33 – Rodolphus Lestrange

Nach Edinburgh, wo sie nicht mit Ministerialzauberern zu rechnen brauchten, begaben Julian und Roy sich wieder durch Apparieren. Als sie abends um viertel nach sechs ankamen, war es bereits dunkel. Die dreistöckigen Altbauten, die die Leamington Terrace säumten, hätten einen neuen Anstrich vertragen, wirkten sonst aber durchaus gepflegt.

Vor der Nummer 5 war ein Taxi geparkt. Die Jungs gingen zur Haustür und fanden den Namen Williams, der offenbar zu einer Wohnung im ersten Stock gehörte. Julian zögerte, sah seinen Freund an.

„Ich bin ganz schön aufgeregt, weißt du? Noch heute Vormittag hatte ich keine Ahnung…“ Er brach ab.

„Na komm, jetzt klingele auch“, nickte Roy ihm ermutigend zu.

Julian atmete tief ein, hielt einen Moment die Luft an – und drückte den Klingelknopf.

Eine Gegensprechanlage schien es nicht zu geben. Unter leisem Summen entriegelte sich die Tür. Die beiden betraten den Hausflur und gingen eine Etage nach oben. Vor der Tür, die mit dem Namen „Williams“ gekennzeichnet war, blieben sie stehen. Einen Augenblick lang verdunkelte sich der Türspion, dann wurde die Tür von innen aufgeschlossen, während Roy einen Schritt hinter Julian zurücktrat.

In der Tür stand ein älterer, aber durchaus noch kraftvoll wirkender Mann, dessen ergrautes Haar sich von der Schädeldecke weitgehend zurückgezogen hatte, dessen Züge Julian aber von den Fahndungsfotos alter Ausgaben des Tagespropheten her wiederzuerkennen glaubte – den einzigen Bildern seines Großvaters, die er je zu Gesicht bekommen hatte.

Der alte und der junge Mann starrten einander an. Dann fragte Julian behutsam:

Rodolphus?“

Ohne ein weiteres Wort umarmten die beiden sich und hielten sich minutenlang fest, während sie wieder und wieder ihre Tränen verdrücken mussten. Als sie die Umarmung lösten, wies Julian auf Roy:

„Großvater, darf ich dir Roy MacAllister vorstellen? Er ist mein bester Freund, es war mir wichtig, ihn mitzubringen.“

„Von Ihnen habe ich schon im Tagespropheten gelesen, Roy“, sagte Rodolphus, während er Roys Hand schüttelte und zur Seite trat, um die beiden in die Wohnung zu lassen.

„Beziehst du den regelmäßig?“, fragte Julian.

„Nein“, erwiderte der Alte. „Ein Abonnement wäre womöglich verräterisch, aber ein Kollege von mir ist ein Squib, er überlässt mir oft die Ausgaben, die er schon gelesen hat. Er weiß nicht, wer ich bin, er hält mich auch für einen Squib. – Entschuldigt bitte, ich hatte euch nicht erwartet und daher nicht aufgeräumt.“

Er führte sie in das kleine Wohnzimmer. Es hätte der Entschuldigung nicht bedurft: Gemessen daran, dass sie das Zuhause eines alleinstehenden Mannes war, war Rodolphus‘ Wohnung ziemlich ordentlich und sauber – vermutlich bediente er sich eines Aufräumzaubers –, und eine gewisse Rest-Schlamperei sorgte nur für eine gemütliche Atmosphäre. Rodolphus zauberte drei volle Teetassen herbei.

„Leben eigentlich viele Squibs in der Muggelwelt?“, wollte Julian wissen.

„Mehr, als man meinen sollte. Ich glaube, jeder Muggel kennt irgendeinen, der zu ‚übersinnlichen Wahrnehmungen‘ fähig ist, wie die Muggel das nennen. Ich suche mir meine Bekannten vorzugsweise unter Squibs – auf reine Muggel würde ich wahrscheinlich leicht verschroben wirken.“

Es entstand eine Pause, in der Großvater und Enkel einander ansahen.

„Ich hätte dich gerne früher kennengelernt“, sagte Julian schließlich.

„Ich dich auch“, seufzte Rodolphus. „Hattest du einen bestimmten Anlass, nach mir zu suchen?“

„Wir haben dein Buch über den Eindringzauber des Dunklen Lords gelesen und dein Pseudonym entschlüsselt“, sagte Julian, während sein Großvater lächelte. „Eines wüsste ich gerne: Du hast das Buch mir gewidmet – aber wie konntest du wissen, dass ich es lesen würde? Die Chance war eins zu tausend, es stand in der Verbotenen Abteilung.“

„Dieses Buch ist eine Art Flaschenpost. Ich glaube heute, dass es so etwas wie Zufall nicht gibt. Wenn Gott will, dass eine Flaschenpost bei der Person ankommt, für die sie bestimmt ist, dann kommt sie auch an.“ Er nahm einen Schluck Tee. „Und so unwahrscheinlich war es nun auch wieder nicht, dass du nach Informationen über die Todesser suchen und ein Buch lesen würdest, das mit ‚Dunkler Lord‘ verschlagwortet ist. Ich hatte es Madam Pince anonym als Buchspende geschickt. Dass es in der Verbotenen Abteilung gelandet ist, wundert mich allerdings, schließlich stehen keine Anleitungen drin.“

„Und du bist sicher, dass Voldemort diese Art Eindringzauber benutzt hat, um seine Anhänger zu beherrschen?“

Der Alte nickte. „Was Bellatrix und mich, aber auch viele Andere angeht, ja. Es gab aber auch Einige, die er gar nicht zu verhexen brauchte.“

Walden Macnair zum Beispiel?“, fragte Julian.

Sein Großvater sah ihn erstaunt an, nickte aber. „Walden Macnair zum Beispiel. Woher weißt du das?“

„Wir – sein Sohn und ich – haben ihn neulich besucht.“

Walden war ein rauflustiger Abenteurer, dem Voldemort das aufregende Leben ermöglichte, das ihm lag.“

„Er scheint dich gut leiden zu können. Als wir ankamen, sagte er so etwas wie: Ein Lestrange ist ihm immer willkommen.“

Der Alte lächelte wieder. „Wir haben uns damals gut verstanden. Walden ist nicht das, was man einen guten Menschen nennen würde, aber er ist unkompliziert und hat einen gewissen trockenen Humor. Außerdem war er ein berserkerhafter, todesverachtender Kämpfer, genau der Typ, den man an seiner Seite haben möchte, wenn es brenzlig wird.“

Es entstand eine lange Pause. Dem Jungen brannte offenbar eine Frage auf der Zunge, und der Alte ließ ihm Zeit, sie zu formulieren. Schließlich begann Julian zögernd:

„Was…“ Er stockte. „Was war eigentlich mit den Longbottoms?“

Der Großvater antwortete nicht sofort. Er sah einen Moment zum Fenster hinaus, als gäbe es dort etwas Anderes zu sehen als pechschwarze Nacht.

„Das“, sagte er langsam, „ist eine der Fragen, vor denen ich mich gefürchtet habe, seit ich weiß, dass der Sohn der Longbottoms Lehrer in Hogwarts ist. Willst du es wirklich im Detail wissen?“

Julian zögerte kurz, sagte dann aber: „Ja.“

Rodolphus‘ Erzählung begann stockend, wurde dann aber immer flüssiger. Er schilderte, wie sie – er, Bellatrix, sein Bruder Rabastan und Barty Crouch jr. – nach dem ersten Sturz Voldemorts versuchten, dessen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Er beschrieb die Wirkung des Cruciatus-Fluchs, mit dem sie tagelang die beiden Auroren folterten, von denen sie glaubten, sie wüssten etwas darüber.

„Am Ende war von den beiden nicht mehr viel übrig“, schloss er seinen Bericht. „Man bekam nicht nur keine Informationen über Voldemort, sondern überhaupt kein vernünftiges Wort mehr aus ihnen heraus. Wir wollten sie schon töten, aber die Auroren kamen uns zuvor und befreiten sie. Einen Gefallen haben sie ihnen damit nicht getan, glaube ich. Ein Squib-Bekannter erzählte mir vor ein paar Jahren, dass er sie im St. Mungo gesehen habe. Ich weiß nicht, ob sie heute noch leben, aber sie werden die Klinik nie wieder verlassen. – Und wozu das alles? Nur um diesen Verbrecher zurückzuholen, dem wir verfallen waren!“

Er starrte düster ins Leere.

„Ihr macht euch keinen Begriff davon, wozu Menschen fähig sind, wenn sie glauben, es diene einem höheren Ziel. Und wenn dann noch jemand kommt, der ihr Gewissen völlig ausschaltet…“

„Wie kommt es eigentlich, dass du Voldemorts Manipulationstechnik so genau beschreiben kannst?“, wollte Julian wissen. „Ich meine… er wird euch doch nicht erzählt haben: Ich habe euch so und so manipuliert.“

„Doch“, sagte Rodolphus, „genau das hat er getan!“

Julian starrte seinen Großvater mit offenem Mund an. „Er hat es euch gesagt?“

„Kaum zu glauben, was?“

Ein bitteres Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

„Da sagt dir einer, ich habe dein Gewissen besetzt, ich habe die totale Kontrolle über dich, du bist nicht mehr als eine Marionette, und deine Seele wird daran zugrunde gehen – und du sitzt da, sagst zu allem Ja und Amen und glaubst, es müsse so sein!“ Rodolphus starrte auf den Boden. Plötzlich sah er nicht mehr wie ein rüstiger Sechziger aus, sondern wie ein gebrochener Greis.

„Weißt du, Julian“, sagte er leise, „dass ich zuließ, dass er das mit mir macht, war schlimm genug. Dass ich aber Bellatrix nicht geschützt habe, verzeihe ich mir nie! Von allen Taten und Unterlassungen, die ich bereue – und das sind einige –, war das die schlimmste. Ja, ich weiß, wie man heute über sie spricht, ich verstehe es sogar, nach all ihren – unseren – Verbrechen. Aber glaub mir, sie war nicht immer so! Als wir uns kennenlernten, war sie mehr als nur eine umwerfend schöne junge Frau, sie war klug, witzig, lebenslustig, ein bisschen frech, ein bisschen kokett, aber nicht zu sehr – zwischen uns funkte es sofort. Bellatrix war die große, die einzige Liebe meines Lebens. Sie war Alles für mich. Sogar das abscheuliche Zerrbild ihrer selbst, das am Ende von ihr übrig war, habe ich noch geliebt. Ich habe sie geliebt – und doch habe ich zugelassen, dass Voldemort ihre Seele zerstörte. Ich habe sie nicht geschützt!“

Er stützte die Ellbogen auf seine Knie und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Was er jahrelang in sich hineingefressen hatte, drängte mit Macht heraus.

„Ich habe sie nicht geschützt!“

Der Körper des alten Mannes bebte minutenlang unter stummen Schluchzern, während er, das Gesicht immer noch in den Händen verborgen, um Fassung rang. Schließlich atmete er ein paar Mal tief durch und richtete sich wieder auf.

„Entschuldigt bitte.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, sagte Julian, der seinerseits sichtlich Mühe hatte, mit seiner Erschütterung fertig zu werden. „Ich bin dein Enkel, mit wem willst du darüber reden, wenn nicht mit mir? Und ich finde, du bist zu gnadenlos mit dir selbst. Du standst selbst unter einem Fluch…“

„Ja, du bist mein Enkel, aber in der Natur ist nicht vorgesehen, dass Enkel ihre Großväter trösten. Es sollte umgekehrt sein! Außerdem hätte ich Voldemort gar nicht erst die Chance geben dürfen, in meine Seele einzudringen. Ihr wisst ja: Diese Art von Fluch funktioniert nur bei denen, die die Bereitschaft mitbringen, sich manipulieren zu lassen. Ja, ich war ein Opfer dieses Fluchs, aber kein unschuldiges Opfer, denn es ist der einzige Fluch, bei dem es so etwas wie unschuldige Opfer nicht gibt.“

Er sah nun Roy an, dessen Gegenwart er bis jetzt kaum wahrgenommen hatte. „Entschuldigen Sie dieses Schauspiel, Roy, Sie müssen ja einen schlimmen Eindruck haben.“

Roy, dessen Augen ebenfalls schimmerten, schüttelte den Kopf. „Ich hätte einen schlimmen Eindruck, wenn es Sie nicht mitnehmen würde.“

Alle nippten an ihrem Tee und schwiegen.

„Wir müssten über diesen Fluch noch einiges mehr erfahren“, nahm Julian schließlich das Gespräch wieder auf. „Wir glauben, dass irgendein Schwarzmagier, dessen Identität uns unbekannt ist, die Zaubereiministerin manipuliert.“ Er schilderte seinem Großvater ihre Beobachtungen der letzten Wochen. „Harry Potter, der sie sehr gut kennt…“

„Potter?“, unterbrach ihn Rodolphus. „Was habt ihr denn mit dem zu tun?“

„Sein Sohn Albus ist ein Slytherin und unser Freund. Dadurch ist der Kontakt zustande gekommen. Harry sagt, dass er immer häufiger Verhaltensweisen an ihr beobachtet, die für sie ungewöhnlich sind, einen Fanatismus und eine Intoleranz, die es so vorher wohl nicht gab. Bei ihrem letzten Zusammentreffen waren wir dabei. Das war, als sie ihn gefeuert hat. Sie schien plötzlich eine andere Person geworden zu sein.“

„Ja, ich habe davon gehört, dass Potter seines Postens enthoben worden ist, allerdings habe ich dem bisher keine Bedeutung beigemessen.“ Rodolphus dachte nach. „Nun, wenn es tatsächlich so ist, dann würde es genau zu dem passen, was der Dunkle Lord uns erzählt hat. Er übernahm zunächst nur sporadisch die Kontrolle, wenn es nötig war, dann immer häufiger und systematischer, bis er schließlich die Seele des Betroffenen ganz verdrängte.“

„Wir haben den Verdacht“, fuhr Julian fort, „dass der Sicherheitschef Cesar Anderson derjenige ist, der sie manipuliert, weil er über die nötigen Kenntnisse, ein Motiv und als ihr ständiger Begleiter über die Gelegenheit verfügt. Einen Beweis dafür haben wir allerdings nicht. Außerdem meint Harry, dass es nicht zwingend eine lebende Person sein müsste, sondern dass die Manipulation auch von einem magischen Gegenstand ausgehen könnte, einem Horkrux zum Beispiel.“

„Beides wäre denkbar, wenn der große Unbekannte sein Handwerk beim Dunklen Lord gelernt oder sich Informationen über seine Methoden verschafft hätte.“

Er schilderte Voldemorts Eindringmethoden, die sich enttäuschenderweise genau mit denen deckten, die auch Harry beschrieben hatte.

„Schade“, meinte Roy. „Wir hatten gehofft, Sie könnten uns irgendetwas sagen, was uns einen Hinweis gibt, wie man diesen Fluch brechen kann.“

„Tja, mein Bester“, sagte Rodolphus und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ich fürchte, wenn der Unbekannte die Methoden des Lords beherrscht, ist dagegen kein Kraut gewachsen. Ihr könntet die Ministerin natürlich töten, dann hätte der Betreffende seine Macht verloren, aber sie selbst wäre dann eben auch tot. Für ihre Seele wäre das vielleicht besser, als langsam abzusterben, aber dazu müsstest ihr kaltblütige Killer sein, und das seid ihr nicht. Und als einer, der das schon einmal war, kann ich euch nur dazu beglückwünschen.“

„Aber angenommen… also nur einmal angenommen, wir würden die Ministerin in unsere Gewalt bringen…“ begann Julian, während sein Großvater erstaunt die Augenbrauen hob, „gäbe es dann vielleicht einen Weg, den Schwarzen Magier auszuschalten?“

Julian wollte seinem Großvater nicht sagen, dass der Entführungsplan längst gefasst war, aber dieser begriff auch so, dass die Frage nicht bloß theoretisch gemeint war. Rodolphus stieß einen leisen Pfiff aus und nickte anerkennend mit dem Kopf.

„Donnerwetter, habt ihr Schneid!“, meinte er und sann nach. „Also nur mal angenommen, ihr hättet auch bei diesem Plan Harry Potter auf eurer Seite, dann habt ihr eine gewisse Erfolgschance, sonst nicht. Potter hat schon den Lord selbst besiegt, er wird wohl auch mit irgendeinem Epigonen fertigwerden. Ob und wie es geht, wird er allerdings selbst herausfinden müssen, ich kann euch keine Anleitung mitgeben, nicht einmal Fingerzeige. Dieser Fluch ist teuflisch genial, Voldemort selbst war fest überzeugt davon, dass es keinen Gegenfluch und auch sonst kein Gegenmittel gibt.“

„Denk nach, Großvater, hat Voldemort nicht wenigstens eine Andeutung hinterlassen, wonach man zu suchen hätte?“

„Hmmm“, brummte der Alte und fixierte einen imaginären Punkt in der Ferne. „Zwei Seelen in einer Person… und ihr wollt nur die eingedrungene böse Seele ausschalten und die andere schonen…“

Er kniff die Augen zusammen und sah konzentriert zur Decke.

„Es gäbe vielleicht etwas… Voldemort hat es einmal erwähnt…“

Er blickte wieder zu den beiden Jungs, die ihn erwartungsvoll ansahen.

„Mehr als ein vager Hinweis ist es allerdings nicht. Voldemort war besessen von allem, was mit Salazar Slytherin zu tun hatte – er hielt sich ja für dessen Erben –, und er sammelte nicht nur schriftliche Aufzeichnungen, von denen es leider nicht viele gibt, sondern auch Sagen und mündliche Überlieferungen. In seiner Zeit als Gehilfe bei Borgin & Burkes hat er umfangreiche Erkundigungen eingezogen. Er sagte uns, der Legende nach habe Slytherin zwei magische Waffen hinterlassen, eine dunkle Waffe der Zerstörung und eine helle der Heilung, also eine, die jeden Fluch bricht, jede Seele heilt und nur gegen das Böse wirkt, gegen dieses aber unwiderstehlich. Das würde zu dem passen, was wir bruchstückhaft über Slytherins magische Philosophie wissen. Slytherin dachte dualistisch, er war durchdrungen von der Idee, dass die helle und die dunkle Seite der Magie sich in einem gewissen Gleichgewicht befinden müssten.“

„Und was waren das für Waffen?“, fragte Roy gespannt.

„Die dunkle Waffe war der Basilisk, den er in Hogwarts einmauerte“, sagte Rodolphus, „die helle – tja, das wusste nicht einmal Voldemort. Ich glaube, es interessierte ihn auch nicht wirklich. Fürs Heilen fühlte er sich nicht zuständig.“

„Was könnte es denn gewesen sein?“ Julian hatte sich weit vorgebeugt. „Vielleicht so etwas wie das Gryffindor-Schwert?“

Rodolphus zuckte die Achseln. „Es könnte alles Mögliche sein – eine Waffe wie das Gryffindor-Schwert, ein Tier wie der Basilisk, aber ebenso gut eine Pflanze, ein Trank oder ein magischer Gegenstand. Zwei Dinge allerdings gelten wohl als sicher: So, wie das Gryffindor-Schwert nur von einem Gryffindor geführt werden kann, dienen auch Slytherins Waffen nur Slytherins. Und die Waffe muss sich in Hogwarts befinden.“

Nachdenkliche Stille breitete sich aus.

„Wir müssten wohl wieder in der Verbotenen Abteilung einen Hinweis suchen“, meinte Roy.

„Tut das“, erwiderte Rodolphus, „aber versprecht euch nicht zu viel davon. Wenn Voldemort, der die Bestände der Verbotenen Abteilung besser kannte als irgendwer sonst, es nicht gefunden hat, werdet ihr wahrscheinlich auch nichts finden, denn neue Bücher zu diesem Thema dürften in den letzten siebzig Jahren kaum erschienen sein.“

„Wir fragen Harry“, sagte Julian. „Vielleicht weiß er etwas, was er bisher nicht einordnen konnte, was aber unter diesen neuen Gesichtspunkten einen Sinn ergibt. Zugegeben eine vage Hoffnung.“

Nun endlich ging das Gespräch zu den privaten Themen über, die beiden Lestranges in diesem Moment weitaus mehr am Herzen lagen als Voldemort und die Zaubereiministerin. Es dauerte mehrere Stunden.

 

Nachdem sie kurz nach Mitternacht Rodolphus‘ Haus verlassen hatten, disapparierten Julian und Roy nicht sofort, sondern begannen in stillschweigendem Einverständnis, ungeachtet des immer noch schneidenden Windes durch die menschenleeren Straßen des nächtlichen Edinburgh zu streunen.

Keiner von beiden sagte ein Wort, bis sie an einer Tankstelle vorbeikamen, deren Pächter gerade damit beschäftigt war, den letzten Rest der billigen Blumensträuße, mit denen er sein Sonntagsgeschäft ein wenig angekurbelt hatte, in einen Müllsack zu stopfen.

„Verzeihung“, rief Roy, „könnte ich einen von denen haben?“

Der Tankstellenbesitzer sah ihn ungefähr so an wie ein Irrenarzt seinen Patienten.

„Was wollen Sie denn mit denen noch?“

In der Tat waren die Sträuße, die sicherlich von Anfang an ein wenig schäbig gewirkt hatten, nun endgültig von Sturm und Kälte ruiniert.

„Ach, da fällt mir schon etwas ein“, grinste Roy. „Also darf ich?“

„Wenn’s Sie glücklich macht – oder vielleicht Ihre Kaninchen – nehmen Sie sich, soviel Sie wollen!“

Roy nahm sich ein halbes Dutzend Sträuße. In einiger Entfernung von der Tankstelle holte er seinen Zauberstab hervor und verwandelte sie mit Hilfe des Blumenzaubers, den er von Julian gelernt hatte, in einen Traum aus Farben und Formen.

„Den zaubere ich Arabella ans Bett, damit er das erste ist, was sie morgen beim Aufwachen sieht.“

Julian lächelte. „Arabella tut dir sehr gut. Seit du mit ihr zusammen bist, bist du viel fröhlicher und gelöster. Man sieht dir an, wie glücklich du bist.“

Roy wurde ernst. „Das verdanke ich dir. Ohne deinen Tritt in den Hintern wäre ich weiter vor meinen Gefühlen davongerannt.“

„Wozu hat man Freunde?“, wehrte Julian ab.

Roy blieb stehen und sah ihn an. „Ich will dir mal was sagen: Freunde hat praktisch Jeder. Aber ich glaube, einen Freund wie dich haben nur wenige.“

„Danke“, sagte Julian geschmeichelt, „aber einen wie dich hat auch nicht Jeder. Ich bin dir jedenfalls sehr dankbar, dass du heute mitgekommen bist. Mir ist schon klar, dass du den Abend lieber mit ihr verbracht hättest.“

„Ich glaube“, sagte Roy nachdenklich, „die Lehre, die ich aus diesem Abend gezogen habe, war es wert.“

„Welche meinst du?“

„Du hast mir neulich gesagt, du wolltest mich davor bewahren, zu den traurigen Gestalten zu gehören, die im Alter darüber nachgrübeln, was sie in ihrer Jugend hätten tun sollen. – Dein Großvater konnte über alles sprechen, sogar über Morde und Folterungen. Er bereut sie bestimmt zutiefst, aber sie quälen ihn nicht. Was ihn quält, ist das, was er – nur durch Unterlassung – Bellatrix angetan hat! Für mich war es ein Aha-Erlebnis: Sogar ein Mörder kommt über seine Taten leichter hinweg als einer, der eine große Liebe verraten hat. Als ich Deinen Großvater zusammenbrechen sah, wusste ich, wovor du mich bewahrt hast. Danke.“

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