Es war Mittwoch, der 10. Januar, kurz vor halb acht, und Roy ließ sich gerade sein Rührei schmecken, als ihn jemand heftig am Umhang zupfte. Hinter ihm stand Albus, totenbleich. Seine rechte Faust schien irgendeinen Gegenstand zu umklammern.
„Ich muss dich sofort sprechen, irgendwo, wo keiner zuhören kann!“
Roy warf einen wehmütigen Blick auf seinen Teller, gab sich dann aber einen Ruck und stand auf. Beide verließen die Große Halle und suchten sich eine Nische in der Eingangshalle des Schlosses.
„Was gibt es denn so Wichtiges?“, wollte Roy wissen.
„Startet Odysseus heute?“, fragte Albus eindringlich.
„Wann Odysseus startet, erfährst du am Mittag des betreffenden Tages“, versetzte Roy ruhig. „Du weißt doch, dass ich es euch nicht vorher sagen soll.“
„Wenn es heute ist, muss die Aktion unbedingt sofort gestoppt werden!“
Panik schwang in seiner Stimme mit.
Roy seufzte. „Also gut, Unternehmen Odysseus ist vor wenigen Minuten angelaufen – aber anhalten können wir es jetzt nicht mehr, der Hirsch ist schon im Otterbau.“
Sie hatten sich angewöhnt, die Patroni der beteiligten Personen als Decknamen zu verwenden. „Otter“ war der Codename für Hermine, der Otterbau war das Ministerium.
„O nein!“, stöhnte Albus verzweifelt.
„Was ist los, Albus, warum willst du die Aktion denn anhalten?“
„Darum“, sagte Albus tonlos, streckte Roy seine rechte Faust entgegen und öffnete sie. Auf seiner Handfläche lag das Glücksbarometer.
Die Kugel war pechschwarz.
***
Wie jeden Morgen um sieben Uhr herrschte auch an diesem 10. Januar im Atrium des Ministeriums ein lebhaftes Kommen und Gehen. Da die höheren Beamten erst später einzutreffen pflegten, war dies die Stunde des Schichtwechsels für Sicherheitsbeamte, Putzzauberer, technisches Personal, kurz: für diejenigen, die rund um die Uhr dafür sorgten, dass das Ministerium arbeiten konnte.
Der Knall, mit dem Harry unter seinem Tarnumhang apparierte, gehörte daher zur ganz normalen Geräuschkulisse eines beginnenden Arbeitstages, und niemandem, auch nicht den Sicherheitsleuten an den Empfangsschaltern und Durchgangsschleusen des Atriums, fiel auf, dass diesem Knall keine apparierende Person zu entsprechen schien.
Harry, der seinen Vielsaft bereits genommen hatte und unter seinem Tarnumhang wie Hermine aussah, spazierte an den Kontrollen einfach vorbei – lautlos und in Turnschuhen, die zu Hermines scharlachrotem Lieblingskostüm seltsam ausgesehen hätten, wenn jemand es hätte sehen können. Die High-Heels, die er würde tragen müssen – er hatte wochenlang mit Ginny geübt, um sich daran zu gewöhnen – trug er in seiner Handtasche bei sich.
Harry drückte sich gegen eine Wand, wo er kaum Gefahr lief, von irgendjemandem versehentlich angerempelt zu werden, und wartete auf Percy. Auf Percy war stets Verlass – Gerüchten zufolge gab es Ministerialbeamte, die ihre Uhr nach ihm stellten.
Wie Harry vorhergesehen hatte, passierte Percy die Eingangskontrollen um Punkt 7.29 Uhr und begab sich – wie immer mit jenem federnden Schritt, an dem man ablesen konnte, wie sehr er dieses Privileg genoss – schnurstracks zum Ministeraufzug. Harry glitt hinter seinem Schwager in den geräumigen, mit einem dicken Teppichboden ausgelegten Lift.
Auf der Ministeretage entriegelte Percy mit einem stummen Zauber die Tür zum Vorzimmer, ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und stellte die Vorlagenmappe für Hermine zusammen, die er, wie an jedem Tag, um Punkt zehn vor acht auf ihren Schreibtisch legte. Harry folgte ihm lautlos in Hermines Büro und stellte sich neben eines der magischen Fenster, die einem die Illusion eines Panoramablicks auf London verschafften, während Percy sich wieder an seinen Schreibtisch setzte. Die Tür des Ministerbüros ließ er offen.
Bis jetzt hatte alles wie am Schnürchen geklappt, stellte Harry zufrieden fest – eigentlich kein Wunder, kannte er die Personenschutzmaßnahmen doch aus dem Effeff. Die Fallen, die er selbst potenziellen Angreifern gestellt hatte, konnte er umgehen. Blieb nur zu hoffen, dass Cesar in der Zwischenzeit keine neuen aufgebaut hatte!
Harry warf einen kurzen Blick auf den Terminkalender, den Percy seiner Chefin schon an der richtigen Stelle aufgeschlagen hatte: Genau wie Harry spekuliert hatte, hatte sie diesen Tag wohl für das Studium des Aktenberges reserviert, der sich bedrohlich auf ihrem Schreibtisch türmte. Erst für den späten Nachmittag waren Unterredungen mit Dagobert Higrave und Susan Bones geplant.
Hermines Eintreffen war schwerer kalkulierbar als das von Percy. Wenn sie von ihrem Recht Gebrauch machte, direkt im Büro zu apparieren, würde es Punkt acht sein, aber Hermine nahm manchmal auch den Weg durchs Atrium und benutzte die normalen Aufzüge, um noch ein paar Worte mit Mitarbeitern zu wechseln, die sie sonst selten zu Gesicht bekam. Gerade bei niederrangigen Beamten, die Hermines autoritäre Seiten weniger zu spüren bekamen, war sie deshalb eine ausgesprochen beliebte Chefin: Ein kleiner Sekretär, der merkte, dass die Ministerin persönlich sich – und sei es nur eine Minute – für ihn Zeit nahm, sich die Namen seiner Kinder gemerkt hatte und sich nach deren Befinden erkundigte, konnte gewissermaßen gar nicht anders, als sie zu verehren.
Sieben Minuten nach acht endlich hörte Harry ihre Stimme vom Gang aus: „Bis später dann, Cesar!“
Sie wird Cesar heute noch einmal treffen, anders als in ihrem Terminkalender steht, schoss es Harry durch den Kopf, und er hat sie heute schon gesehen, er darf dann keinen Unterschied feststellen!
Als sie das Vorzimmer betrat, konnte Harry sie sehen und zuckte zusammen:
Hermine trug ein grünes Kostüm!
Ginny hatte eigens nach Bildern aus dem Tagespropheten eine Kopie von Hermines gryffindor-rotem Lieblingskostüm gezaubert, von dem sie mindestens vier exakt gleiche Exemplare besaß. Und ausgerechnet, ausgerechnet heute trägt sie Slytheringrün, vielleicht Higrave zuliebe, ärgerte sich Harry. Er würde nachher eine knappe Minute brauchen, ihre Kleidung zu duplizieren und anzuziehen. Kein unüberwindliches Problem, aber eine Komplikation und ein Unsicherheitsfaktor.
„Guten Morgen, Percy!“, hörte Harry sie sagen. Ihre Stimme klang etwas schwach, und er sah, dass sie blass war.
„Guten Morgen, Hermine, geht es dir gut?“, fragte Percy besorgt.
„Ja, danke der Nachfrage.“
„Bist du sicher?“, hakte Percy nach – fürsorglich, aber mit Nachdruck.
„Ich hatte einen kleinen Schwächeanfall, nicht der Rede wert“, wiegelte Hermine ab.
„Wieder Probleme mit Ron?“, fragte Percy so leise, dass Harry ihn gerade noch verstehen konnte. Er horchte auf. Als Hermines Schwager durfte Percy sich solche privaten Fragen sicherlich herausnehmen, aber wenn er, der trockene Büromensch, es wirklich tat, und dies in den Räumen des Ministeriums, musste es um Hermines Ehe wie auch um ihre Gesundheit wirklich schlecht bestellt sein.
Als Hermine nickte, meinte Percy: „Ihr solltet vorsichtig miteinander umgehen, diese Spannungen tun dir nicht gut. Würde es dir helfen, wenn ich mit meinem Bruder einmal spreche?“
Harry hätte nie für möglich gehalten, dass Percy so lieb sein konnte.
Hermine lächelte. „Ist schon gut, Percy, es renkt sich wieder ein.“
„Möchtest du vielleicht einen Stärkungszauber?“
„Danke, gerne.“
Harry konnte Percy nicht sehen, aber nach einem Moment fragte dieser: „Besser?“
„Viel besser, danke“, lächelte Hermine und betrat ihr Büro. Harry war froh über Percys Stärkungszauber: Einer geschwächten Person konnte ein Schockzauber gefährlich werden, ohne Percys Fürsorge für Hermine hätte er womöglich umdisponieren müssen.
Hermine setzte sich an ihren Schreibtisch und legte ihren Zauberstab, den sie hier eigentlich nur brauchte, um Memos zu versenden, neben sich. Harry runzelte die Stirn: Er kannte Hermines Zauberstab, den sie schon in Hogwarts benutzt hatte, fast so gut wie seinen eigenen. Er war aus Weinstockholz gewesen. Der Stab aber, der jetzt neben ihr lag, schien aus Eibenholz zu sein.
Leider hatte Hermine die Tür zum Vorzimmer, die sie normalerweise schloss, um sich gut konzentrieren zu können, diesmal offengelassen, vielleicht um Blickkontakt mit Percy zu haben.
Alles, was schiefgehen kann, geht auch schief!
Er stand dicht hinter Hermine – innerhalb der magischen Schutzglocke von anderthalb Metern Radius, deren Einrichtung er selbst noch angeordnet hatte – und hatte sie und Percy dadurch gleichzeitig im Blick: Beide waren in ihre Akten vertieft. Wenn er jetzt die Tür schloss, würde Percy glauben, Hermine selbst sei es gewesen. Harry hob unter dem Tarnumhang seinen Zauberstab und ließ die Tür mit einem leisen Klick ins Schloss fallen. Hermine blickte verdutzt auf.
Harry sicherte die Tür mit einem stillen Imperturbatio-Zauber, durch den er sie nach außen berührungssicher und vor allem schalldicht machte. In der Sekunde, die er dafür brauchte, griff Hermine nach ihrem Zauberstab. Harry richtete seinen eigenen auf ihren Rücken:
„Stupor!“
Ein roter Blitz schoss unter lautem Knall aus seinem Stab, prallte aber an Hermines Rücken ab und zerstob zu tausend Funken. Eine magische Schutzweste! schoss es Harry durch den Kopf. Cesar hat nachgelegt! Hermine sprang auf und richtete ihren Stab blind nach hinten:
„Stupor!“, rief sie ihrerseits, während Harry zur Seite hechtete. Sein Tarnumhang verrutschte. Er zog ihn herunter und zielte mit seinem Stab in Hermines Gesicht, das fassungslos sein Ebenbild anstarrte:
„Stupor!“
Sie ließ sich geistesgegenwärtig über den Schreibtisch rollen, der Fluch verfehlte sie, und sie stürzte zur Tür. Sie durfte sie nicht erreichen! Auf seinen Turnschuhen war Harry schneller als sie und drang in den Bereich der Schutzglocke ein – genau in dem Moment, da sie die Klinke drückte.
„Petrificus totalus!“, rief Harry. Hermines Körper erstarrte, wurde aber durch den Schwung, den er noch hatte, gegen die Tür geworfen. Die Klinke schnappte wieder hoch. Percy musste das Poltern gehört haben! Harry hatte keine Wahl:
Er löschte den Imperturbatio-Zauber, flüsterte, den Stab auf Hermines Kopf gerichtet, „Imperio“, und warf sich mit der freien Hand den Tarnumhang wieder über. Genau in diesem Moment kam Percy hereingestürzt. Harry hob den Petrificus wieder auf.
„Hermine, um Gottes Willen!“, rief Percy, zu Tode erschrocken. Leicht benommen stand Hermine auf.
„Es ist nichts, Percy, lass gut sein, ich bin nur gestolpert“, sagte sie sanft.
„Aber du blutest ja!“ Tatsächlich rann Blut von ihrer Stirn.
„Ach ja?“, lächelte Hermine, hob ihren Zauberstab auf, richtete ihn gegen ihre Stirn und sagte: „Episkey“. Die Wunde verschwand.
„Siehst du?“, lächelte sie wieder. „Alles in Ordnung!“
„Hermine, du bist ganz benommen, womöglich hast du eine Gehirnerschütterung, ich muss darauf bestehen, einen Heiler hinzuzuziehen“, rief Percy.
„Das ist eine gute Idee, am besten apparierst du vom Atrium aus direkt im St. Mungo, um ihn zu holen. Aber bitte diskret! Weder im Ministerium noch im Krankenhaus darf irgendjemand außer dem Heiler etwas davon mitbekommen, verstanden? Ich lege mich inzwischen aufs Sofa“, sagte Hermine freundlich und deutete auf die kleine Sitzecke ihres Büros.
Percy stürzte davon, und Harry atmete auf. Den war er erst einmal los! Nun aber schnell, mehr als zehn Minuten hatte er auf keinen Fall!
„Gib mir deinen Zauberstab!“, befahl er Hermine, die den Stab lächelnd in die Richtung hielt, aus der seine – oder vielmehr ihre eigene – Stimme gekommen war. Er griff mit einer Hand aus dem Tarnumhang heraus und nahm den Stab an sich.
Harry überlegte fieberhaft: Wenn Hermines Benommenheit wirklich auf eine Gehirnerschütterung oder Ähnliches zurückzuführen war, konnte er sie nicht schocken und entführen, dann brauchte sie einen Heiler. Wahrscheinlich war sie aber nur eine Folge des Imperiusfluchs. Nun, das ließ sich herausfinden!
Harry sicherte die Bürotür erneut mit einem Imperturbatio-Zauber und hob den Imperiusfluch wieder auf.
Hermine richtete sich ruckartig auf.
„Dein Tarnumhang hat dich verraten, Potter!“, sagte sie mit eisiger Stimme ungefähr in seine Richtung. „Mit dem, was du hier vorhast, kommst du nicht durch! Ich gebe dir eine einzige, letzte Chance, aus der Sache herauszukommen: Geh einfach, und ich vergesse, was ich erlebt habe!“
„Selbst wenn ich dir deine Versprechungen abnehmen würde“, hörte Hermine ihre eigene Stimme scheinbar aus dem Nichts zu ihr sprechen, „könnte ich nicht gehen. Ich werde dich nicht im Stich lassen, Hermine, nie!“
„Du wagst es, mir so etwas zu sagen, wo du gerade den größten Verrat begehst, den ich je erlebt habe?“
„Nicht ich verrate dich, sondern du dich selbst“, erwiderte die Stimme. „Ich sehe aber, dass du nicht benommen bist.“
„Natürlich nicht!“, rief Hermine wütend. „Ich war noch nie so klar bei Sinnen wie jetzt!“
„Dann brauche ich dein Spiel auf Zeit nicht länger zu dulden. Stupor!“
Der rote Blitz traf Hermines Kopf, und sie sank ohnmächtig aufs Sofa zurück.
In fliegender Hast nahm Harry den Tarnumhang ab, duplizierte Hermines grünes Kostüm und ihre Schuhe, hob ihren Körper mit einem Schwebezauber an, dirigierte ihn in die hinterste Ecke des Büros, warf ihr den Tarnumhang über, zog sein rotes Kostüm aus und schlüpfte in das grüne. Dann ließ er das rote Kostüm und seine Turnschuhe mit Reductio verschwinden, hob den Imperturbatio-Zauber wieder auf, öffnete die Bürotür und legte sich aufs Sofa.
Keine Sekunde zu früh: Kaum hatte er sich hingelegt, hörte er schon Schritte über den Gang poltern, und im nächsten Moment kam Percy ins Büro, in seinem Schlepptau ein alter Zauberer, dessen langer weißer Bart Harry an Dumbledore erinnerte.
„Hermine“, rief Percy atemlos, „das ist Professor Camillus Healman, der Chefheiler des St. Mungo.“
„Wir hatten bereits das Vergnügen“, sagte der Heiler und reichte Hermine – also eigentlich Harry – die Hand. „Wenn Sie bitte das Büro verlassen und die Tür schließen würden, Mister Weasley?“
Percy verbeugte sich und verließ das Büro.
„Meine Güte, gleich der Chefheiler“, sagte Harry und versuchte, Hermines Stimme ein wenig schwach klingen zu lassen, „es war doch nur ein kleiner Schwächeanfall.“
„Und nicht der erste, wie ich höre?“, fragte der Professor sanft, während er seinen Zauberstab routiniert über Hermines Kopf und Körper gleiten ließ.
„Ja, ich bin in letzter Zeit wohl etwas überarbeitet, aber sonst ist alles in Ordnung…“
„Das herausfinden, überlassen Sie bitte Ihrem Heiler“, versetzte der alte Professor streng. „Es könnte schließlich auch sein, dass Sie Guter Hoffnung sind…“
Harry krampfte sich der Magen zusammen. Wenn Hermine schwanger war, hatte er durch den Vielsaft ungewollt einen Zwilling ihres ungeborenen Kindes erzeugt und war dann dessen werdende Mutter! Dann konnte er in den nächsten neun Monaten seine wirkliche Gestalt nicht mehr annehmen, ohne dieses Kind zu töten. Er wäre praktisch gezwungen, es auszutragen…
„O nein“, stöhnte er, „das könnte ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen! Können Sie das nicht feststellen, Herr Professor?“
„Selbstverständlich kann ich das, ich bin soeben dabei.“ Healman führte einige verwirrende Bewegungen mit seinem Zauberstab aus. „Nun, ich fürchte…“ sagte er schließlich nachdenklich, während Harry hörbar schluckte.
„Nun reden Sie schon!“
„Ich fürchte, Sie können sich momentan nicht auf Nachwuchs freuen.“
„Gott sei Dank“, rief Harry unter einem Seufzer der Erleichterung. „Sie machen sich ja keine Vorstellung, in welche Lage ich gekommen wäre, wenn…“
„O doch“, versicherte der Professor. „Ich bin seit sechzig Jahren Heiler, Sie können sicher sein, dass mir nichts Menschliches fremd ist…“
Harry schnellte hoch: „Was wollen sie damit andeuten?“, fuhr er den Heiler empört an. Seine Freundin Hermine war schließlich keine…
„Beruhigen Sie sich“ sagte der Professor begütigend, „und entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihre Bemerkung offenbar missverstanden habe. – Nun, ich kann kein organisches Leiden feststellen, und eine Gehirnerschütterung haben Sie auch nicht. Trotzdem darf man zwei Schwächeanfälle an einem Tag nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie sagen, Sie sind überarbeitet, das kann ich mir in Ihrer Position gut vorstellen. Ähm, haben Sie eventuell auch im privaten Bereich Probleme? – Denken Sie daran, ich unterliege der allerstrengsten Schweigepflicht!“
„Ich habe in letzter Zeit öfter Streit mit meinem Mann…“
„Ah ja“, nickte der Heiler verständnisvoll, „Stress im Beruf und Stress zu Hause, da muss der Körper ja rebellieren! Ich glaube, Sie schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn Sie jetzt nach Hause gehen, sich hinlegen und auch Ihren Mann bitten, Ihnen Gesellschaft zu leisten. Verbringen Sie ein, zwei schöne Tage miteinander, dann wird es Ihnen besser gehen, und Ihr Mann wird sich dann sicher auch wohler fühlen. Einstweilen gebe ich Ihnen dies mit.“
Er zog ein Fläschchen aus seinem Umhang. „Ein Stärkungstrank auf bio-magischer Basis. Jeden Morgen ein Teelöffel, ansonsten nach Bedarf, bis Sie ihn aufgebraucht haben.“
„Vielen Dank, Herr Professor. Sie gestatten…“
Harry, nach wie vor in Hermines Gestalt, stand auf und führte den Professor ins Vorzimmer. Während er sich von dem Heiler verabschiedete, sagte er zu Percy: „Der Herr Professor verordnet mir zwei Tage Ruhe, verschiebe bitte alle meine Termine, ich werde dann gleich disapparieren.“
Perfekt! jubelte er innerlich. So habe ich den idealen Vorwand, mit Hermine sofort zu verschwinden und nicht erst heute Abend, wer weiß, was bis dahin noch alles passiert wäre…
„Vielleicht schaue ich morgen Vormittag kurz vorbei, falls irgendetwas Dringendes anliegt“, fügte er hinzu. „Ansonsten hältst du hier für mich die Stellung, Percy. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.“
„Selbstverständlich“, warf Percy sich stolz in die Brust.
Harry schenkte ihm ein freundliches Hermine-Lächeln, ging zurück in das Ministerbüro und schloss die Tür hinter sich. Er lehnte sich dagegen, schloss kurz die Augen und atmete auf. Das war ja noch einmal gutgegangen, am Ende sogar besser, als er erwartet hatte! Jetzt brauchte er nur noch mit Hermine an der Hand nach Hogwarts in den Geheimraum zu disapparieren.
Er griff unter den Tarnumhang, fasste Hermines Hand, konzentrierte sich, drehte sich…
Harry fluchte leise. Es klappte nicht, er konnte nicht disapparieren!
Harry dachte fieberhaft nach. Er selbst hatte vor einem Jahr die Schutzzauber für das Ministerium eingestellt, und zwar so, dass Hermine in ihrem Büro apparieren und disapparieren konnte, wobei es genügte, wenn sie mitapparierte, sie brauchte es nicht selbst zu tun. Noch im Sommer war er mit ihr an der Hand aus diesem Büro disappariert, und er selbst, nicht Hermine, hatte den Apparierungszauber ausgeübt! Cesar musste auch diese Sicherheitsbestimmung verschärft haben!
Harry seufzte. Er würde Hermines Schock aufheben und sie schon wieder mit dem Imperius belegen müssen – zum zweiten Mal heute! –, um sie zu zwingen, mit ihm zu disapparieren.
Gerade hatte er seinen Zauberstab gezückt, als es an der Tür klopfte. Harry steckte seinen Stab wieder weg, aber noch bevor er „Herein“ sagen konnte, stand Percy in der Tür.
„Percy“, rief Harry ungehalten, „was fällt dir ein, einfach hier hereinzuplatzen?“
„Tut mir leid“, sagte Percy, der rote Ohren bekam, „aber Cesar meinte, er müsse dich unbedingt noch sprechen, bevor du disapparierst.“
Cesar Anderson drängte sich an Percy vorbei und sagte dann:
„Ich brauche noch Ihre Unterschrift.“ In der Hand hielt er eine Aktenmappe.
„Legen Sie die Akte auf meinen Schreibtisch“, erwiderte Harry, wobei er es vermied, Anderson anzusehen, damit dieser nicht versuchen konnte, in seinen Geist einzudringen. Harry beherrschte zwar Okklumentik, aber Hermine nicht, –– an seinem Widerstand würde Anderson erkennen, dass er nicht Hermine war… „Ich werfe nochmal einen Blick darüber und lasse Ihnen die Akte dann zukommen.“
Unterschreiben konnte er in Andersons Gegenwart nichts, weil er einen Schriftfälschungszauber würde anwenden müssen.
„Wir hatten doch alles besprochen“, erwiderte Anderson verwundert, „und waren uns über die Notwendigkeit dieser Ermächtigung einig.“
Ermächtigung? Harry ging ihm entgegen, ließ sich die Mappe reichen und schlug die Akte auf. Das Amt für Magische Sicherheit wurde darin
„…bevollmächtigt, im Rahmen seiner dienstlichen Aufgaben und zur Abwehr staatsgefährdender Umtriebe im Einzelfall ohne weitere Voraussetzungen, insbesondere ohne Vorliegen einer besonderen Genehmigung, die sogenannten…“
– Harry erstarrte –
„… Unverzeihlichen Flüche anzuwenden.“
Das würde er niemals unterschreiben, aber er durfte jetzt nicht aus der Rolle fallen!
„… ohne weitere Voraussetzungen“, murmelte er und fügte laut hinzu: „Tut mir leid, Cesar, ich muss das noch einmal prüfen. Wir sprechen das Ganze am Fr… nein, am Montag nochmals durch.“ Damit hatte er genug Zeit gewonnen, sich in die Akten einzulesen und ihnen einen unverdächtigen Grund zu entnehmen, Cesar zu entlassen oder wegzuloben.
„Wie Sie wünschen“, sagte Anderson, immer noch verwundert, „aber Sie selbst hatten aufs Tempo gedrückt…“
„Ich glaube nicht“, sagte Harry sarkastisch und in Hermines hochmütigstem Tonfall, während er sich mit dem Handrücken über seine rechte Stirnseite fuhr, „dass Ihre Kunden sich beschweren werden, wenn ihnen der Cruciatus noch ein paar Tage erspart bleibt.“
Aus den Augenwinkeln sah er Percy zusammenzucken, während Anderson die Stirn runzelte.
„Das war’s, meine Herren“, fügte er in Hermines Chefinnentonfall hinzu, „wenn Sie dann bitte…“
Er konnte den Satz nicht vollenden, denn just in diesem Moment glitten zu seinem Entsetzen zwei Zauberstäbe – sein eigener und Hermines –, von einem stummen Aufrufezauber angezogen, aus der Innentasche seines Umhangs und flogen auf Anderson zu, der sie mit der linken Hand auffing und zugleich mit der rechten blitzschnell seinen eigenen Stab zückte und auf Harry richtete. Anderson warf einen prüfenden Blick auf die Stäbe und sagte dann, mehr traurig als gehässig:
„Sie sagen es, Harry: Das war’s! Realcorpus!“
Harry spürte das unangenehme Ziehen und Drücken, mit dem er wieder seine wirkliche Gestalt annahm. Nach etwa dreißig Sekunden stand er wieder als Harry Potter, aber immer noch in Hermines Kostüm und in verzweifelt engen High-Heels vor seinem ehemaligen Untergebenen und dem sprach- und fassungslos dreinblickenden Percy.
„Woher wussten sie es?“, fragte er Anderson.
„Die Häufung der Indizien konnte einfach kein Zufall mehr sein“, antwortete der Amasi-Chef. „Zuerst der verdächtige Zwischenfall, bei dem die Ministerin verletzt wurde – Percy erzählte mir davon, als ich eben in sein Büro kam. Dann Hermines Bereitschaft, wegen eines bloßen Schwächeanfalls nach Hause zu gehen; Sie hätten wissen müssen, dass sie sich lieber tot aus dem Büro tragen lässt, als ihre Pflichten zu vernachlässigen. Dann die Tatsache, dass Sie mir nicht in die Augen sahen, Ihre Weigerung, ein längst abgesprochenes Dekret zu unterzeichnen, die Erwähnung der Cruciatus-Ermächtigung in Percys Gegenwart, nachdem Hermine mir ausdrücklich eingeschärft hatte, dass er nicht darüber informiert werden durfte, und schließlich das hier:“
Er wischte mit dem Handrücken über seine rechte Stirnseite, genau wie Harry es vor einer Minute getan hatte.
„Diese Geste“, fuhr Anderson fort, „habe ich an Hermine noch nie gesehen, wohl aber an Ihnen, und zwar in Ihrer letzten Amtswoche als Aurorenchef. Identifiziert habe ich Sie schließlich anhand Ihres Zauberstabs.“
„Gute Arbeit, Cesar“, meinte Harry zähneknirschend. „Dann bleibt mir ja wenigstens die Genugtuung, den Personenschutz dem fähigsten Mann anvertraut zu haben. Sagen Sie, können Sie mich umziehen? In Hermines Kostüm sehe ich lächerlich aus.“
Anderson zögerte kurz, dann sagte er:
„Diesen Gefallen tue ich Ihnen noch, Harry, aber es ist der letzte.“
Er verwandelte mit einigen Bewegungen seines Zauberstabs Hermines Kostüm, das an Harrys Körper fast aus den Nähten platzte, in passende Männerkleidung, ihre hochhackigen Schuhe in Turnschuhe und ihren Hexenumhang in einen Zaubererumhang. Mit „Incarcerus“ wurde Harry am ganzen Oberkörper gefesselt, während Anderson ihn pflichtgemäß über seine Rechte aufklärte:
„Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Sollten Sie aber aussagen, kann ab jetzt alles, was Sie sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden.“
Harry nickte.
„Wo ist Hermine?“, fragte Anderson.
Harry deutete mit dem Kopf in die Ecke des Zimmers, in dem Hermine schwebte: „Unter meinem Tarnumhang.“
Anderson ging in die angedeutete Richtung, bis er an das unsichtbare Hindernis stieß, nahm den Tarnumhang an sich, ließ Hermines Körper sanft zu Boden gleiten und fuhr mit dem Zauberstab über ihr Gesicht:
„Rennervate.“
Hermine schlug die Augen auf und setzte sich auf. Als sie den gefesselten Harry sah, warf sie ihm einen Blick zu, der die Hölle hätte zufrieren lassen können, und zischte:
„Dafür bezahlst du, Potter!“
Sie wandte sich an Anderson, während Percy ihr aufhalf:
„Sie wissen, was Sie zu tun haben.“
Anderson nickte: „Kommen Sie, Potter.“ Harry musste vorausgehen, während Anderson ihm mit gezogenem Zauberstab folgte.
„Percy?“, sagte Hermine, als der Gefangene mit seinem Bewacher das Büro verlassen hatte.
„Ja, Hermine?“, antwortete Percy immer noch bleich, aber beflissen.
„Schick mir Susan Bones herauf“, sagte sie, und ein böses Grinsen umspielte ihre Mundwinkel. „Wir brauchen ein neues Gesetz.“
***
„Steck die Kugel wieder ein“, befahl Roy, „und lass dich nicht ins Bockshorn jagen.“
Albus ließ das Glücksbarometer wieder in seinen Umhang gleiten. Roy umfasste seine Schultern und sah ihm fest in die Augen:
„Wir wissen nicht, was dieses Omen zu bedeuten hat. Wir wissen auch nicht, ob es mit Odysseus zusammenhängt. Wir wissen aber eins: Wir sind Slytherins! Wenn wir einen Schlag einstecken müssen, halten wir den Kopf gerade, verziehen keine Miene, bleiben auf beiden Beinen stehen und lassen uns von nichts und niemandem niederstrecken, verstanden?“
Albus nickte. Roy fuhr fort:
„Wir sind die Schlange, nicht das Kaninchen, das vor ihr zittert! Wir fragen nicht ängstlich, was geschehen wird! Wir warten es gelassen ab und entscheiden dann, was wir tun!“
Albus nickte wieder, diesmal überzeugter und entschlossener. Roys Worte taten ihm gut.
„Danke“, sagte er, „jetzt geht’s mir besser!“
„Brauchst du vielleicht doch einen Aufmunterungszauber?“
Albus schüttelte den Kopf. Er lächelte sogar ein wenig.
„Den habe ich eben von dir bekommen, und er genügt mir.“
Da Albus es bereits wusste, beschloss Roy, auch die anderen Unbestechlichen, die am Frühstückstisch zusammensaßen, sofort zu informieren.
„Können wir irgendetwas tun?“, fragte Arabella.
Roy schüttelte den Kopf. „Alle Vorkehrungen sind getroffen. Solltet ihr etwas tun können, erfahrt ihr es von mir oder Albus. Benehmt euch einfach wie immer. Wenn keine Auroren auftauchen, keine Sonderausgabe des Tagespropheten erscheint und so weiter, wenn also nichts Ungewöhnliches geschieht, könnt ihr davon ausgehen, dass Alles gutgegangen ist.“
Es geschah nichts Ungewöhnliches, den ganzen Tag über. Albus, der stets an Roys Worte dachte, schaffte es, sich ganz normal zu verhalten, und je weiter der Tag voranschritt, desto zuversichtlicher wurde er, dass sein Vater es geschafft hatte.
Wie fast alle Hogwarts-Schüler saßen die Unbestechlichen gegen achtzehn Uhr beim Abendessen, als die Eulen eintrafen, die die Abendausgabe des Tagespropheten an dessen Abonnenten verteilten. Hor-Hor, der die Zeitung als einziger Erstklässler abonniert hatte, warf einen Blick auf die Schlagzeile, starrte den ihm gegenübersitzenden Albus entgeistert an und schob ihm das Blatt kommentarlos zu, während das Stimmengewirr, das die Große Halle erfüllte, leiser und leiser wurde, bis es völlig erstarb und einer drückenden Stille wich.
NACH MORDANSCHLAG AUF ZAUBEREIMINISTERIN:
HARRY POTTER VERHAFTET!
DEM EX-AURORENCHEF DROHT DIE TODESSTRAFE!
London, 10. Januar. Wie das Zaubereiministerium soeben bekanntgab, wurde der ehemalige Chef-Auror Harry Potter bei dem Versuch überwältigt und verhaftet, auf Zaubereiministerin Hermine Granger-Weasley einen Anschlag zu verüben. Potter, der in jüngerer Zeit mehrfach durch Sympathien für Todesser-Kreise aufgefallen und deshalb seines Postens enthoben worden war, hatte sich unter dem Schutz eines Tarnumhangs Zugang zum Ministerium verschafft und die Ministerin in deren Büro angegriffen. Dank des Eingreifens von Amasi-Chef Cesar Anderson blieb die Ministerin weitgehend unverletzt. Da Potter mit Hilfe von Vielsaft die Gestalt der Ministerin angenommen hatte, ist davon auszugehen, dass er sich nach ihrer Ermordung an ihre Stelle setzen wollte.
Die Ministerin äußerte sich bestürzt darüber, dass ausgerechnet Potter, mit dem sie eine langjährige Freundschaft verband, sich unter dem Einfluss der Todesser-Ideologie zu einer solchen Tat hinreißen ließ. Wörtlich sagte sie: „Mit dem heutigen Tag kann niemand mehr behaupten, er wisse nicht, welch tödliche Gefahr dem Magischen Staat durch die Todesser und ihre menschenverachtende Ideologie immer noch droht.“
Als Reaktion auf den Anschlag hat die Ministerin eine Notverordnung zum Schutze des Magischen Staates erlassen, durch die rückwirkend zum 1. Januar 2018 die Todesstrafe wiedereingeführt wird, und zwar für Mord, Hochverrat, alle Gewaltdelikte sowie die Anwendung der Unverzeihlichen Flüche, sofern sie im Zusammenhang mit hochverräterischen oder staatsgefährdenden Bestrebungen stehen. Das Ministerium bestätigte, dass die Verordnung auf den Fall Potter anwendbar ist.
Wie aus Ministeriumskreisen weiter verlautet, soll die Strafe gemäß der Tradition durch Enthauptung vollstreckt werden…
Albus las nicht weiter. Er hatte mit vielem gerechnet und sich innerlich auf schlechte Nachrichten vorbereitet, aber nicht auf eine solche.
Als er den Kopf hob, sah er in Hunderte von Augenpaaren, die ihn entsetzt anstarrten, während auf der anderen Seite der Halle die gleichen Blicke auf James lasteten. Albus suchte und fand den Blick seines Bruders.
Bleich, aber erhobenen Hauptes, stand er auf und ging durch die Totenstille zum Gryffindor-Tisch. James erhob sich ebenfalls.
„Lass uns rausgehen“, flüsterte Albus seinem Bruder zu.
Victoire war ebenfalls aufgestanden. „Möchtet ihr, dass ich mitkomme?“, fragte sie leise und sanft.
„Ja, bitte“, antwortete James.
Ihr Weg zum Ausgang führte an Rose vorüber, die blass und zitternd geradeaus ins Leere starrte. Albus blieb stehen, beugte sich leicht zu ihr hinunter und fragte ganz leise:
„Rose?“
Sie rührte sich nicht.
„Rose?“
Rose schluckte und schloss die Augen.
„Rose, sind wir noch Freunde?“
Nach einigen endlosen Sekunden öffnete sie die tränennassen Augen. Endlich nickte sie.
„Komm“, sagte Albus.
Als sie wie in Trance aufstand, nahm Albus sie bei der Hand. Sie zog sie nicht zurück.
Die Potters und die Weasleys verließen gemeinsam die Große Halle. Zurück blieb die Stille eines Friedhofs.