27 – Julians Mahnung

 

Im Zaubertrankunterricht hatten Roy und Patricia gerade gemeinsam versucht, den starken Betäubungstrank der Lebenden Toten zu brauen, waren aber – ungewöhnlich für ihre Verhältnisse – grandios daran gescheitert, und zwar deshalb, weil sie mehr Augen füreinander hatten als für ihren Trank.

Als sie Whiteman, der ihren Flirt mit grimmiger Miene verfolgt hatte, die dunkelbraune Brühe zeigten, die sie zustande gebracht hatten, kitzelten sie damit seinen Sarkasmus wach:

„Miss Higrave, Mister MacAllister! Ich weiß nicht, was Sie hier zusammengebraut haben, aber falls sich herausstellen sollte, dass es zufällig ein Trank ist, der gewisse Hormone neutralisiert, kann ich Ihnen beiden nur dringend empfehlen, ihn zu trinken.“

Die Klasse, bestehend aus Schülern aller Häuser, lachte schallend, und selbst die beiden Angesprochenen schmunzelten, wenn auch etwas verlegen. Das Knistern zwischen Roy und Patricia war längst Schulhof-Tratschthema, und die Wetten, die dabei abgeschlossen wurden, drehten sich nicht mehr um die Frage, ob, sondern wann sie ein Paar werden würden.

Als der Unterricht zu Ende war, wollte Roy auf Patricia warten, die noch etwas mit Whiteman zu besprechen hatte, aber Julian drängte ihn mit sanfter Gewalt aus dem Klassenzimmer.

„Sag mal“, fragte Julian, als sie in Richtung der Großen Halle zum Mittagessen schlenderten, „findest du nicht, dass du deinen Flirt mit Patricia gewaltig übertreibst?“

Roy blieb stehen, sah seinen Freund mit offenem Mund an und brauchte einen Moment, um zu antworten: „Findest du nicht, dass gerade du genau der falsche Mann bist, mir mit Moralpredigten zu kommen?“

„Dafür wäre ich der Falsche“, bestätigte Julian gleichmütig, „aber ich bin der einzige, der sich traut, dir in den Hintern zu treten, um dich vor deiner eigenen Dummheit zu schützen.“

„Dummheit?“, fragte Roy empört.

„Intellektuell bist du der klügste Mensch, den ich kenne“, meinte Julian sanft, „aber in Gefühlsdingen vermutlich der größte Hornochse des Planeten.“

„Wie bitte?“ Roy wirkte beleidigt – aber Julian gehörte zu den wenigen Menschen, die so mit ihm reden durften.

„Nun ja, wie soll ich einen denn nennen, der die Taube in der Hand sausen lässt, um sich nach dem Spatz auf dem Dach zu strecken?“

„Patty ist kein Spatz, und sie sitzt nicht auf dem Dach“, erwiderte Roy indigniert.

„Für das, was du willst und brauchst, ist sie genau das. – Ich verstehe ja, dass es prickelnd, schmeichelhaft und reizvoll ist, wenn das schönste Mädchen der Schule einem schöne Augen macht…“

„Sie ist nicht nur schön, sie hat auch Charakter!“, rief Roy zornig dazwischen. „Oder hast du schon vergessen, wie sie sich für uns alle aus dem Fenster gelehnt hat, als…“

„Ich habe es nicht vergessen“, unterbrach ihn Julian, „und ja, sie hat mehr Charakter gezeigt, als wir alle ihr zugetraut hätten. Nur hatte es ja seinen Grund, warum wir es ihr nicht zutrauten. Patty ist eine, der es wichtig ist, nicht anzuecken, die Erwartungen der Familie zu erfüllen, gesellschaftlich anerkannt zu sein und so weiter. Dass sie jetzt einmal über ihren Schatten gesprungen ist, heißt nicht, dass sie ihr Leben damit verbringen will und wird, ständig über ihren Schatten zu springen. Der Mann, bei dem sie irgendwann kleben bleiben wird, wirst nicht du sein.“

„Warum denn nicht?“

„Allein schon deshalb, weil die Familie Higrave kaum einen muggelstämmigen Schwiegersohn akzeptieren wird. Um überhaupt eine kleine Chance zu haben, müsstest du schon aus dem Muggeladel stammen – oder aber wenigstens ein Karrieretyp sein, wie es die Higraves selber sind: strebsam, glatt, pflegeleicht. Du bist aber ein unangepasster Querkopf. So einen wollen die nicht. Glaub mir, diese Familien aus dem Reinblüter-Establishment haben einen phantastischen Instinkt dafür, wer zu ihnen passt und wer nicht.“

„Schwiegersohn…“ murmelte Roy stirnrunzelnd. „Findest du nicht, dass du ein bisschen arg weit vorgreifst? Hallo? Ich bin sechzehn, ich muss doch nicht jetzt schon die Frau fürs Leben finden!“

„Doch, musst du. Ich muss es nicht, aber du schon.“

„Warum das denn?“ Roy klang verärgert.

„Weil du bist, wie du bist“, erwiderte Julian. „Du nimmst das Leben, und gerade deine Beziehungen zu anderen Menschen, ungeheuer ernst. Wer außer dir hätte zum Beispiel Ginny Potter versprochen, ihren Sohn mit dem eigenen Leben zu schützen? Und ich weiß, du meinst das so und stehst zu deinem Versprechen! Das ist überhaupt kein Fehler, ganz im Gegenteil! Es heißt aber, dass du nicht, wie ich, der Typ bist, der alle zwei Monate die Freundin wechseln kann. Eigentlich kannst du sie gar nicht wechseln. Du tust dich ungeheuer schwer, Vertrauen zu fassen und dich an jemanden zu binden, aber wenn du dich bindest, lässt du garantiert nicht mehr los. Deshalb darfst du dir keine Freundin suchen, die dich eines Tages fallen lässt. Du würdest daran zerbrechen.“

Sie waren an einem Fenster stehengeblieben, von dem aus man das Quidditch-Stadion im Blick hatte. Roy starrte hinaus. „Und du meinst, Patricia würde mich fallenlassen?“

„Sie ist kein schlechter Mensch, versteh das bitte nicht falsch. Aber sie würde mit dir nicht glücklich werden und du mit ihr auch nicht. Ihr seid so verschieden, wie zwei Menschen nur sein können. Sicher“, gab Julian zu, „kurzfristig ist das reizvoll. Es ist schon etwas dran an dem Sprichwort, dass Gegensätze sich anziehen. Es wundert mich nicht, dass gerade ein so angepasstes Mädchen wie sie von einem so rebellischen Typ wie dir fasziniert ist. Aber diese Art Anziehung ist oberflächlich und verbraucht sich schnell. Über kurz oder lang wird Patricia gehen, und deine Seele, mein Freund, ist viel zu zerbrechlich, um eine solche Enttäuschung unbeschadet zu überstehen.“

Meine Seele ist zerbrechlich?“, fragte Roy verblüfft und leicht pikiert.

„O je“, stöhnte Julian, „du kennst dich selber wirklich überhaupt nicht! Du bist viel verletzlicher, als du zugibst und selber wahrhaben willst. Was du brauchst, ist ein Mädchen, das dir ähnlich ist und genau dieselben tiefen Sehnsüchte und auch Ängste hat wie du, und das dich vor allem über alles liebt. Und dieses Mädchen läuft direkt vor deiner Nase herum!“

Julian rückte nun nah an Roy heran und sprach leise und eindringlich: „Solltest du einmal nach Askaban kommen – und du hast beste Aussichten, dort zu landen –, dann wird Patricia dich dort nicht einmal besuchen. Arabella dagegen würde dich nicht nur besuchen, sie würde sich selbst dort einlochen lassen, wenn sie es dir dadurch ersparen könnte! Und du trampelst wie ein tollwütiges Nashorn auf ihren Gefühlen herum…“

„Ich trampele nicht auf ihren Gefühlen herum. In Arabellas Gegenwart flirte ich nicht mit Patty! Aber Zaubertränke hat sie ja abgewählt.“

„Ach, und du glaubst, es macht ihr nichts aus, dass die ganze Schule über dich und Patty redet? Natürlich trampelst du auf ihren Gefühlen herum, und das, obwohl du für sie mindestens genauso viel empfindest wie sie für dich. Und ganz bestimmt mehr als für Patricia!“

„Woher willst du das wissen?“, zischte Roy ihn an.

„Die geradezu magnetische Anziehung zwischen dir und Arabella könnte ohnehin nur ein Blinder übersehen. Aber den endgültigen Beweis habe ich seit letzter Woche. Ich habe dich genau beobachtet, als Whiteman uns den Amortentia-Trank gezeigt hat. Dieser Trank riecht für jeden Menschen anders – immer nach dem, wonach er sich am meisten sehnt. Und genau diese Stunde war die einzige Zaubertrankstunde, in der du nicht mit Patricia geflirtet hast!“

Roy starrte wieder zum Fenster hinaus. Julian ließ nicht locker:

„Der Trank roch nicht nach Patricia, stimmt’s?“

„Stimmt“, knurrte Roy.

„Sondern nach?“

„Lass uns weitergehen.“

Sie setzten ihren Weg schweigend fort. Kurz vor der Großen Halle blieb Roy noch einmal stehen. Er blickte zu Boden, als er sagte: „Das ist alles nicht so einfach mit Arabella. Ich weiß auch nicht…“

Julian ächzte. „Du bist nicht nur der klügste, sondern leider auch mit weitem Abstand der komplizierteste Mensch, den ich kenne. Von Arabella würdest du alles bekommen, wonach du dich sehnst, genau die tiefe Bindung, die deinem Wesen entspricht, aber du hast Angst davor, es wirklich zu bekommen, und genau deshalb läufst du vor ihr davon! Dieser Flirt mit Patricia ist eine Flucht! Stimmt doch, oder?“

Ohne Julians Frage zu beantworten, fragte Roy zurück: „Warum sagst du mir das eigentlich alles?“

„Ich möchte nicht, dass du irgendwann eine jener traurigen Gestalten wirst, die mit fünfzig darüber nachgrübeln, was sie mit fünfzehn oder sechzehn hätten tun sollen. Sei froh, dass du einen Freund hast, der es dir jetzt sagt.“

Roy starrte vor sich hin. Dann sagte er unvermittelt:

„Bin ich. Lass uns Mittag essen gehen.“

In der Großen Halle hatte Whitemans Bonmot offenbar in Windeseile die Runde gemacht, und Roy wurde von zahllosen grinsenden Gesichtern empfangen, die er aber kaum wahrnahm. Er setzte sich und lud sich gedankenverloren zwei Hähnchenkeulen und eine Riesenportion Reis auf den Teller. Als er den Kopf hob, sah er in die unendlich traurigen Augen Arabellas, die ein paar Plätze versetzt gegenüber saß und ihn unverwandt ansah.

Er senkte schnell den Blick.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.