Der schneidende Wind fegte dunkelgraue Wolken vor sich her, und obwohl es an diesem Sonntag Mitte November erst ein Uhr mittags war, brannte hinter den Fenstern der meisten Muggelhäuser des Dörfchens Kinkirk schon oder noch Licht, als Julian und Roy unter dem Schutz eines Unsichtbarkeitszaubers in einem Wäldchen in der Nähe des Dorfes landeten, ihre Besen abstellten und sich wieder sichtbar machten. Sie hatten den Friedhof schon überflogen und gesehen, dass keine Besucher dort waren. Um diese Zeit saßen die Muggel beim Mittagessen.
Beide trugen Jeans und dicke Muggeljacken, um nicht mehr aufzufallen, als zwei Fremde in einem kleinen Dorf eben auffallen. Ihre Vorsicht erwies sich als überflüssig. Kein Mensch war bei diesem Wetter auf der Straße, und niemand schien aus dem Fenster zu sehen.
Bei Sonnenschein hätte der Dorffriedhof mit seinen vielen verfallenen, teils moosüberwucherten Grabsteinen neben der uralten Kirche etwas Romantisches gehabt, heute aber wirkte er nur trostlos. Die beiden fanden schnell die Gedenktafel für die Kriegsgefallenen des Dorfes, sahen sich kurz um, ob auch niemand sie beobachtete, und durchschritten die Gedenkplatte mit derselben Leichtigkeit wie sonst die Absperrungen am Bahnhof King’s Cross.
Vor ihnen lag ein Gräberfeld, das sich von dem der Muggel dadurch unterschied, dass keines der Gräber mit einem Kreuz geschmückt war und viele von ihnen nicht einmal einen Grabstein aufwiesen. Bei ihnen verrieten lediglich die Schildchen, die das Ministerium auf den Gräbern der Todesser hatte anbringen lassen, wer dort bestattet war.
Auf der Suche nach den Gräbern der Lestranges gingen sie gemessenen Schrittes die Gräberreihen entlang. Während Julian voranging, bekreuzigte sich Roy.
In der zweiten Reihe stießen sie auf das Doppelgrab von Rodolphus und Bellatrix. Roy blieb diskret zurück, als Julian an das Grab trat und minutenlang schweigend stehenblieb. Während Julian ganz in die stumme Zwiesprache mit seinen Großeltern versunken war, musterte Roy das Grab genauer: Die Schildchen des Ministeriums waren noch da, aber zusätzlich erhob sich über dem Grab ein großer Stein aus herrlichem rosa Marmor. Roy runzelte die Stirn: Während auf den Ministeriumsschildchen deutlich beide Namen zu lesen waren, stand auf dem Grabstein nur der von Bellatrix. Merkwürdig. Wer hatte diesen Grabstein überhaupt aufstellen lassen? Die Malfoys waren es nicht gewesen – Scorpius, Julians Vetter zweiten Grades, hatte auf Julians Bitte hin extra zu Hause nachgefragt, ob sie sich um das Grab gekümmert oder die Toten vielleicht umgebettet hatten. Und warum hätten die Malfoys – oder wer auch immer – Rodolphus‘ Namen unterschlagen sollen?
Nach einigen Minuten zog Julian zwei winzige Blumensträuße aus seiner Jackentasche, brachte sie mit einem Vergrößerungszauber wieder auf ihre Normalgröße, sodass man nun sehen konnte, dass es seine Spezialblumensträuße waren, und legte einen auf jedes Grab.
Plötzlich vernahmen beide ein diskretes Hüsteln hinter sich. Als sie sich umdrehten, standen sie einem hageren, eher klein gewachsenen, schwarzgekleideten Mann mit ernstem Gesicht gegenüber, der in den Fünfzigern sein mochte.
„John MacBride. Ich bin der Friedhofswärter.“
Er konnte nichts Anderes sein. Jahrzehnte täglich geübter Pietät hatten Spuren in seinen Zügen hinterlassen, zu deren vielen Falten keine Lachfalten zu gehören schienen.
„Roy MacAllister“ – „Julian Lestrange“, stellten die beiden jungen Männer sich ihrerseits vor.
Als Julian seinen Namen nannte, zog MacBride interessiert die Augenbrauen hoch.
„Mister Lestrange! Wie schön, dass Sie kommen konnten!“, rief er, als habe er einen lang erwarteten, gern gesehenen Gast vor sich. „Wenn Sie mir bitte in mein Büro folgen möchten, für Sie ist eine Nachricht hinterlegt worden.“
Noch bevor die beiden verdutzten Jungs irgendetwas sagen konnten, machte er kehrt und ging auf die Rückseite der Gedenktafel zu. Roy und Julian beeilten sich, ihm zu folgen.
Das Büro des Friedhofswärters war klein und etwas schäbig, aber ordentlich aufgeräumt. Alle Wände waren hinter Regalen voller Ordner verborgen, die bis zur Decke reichten. MacBride schloss eine der Schubladen seines Schreibtischs auf, blätterte in den darin liegenden Unterlagen und zog schließlich ein versiegeltes Briefkuvert heraus.
„Der Gentleman, der den Grabstein aufstellen ließ“, erläuterte er, „hat mir dies mit der Anweisung hinterlassen, es nur Julian Lestrange, also Ihnen, zu übergeben.“ Er nickte Julian zu und überreichte ihm das Kuvert.
„Eine Frage, Sir“, meldete sich Roy. „Warum hat dieser Herr auf den Grabstein nur einen der beiden Namen gravieren lassen?“
„Das habe ich ihn auch gefragt“, sagte MacBride, „aber er hat mich, äh, überredet, keine weiteren Fragen zu stellen und nur diese Nachricht aufzubewahren.“
Muss ja ein dickes Trinkgeld gegeben haben, dieser Gentleman, dachte Roy, während Julian das Siegel erbrach und den Umschlag öffnete. Er enthielt zwei Blätter, die in enger Handschrift beschrieben waren. Julian las die ersten Zeilen, dann die letzten – und starrte den Friedhofswärter mit offenem Mund an. „Wann war dieser Mann hier?“, fragte er.
„Das war 2007, vor ziemlich genau zehn Jahren“, antwortete MacBride.
Julian sah ihn noch einen Moment an, als erwartete er weitere Erläuterungen, dann faltete er die beiden Blätter zusammen, steckte sie in den Umschlag zurück und erhob sich.
„Ich danke Ihnen vielmals, Mister MacBride. Nun möchte ich Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.“ Er gab ihm die Hand, und nachdem auch der verwunderte Roy sich verabschiedet hatte, traten beide wieder ins Freie.
Als sie sich einige Schritte von dem kleinen Bürohäuschen entfernt hatten, raunte Julian Roy zu: „Er lebt.“
„Rodolphus?“, fragte Roy, als könne irgendjemand anderes gemeint sein.
Julian nickte. „Der Brief ist von ihm.“
Da Julian beim Lesen unbeobachtet bleiben wollte, gingen sie zunächst zurück in das Wäldchen, in dem sie ihre Besen abgestellt hatten.
„Wir sollten einfach disapparieren“, schlug Roy vor. „Das mit den Besen wäre gar nicht nötig gewesen, dieser MacBride ist offenbar kein Ministeriumsspitzel, der uns wegen illegalen Apparierens anzeigt.“
Julian stimmte ihm zu, beide disapparierten und fanden sich mitsamt ihren Besen in ihrem Geheimraum in Hogwarts wieder. Als sie es sich auf den Sitzkissen bequem gemacht hatten, zog Julian erneut den Umschlag hervor und begann vorzulesen:
Kinkirk, 4. November 2007
Lieber Julian,
wenn Du diesen Brief liest, werden von heute an gerechnet sicherlich einige Jahre vergangen sein, aber Du kannst sicher sein, dass ich, Dein Großvater Rodolphus Lestrange, noch am Leben bin.
Während der Flucht aus Hogwarts nach der Schlacht von 1998 habe ich der Leiche meines gefallenen Bruders Rabastan mit einem Verwechslungszauber meine Gestalt verliehen, um mich der Verfolgung durch die Auroren zu entziehen. Mein Bruder liegt in dem Grab, das mit meinem Namen bezeichnet ist. In meinem Testament nenne ich meine wirkliche Identität und die des Toten. Ich habe auch etwas Geld zurückgelegt, damit mein Bruder würdig umgebettet werden und ich meine letzte Ruhe an Bellatrix‘ Seite finden kann. Ich habe des Weiteren verfügt, dass Du im Falle meines tatsächlichen Ablebens benachrichtigt wirst. Daran, dass Du eine solche Nachricht nicht bekommen hast, kannst du erkennen, dass ich noch lebe.
Vielleicht fragst Du Dich, warum ich nicht einfach Kontakt zu Dir aufnehme. Spätestens, wenn Du nach Hogwarts kommst und Dein Vater keine Briefe mehr abfangen kann, wird das ja möglich sein.
Nun, ich habe Deinen Vater vor einem Jahr, also 2006, in der Gestalt eines ihm bekannten Zauberers aufgesucht – Vielsaft macht’s möglich – und lange mit ihm gesprochen. Es war schwer, den Hass und die Verachtung zu ertragen, mit denen er von Bellatrix und mir, seinen Eltern, sprach. Er sagte mir, wenn sein Vater noch am Leben wäre, würde er ihn ohne Weiteres dem Ministerium ans Messer liefern. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch Dich zum einzigen Mal in meinem Leben gesehen, und ich darf sagen, dass ich sehr stolz auf Dich war und bin. Leider musste ich dem Gespräch mit Deinem Vater entnehmen, dass er auch Dich in demselben Geist des Hasses und der Verachtung gegen uns erziehen würde, der ihm selbst eingetrichtert worden war.
Ich will ihn nicht verurteilen, denn wir selbst haben seinem Leben die schwere Hypothek auferlegt, die er an Dich weitergab. Ich finde, wenn es Dir ungeachtet dieser Hypothek gelingt, ein glückliches Leben zu führen, dann habe ich nicht das Recht, mich in dieses Leben zu drängen. Du aber hast jedes Recht, mich zu finden, wenn Du das möchtest. Da Du genug Interesse an mir hast, um mein Grab aufzusuchen, kann ich davon ausgehen, dass Du auch interessiert daran bist, mich kennenzulernen. Das ist auch der Grund, warum mein Name nicht auf dem Grabstein steht. Ich wollte sichergehen, dass Du Dich genug wunderst, um den Friedhofswärter zu fragen, falls er Deine Ankunft nicht selbst bemerken sollte.
Ich gestehe auch, dass ich mich ein wenig vor Deinen Fragen über meine Zeit bei den Todessern fürchte, aber Du hast das Recht, sie mir zu stellen. Du solltest wissen, dass ich die vielen Verbrechen, die ich unter Voldemorts Einfluss begangen habe, zutiefst bereue. Ich möchte Dir aber gerne erklären, wie es dazu kommen konnte, dass er junge Leute wie uns so in seinen Bann zog, dass wir in seinem Dienst buchstäblich vor nichts zurückschreckten.
Ich bin in der Muggelwelt untergetaucht und lebe heute in Edinburgh – London wäre wegen der vielen Ministeriumsleute dort zu gefährlich. Du findest mich an der Adresse Leamington Terrace Nr. 5. Sollte ich bis zu Deinem Eintreffen umgezogen sein, werde ich dafür sorgen, dass man Dir meine neue Adresse nennt. Allerdings habe ich nicht vor umzuziehen. Ich führe hier – unter dem Namen Timothy Williams – eine unauffällige Existenz als Taxifahrer. Wenn Du mich besuchen kommen möchtest, dann am besten nach 6 Uhr abends, wenn ich meine Schicht beendet habe.
Ich bin sehr glücklich, dass es Dich gibt, und sehne mich danach, mit Dir zu sprechen.
Dein Großvater
Roy sah, dass Julian mit seinen Tränen kämpfte, als er den Brief sinken ließ. Keiner von beiden sagte ein Wort.
Julian brach schließlich das Schweigen. „Dafür könnte ich meinen Vater umbringen!“
„Wenn dein Großvater ihn nicht verurteilt“, meinte Roy vorsichtig, „solltest du es vielleicht auch nicht tun.“
„Hör auf!“, schnauzte Julian ihn an. „Es ist ein menschliches Urgesetz, zu seiner Familie zu halten! Hätte er sich daran gehalten, dann hätte Rodolphus sich zu erkennen geben können, und ich hätte einen Großvater gehabt. Er hatte nicht das Recht, mir das vorzuenthalten!“ Seine Lippen bebten.
Roy sah ein, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion war, zumal Julian ja nicht unrecht hatte, sagte aber: „Wenn ich du wäre, würde ich jetzt nicht an meinen Vater, sondern an den Großvater denken. Wirst du ihn besuchen?“
„Selbstverständlich!“, rief Julian. „Und zwar noch heute!“
„Gut, dann wirst du McGonagall sagen, dass du noch einen ehemaligen Todesser ausfindig gemacht hast, und sie um die Erlaubnis bitten, noch heute nach Edinburgh zu disapparieren und gegebenenfalls erst spät zurückzukommen.“
Julian sah ihn verwundert an. „Kommst du nicht mit?“
„Ich möchte nicht stören, es ist doch eine familiäre Sache, etwas sehr Persönliches…“
„Ja eben! Du bist mein bester Freund, ich lege Wert darauf, dich dabeizuhaben!“
Roy hatte eigentlich vorgehabt, die Zeit mit Arabella zu verbringen, aber da sein bester Freund ihn brauchte, würde er ihn nicht alleinlassen. Arabella würde es verstehen. Er lächelte.
„Dann natürlich gerne!“
Ich merke gerade, dass es gar keine Halloween-Katastrophe gegeben hat. Die sollte es schon aus Traditionsgründen geben. 😉