose sich minutenlang aneinander fest – während James‘ feixendes Grinsen immer breiter wurde.

Albus hatte sich schon zum Gehen gewandt, da rief Victoire noch einmal:

Albus?“

„Ja?“

„Dass du das blöde Grinsen dieses unreifen Früchtchens“ – sie deutete lächelnd auf James – „ignoriert hast, um deine Cousine zu trösten, zeigt Charakter.“

Sie zwinkerte ihm zu. „Zehn Punkte für Slytherin.“

Albus strahlte, winkte ihnen allen noch einmal zu und ging dann zügig Richtung Slytherin-Keller.

Er atmete jetzt leichter. Sein Vater war in Gefahr, aber er war noch nicht verloren, und es brach nicht alles zusammen: Die Familie hielt zusammen, und sie hielt im Zweifel zu Harry, nicht zu Hermine. Albus‘ frisch gekittete Freundschaft mit Rose war nicht zu Bruch gegangen, im Gegenteil. Seine Mutter war nicht verhaftet worden, sonst hätte der Tagesprophet es wahrscheinlich erwähnt. Die Unbestechlichen blieben anscheinend ebenfalls unbehelligt, und Roy, dem würde bestimmt etwas einfallen!

Als er sich dem Eingang zum Gemeinschaftsraum näherte, eilte ihm schon Scorpius entgegen, der offenbar auf ihn gewartet hatte, und sagte ernst:

Albus, du weißt, dass du jederzeit auf meine Unterstützung zählen kannst?“

„Natürlich weiß ich das“, lächelte Albus, „und mir bedeutet auch moralische Unterstützung viel.“

„Das ehrt dich“, meinte Scorpius schmunzelnd, „mir scheint nur, dass du es immer noch nicht begriffen hast: Wenn ich sage, ich unterstütze dich, heißt das, das Haus Malfoy unterstützt dich! Und dabei geht es um mehr als nur moralische Unterstützung. Mach dir um deinen Vater keine Sorgen, meinen Großvater haben wir aus ganz anderen Schlamasseln herausgepaukt! Ich habe meinem Vater schon eine Eule geschickt.“

„Meinst du wirklich, er wird etwas unternehmen?“, fragte Albus, und es klang, als würde er es bezweifeln.

Scorpius wirkte ein wenig gekränkt:

„Noch nie in der achthundertjährigen Geschichte des Hauses Malfoy“, erklärte er würdevoll, „ist es vorgekommen, dass wir einem Freund, der uns brauchte, unsere Hilfe verweigert haben. Und mein Vater wird nicht derjenige sein, der eine solche Unsitte einführt. Selbstverständlich wird er etwas unternehmen!“

Jetzt umarmte Albus ihn.

„Du bist wirklich ein… Pfundskerl. Aber – was könnt ihr da eigentlich tun?“, fragte er.

„Zuerst braucht dein Vater einen erstklassigen Anwalt, den können wir ihm vermitteln. Im Übrigen kennen wir viele wichtige Leute, unter anderem auch Mitglieder des Zaubergamots. Viele sind unsere Freunde. Andere schulden uns einen Gefallen, manche respektieren uns einfach und legen Wert auf unsere Meinung. Nun ja“ – er grinste – „und dann gibt es wieder andere, die nicht unsere Freunde sind, über die wir aber Dinge wissen, die die Öffentlichkeit besser nicht erfahren sollte. Und noch andere, die Geldprobleme haben…“

Er grinste noch breiter.

„Und bedenke“, fügte er hinzu, „wir sind nicht die einzigen. Alle Slytherins stehen hinter dir. MacAllister hat eine Rede gehalten, dass Allen die Spucke wegblieb. Jeder, aber auch wirklich Jeder versucht irgendetwas, um dir zu helfen. Die meisten bearbeiten ihre Familien…“

Sie waren jetzt am Eingang des Gemeinschaftsraums angekommen. Da außer Scorpius niemand da war, drückte Albus den Schlangenkopf.

„Guten Abend, Albus.“ Sogar Cassiopeias Parsel schien Albus heute wärmer und teilnahmsvoller zu klingen als sonst. Sie war eben auch eine Slytherin.

„Guten Abend, Cassiopeia.“

Der Gemeinschaftsraum war rappelvoll, Alle waren da. Manche standen erregt diskutierend herum, viele waren dabei, Briefe zu schreiben. Weiter hinten sah Albus Roy auf Patricia einreden.

Kaum war er eingetreten, kamen auch schon die ersten auf ihn zu, empfingen ihn mit erhobenem Daumen, klopften ihm auf die Schulter, umarmten ihn…

„Kopf hoch!“ – „Lass dich nicht unterkriegen!“ – „Granger wird uns kennenlernen!“

Unter solchen und ähnlichen Sprüchen wurde Albus immer tiefer in den Raum hineingeschoben. Jennifer drückte ihm ein paar Bogen Pergament in die Hand:

„Viel kann ich nicht für dich tun, aber ich habe deine Hausaufgaben erledigt, damit du ein Problem weniger hast. Arabella hat mit einem Schriftfälschungszauber nachgeholfen, damit es nach dir aussieht.“

Er stand jetzt neben Roy, der ihn aber nicht bemerkte, weil er immer noch mit Patricia sprach:

„Und du meinst, dein Großvater kann etwas unternehmen?“

„Er ist ein loyaler Beamter und wird nicht auf seine alten Tage zum Revolutionär werden, wenn du das meinst“, erwiderte sie, „aber er ist eine Graue Eminenz unter den höheren Ministerialbeamten, sein Wort hat bei seinen Kollegen Gewicht, und er hat eine unnachahmliche Art, Kritik vornehm durchblicken zu lassen, das wird Eindruck machen, gerade weil er so loyal ist, verlass dich drauf.“

Roy nickte befriedigt und sah hoch.

„Hallo Roy“, sagte Albus.

Roy nahm sich gar nicht erst die Zeit, den Gruß zu erwidern. Wie schon am Morgen fasste er Albus an beiden Schultern.

„Wir hauen ihn raus, so – oder so! Wir haben es versprochen, und wir tun es! Harry stirbt nicht unter einem Henkerbeil, wir werden es verhindern, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“

Roy gab sich Mühe, so ruhig und entschlossen zu sprechen wie immer, aber ein Beben in seiner Stimme verriet, wie aufgewühlt er war.

„Ich weiß!“, rief Albus. „Und ich weiß auch, was du jetzt schon für mich getan hast. Danke für alles!“

Er setzte sich in den nächstbesten Sessel und sah dem Treiben zu: Alle standen hinter ihm. Niemand von ihnen würde ihn im Stich lassen. Im Stillen bat er den Sprechenden Hut um Verzeihung, weil er am ersten Abend seine Weisheit angezweifelt hatte. Heute war er dankbar dafür, ein Slytherin zu sein. Wie es Rose bei den Gryffindors jetzt wohl ging? Der Gedanke versetzte ihm einen Stich.

 

***

 

Rose wurde von ihren Hauskameraden kaum weniger freundlich empfangen als Albus von den Slytherins. Das gleiche Schulterklopfen, die gleichen Umarmungen, die gleichen Versicherungen: „Wir stehen hinter dir.“

Und doch vermochte sie sich nicht so recht darüber zu freuen. James, der nach ihr den Raum betreten hatte, hielt sich hinter ihr, beinahe so, als wolle er, der einen ganzen Kopf größer war, sich hinter ihr verstecken. Rose drehte sich um, fasste nach seiner Hand und zog ihn sacht nach vorn. Das Stimmengewirr ebbte deutlich ab.

Vor ihnen stand Rupert Wilkinson, ein Fünftklässler und einer von Hermines fanatischsten Parteigängern. Er war derjenige, der sich nach Hermines Rede im September auf Roy hatte stürzen wollen und dabei mit Ethelbert zusammengestoßen war. Kein besonders begabter Schüler, kein Quidditch-As, kein Mädchenschwarm, bleich, picklig, unscheinbar und mit einer unglaublich hässlichen Brille auf der Nase, hatte er sich doch mit seiner schneidigen Unterstützung für die Ministerin zu einer Art Wortführer der Gryffindors hochgearbeitet. Er hatte gerade zu einer seiner berüchtigten Reden ansetzen wollen, stutzte nun aber, wirkte ein wenig verlegen.

„Ähm, finde ich echt gut, Potter, dass du zu ihr stehst. Zeigt doch, dass nicht alle Potters so sind wie…“

James schoss das Blut in den Kopf: „WIE WER?“, brüllte er. Schlagartig war es ruhig.

„Na ja“, wiegelte Wilkinson unentschlossen ab, „ist bestimmt auch nicht leicht für dich… also für euch“, fügte er hinzu, als nun auch Victoire sich demonstrativ zu den beiden Jüngeren stellte.

„Wie auch immer, wir haben uns überlegt, dass wir etwas für Hermine tun müssen, gerade jetzt… Also, wir haben eine Resolution aufgesetzt.“

Da Victoire, James und Rose nur beunruhigte Blicke wechselten, ohne zu antworten, räusperte er sich, entrollte ein Blatt Pergament und las etwas leiernd vor:

„Wir, die Schüler des Hauses Gryffindor, erklären und bekräftigen anlässlich des abscheulichen heutigen Attentats erneut unsere uneingeschränkte Solidarität mit Zaubereiministerin Hermine Granger-Weasley. Wir unterstützen sie nachdrücklich in ihrem Kampf gegen das Todessertum und für eine offene und tolerante magische Welt, deren Feinde heute bewiesen haben, dass sie vor nichts zurückschrecken, um ihre menschenverachtenden Ziele durchzusetzen…“

Ethelbert trat zu James, der aussah, als würde er sich gleich auf Wilkinson stürzen, umfasste seinen Arm und raunte ihm zu: „Beruhig dich, es hat doch keinen Sinn…“

Wilkinson fuhr fort:

„Wir begrüßen und unterstützen insbesondere die energischen Maßnahmen, die die Ministerin mit ihrer heutigen Notverordnung zum Schutze des Magischen Staates ergriffen hat. Wir möchten sie auf diesem Wege ermutigen, der Schlange des Todessertums entschlossen den Kopf zu zertreten. Dieses Krebsgeschwür gilt es auszurotten, kurzen Prozess zu machen und schonungslos alle Feinde der offenen und toleranten magischen Welt dem Henker zu überantworten, ohne Ansehen der Person. Wir, die Schüler des Hauses Gryffindor, distanzieren uns mit Nachdruck insbesondere von dem ehemaligen Gryffindor-Schüler Harry Potter. Wir lehnen es ab, ihn noch länger als einen der Unseren zu betrachten und geben unserer Zuversicht Ausdruck, dass die Justiz des Magischen Staates unnachsichtig mit ihm, seinen Helfershelfern und Gesinnungsgenossen abrechnen wird!“

Die meisten seiner Mitschüler klatschten Beifall, wenn auch viele eher verhalten. Offenbar wollte niemand verdächtigt werden, es an Entschlossenheit im Kampf gegen das Todessertum fehlen zu lassen. Victoire, James und Rose starrten Wilkinson an. Als erste fand Victoire ihre Sprache wieder:

„Das wollt ihr doch nicht ernsthaft veröffentlichen, oder?“, fragte sie entgeistert.

Wilkinson schaute aufrichtig verwundert drein:

„Äh, doch, natürlich… Es haben auch schon Alle unterschrieben…“

„Alle?“, unterbrach ihn Victoire.

Wilkinson warf Ethelbert einen verächtlichen Blick zu: „Alle. Mit Ausnahme unseres sogenannten Vertrauensschülers natürlich“, fügte er gedehnt und naserümpfend hinzu. „Jetzt fehlen nur noch eure Unterschriften, dann ist es noch rechtzeitig für die morgige Ausgabe beim Tagespropheten.“

Jetzt hielt James sich nicht länger zurück. Er riss sich von Ethelbert los und schrie Wilkinson an: „Todesser willst du bekämpfen? Bestens! Fangen wir doch gleich mit dir an, du Schwein!“

Und noch bevor irgendjemand reagieren konnte, schlug er Wilkinson die Faust ins Gesicht, dass das Blut aus dessen Nase meterweit durch den Raum spritzte. Nun stürzten sich ein Dutzend Andere auf James und prügelten auf ihn ein, während Ethelbert und Victoire ihre Zauberstäbe zogen, einige Angreifer mit Petrificus– und Schwebezaubern außer Gefecht setzten und es schließlich schafften, James – mit einem geschwollenen Auge und blutigem Gesicht – aus dem Gewühl zu ziehen. Da einige Schüler der Gegenseite nun ihrerseits ihre Stäbe zückten, schützten die beiden Vertrauensschüler sich, James und Rose mit einem Schildzauber.

In der Stille, die angesichts dieses Patts nun eintrat, war nur das Keuchen der Beteiligten zu hören.

„Das bringt doch nichts“, rief schließlich ein Sechstklässler – einer von denen, die der Resolution nur verhalten applaudiert hatten –, „wenn wir uns hier gegenseitig verprügeln! Steckt die Zauberstäbe weg und nehmt Vernunft an. Ihr zuerst“, sagte er zu Wilkinson und seinen Kumpeln, die zögernd gehorchten, nachdem sie Wilkinsons Nase repariert hatten. Victoire zauberte noch kurz James‘ Schrammen heil, dann steckte auch sie den Stab ein, ebenso Ethelbert und James.

Wilkinson hob das Pergament, das im Handgemenge zu Boden gefallen war, auf und war sofort wieder in seinem Element.

„Schön, dann unterschreibt Potter eben nicht“, rief er leicht beleidigt. „Jetzt wissen wir wenigstens, was wir von deiner Unterstützung für Hermine zu halten haben. Ja, ja, wenn’s die eigene Sippschaft trifft… Weasley, was ist mit dir?“ Er meinte Victoire.

„Eure famose Resolution“, antwortete sie aufgebracht, „könnt ihr euch… Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich einen solchen blutrünstigen Irrsinn unterschreibe?“

Wilkinson schüttelte indigniert den Kopf. Jetzt wandte er sich an Rose und hielt ihr sein Machwerk mitsamt einer Feder unter die Nase. „Du unterschreibst! Den Mörder deiner Mutter kannst du nicht ungeschoren davonkommen lassen!“

Rose wich ängstlich zurück, aber er drängte nach, bis Victoire sich dazwischenschob: „Lass das Kind in Ruhe!“

„Halt dich da raus, Weasley!“, schrien Wilkinsons Kumpane dazwischen. Einige von ihnen stürzten sich auf sie und schleiften sie mit Gewalt weg, während andere James und Ethelbert festhielten und niemand sonst einzugreifen wagte.

Wilkinson drückte die zierliche Rose gegen die Wand.

„Du wirst unterscheiben!“, knurrte er.

 

***

Scorpius, Jennifer, Lance und sogar einige Mädchen und Jungs aus der vierten und fünften Klasse, die Albus nur vom Sehen kannte, setzten sich jetzt zu ihm. Patricia nahm direkt auf der Armlehne seines Sessels Platz und strich ihm durchs strubbelige Haar. Albus lächelte zu ihr hoch. An so etwas konnte man sich entschieden gewöhnen.

„Roy“, hörte er Bernie rufen, „soll ich auch meinen Vater anschreiben? Er ist zwar kein Zauberer, aber…“

„…Grangers wichtigster Partner in der Muggelwelt!“, fiel Roy ihm mit bebender Stimme ins Wort. „Eine hervorragende Idee! Schreib ihm unbedingt! Er hat bestimmt Einfluss auf sie! Sie will uns doch für die Muggelwelt öffnen, da muss sie berücksichtigen, wie mordende Diktatoren und Henker mit blutigen Äxten bei den Muggeln ankommen! Achte darauf, Muggelsprache zu schreiben: Schreib, dass Granger mit Nazigesetzen arbeitet…“

„Roy!“, übertönte ihn Bernie. „Seit ich denken kann, gibt es bei uns zu Hause Politik schon zum Frühstück, ich weiß schon, wie man so etwas schreiben muss, verlass dich auf mich!“

Roy nickte. Er merkte nicht, dass er schnaufte, seine Fäuste unablässig geballt waren, seine Lippen zitterten und die Tränen der Wut, obwohl er sie zurückhielt, seine Augen gerötet hatten. Aber Arabella merkte es.

„Komm mit!“, sagte sie und griff nach seiner Hand.

„Ich kann jetzt nicht, ich muss noch…“

„Du – kommst – jetzt – mit!“, zischte sie mit einer Strenge, die einer McGonagall würdig gewesen wäre, und zog ihn hinter sich her.

„Aber Al braucht mich jetzt!“

„Er braucht dich nicht! Schau ihn dir an!“

In der Tat saß Albus inmitten alter und neuer Freunde, ließ sich nach wie vor von Patricia kraulen und sah etwas angegriffen, aber alles andere als unglücklich aus. Der Zuspruch tat ihm sichtlich gut.

„Du hast die Slytherins in die Spur gestellt“, sagte Arabella. „Du hast – umsichtig wie immer – alles veranlasst, was möglich war. Du hast für Albus getan, was du konntest. Jetzt kannst du ihn getrost sich selbst und seinen anderen Freunden überlassen!“

Sie zog ihn wieder hinter sich her.

„Ja, aber die Anderen brauchen…“

„Brauchen, brauchen, brauchen!“, unterbrach sie ihn. „Du meinst, du musst die Stellung halten, weil Albus dich braucht und Harry dich braucht und Slytherin dich braucht und die magische Welt dich braucht…“

Sie stieß die Tür zum Gang auf und zog ihren Freund hinaus.

„Das stimmt ja auch irgendwo“, fuhr sie fort und schlug den Weg zum Geheimraum ein. „Aber sie brauchen dich nicht rund um die Uhr! Du musst endlich lernen, dir zu nehmen, was du brauchst!“

„Und was brauche ich?“

„Mich“, antwortete sie knapp. „Wirklich, ich bewundere dich, du willst immer stark sein, und du bist es ja auch. Aber die letzten Wochen waren sogar für dich zu viel, und Harrys Verhaftung gibt dir gerade den Rest. Du kennst immer nur eins: Zähne zusammenbeißen, Haltung zeigen, stark sein. Aber kein Mensch kann immer nur stark sein, auch du nicht! Wenn du nie Kraft nachtankst, brichst du über kurz oder lang zusammen, und an diesem Punkt bist du jetzt. Du wirst jetzt auftanken, und deine Tankstelle bin ich. Auf die Dauer kannst du nämlich nur stark sein, wenn du auch einmal loslässt und dir selbst erlaubst, schwach zu sein. Deswegen gehen wir jetzt dorthin, wo du das sein kannst und es außer mir keiner sieht!“

Sie erreichten den Geheimraum. Arabella öffnete ihn.

„Es ist fast neun Uhr“, sagte Roy, „und wir haben die Rumtreiberkarte nicht. Wenn wir zurückkehren, riskieren wir erwischt zu werden.“

„Wir kehren nicht zurück, mein Bärchen“, entschied Arabella und lächelte. „Wir verbringen hier die ganze Nacht.“

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