15 – Ein Fluch?

 

Harry apparierte in seinem Wohnzimmer, um Ginny nicht zu wecken, falls sie schon schlief. Natürlich schlief sie nicht. Als Harry ins Schlafzimmer trat, legte sie das Buch zur Seite, in dem sie gelesen hatte.

„Ich sagte doch, du solltest nicht auf mich warten“, sagte er mit liebevollem Vorwurf, bevor er sie in die Arme nahm und küsste.

„Seit wann halte ich mich an das, was du sagst?“, erwiderte sie grinsend. Sie wartete, bis Harry sich ausgezogen hatte, wieder aus dem Badezimmer zurückkam und sich neben sie legte.

„Nun schieß los,“ sagte sie und kuschelte sich an ihn.

Harry war nach dem langen Tag mit all seinen Aufregungen todmüde, aber er wusste, dass es zwecklos gewesen wäre, sie auf morgen zu vertrösten.

„Also zunächst einmal:“ begann er. „Roy MacAllister ist wirklich und aufrichtig Albus‚ Freund. Ich habe ein Gespräch zwischen ihm und einer Freundin belauscht, und da sagte er…“

Einer Freundin oder seiner Freundin?“, fragte Ginny, die es genau wissen wollte.

„Seiner besten Freundin. Ich glaube, sie stehen zueinander ungefähr so wie Ron und Hermine früher. Beste Freunde, die eigentlich mehr als nur Freundschaft füreinander empfinden, aber den Mund nicht aufbekommen, weil sie ihre Freundschaft nicht riskieren möchten, und sich ihre Gefühle deshalb nur in Form von Eifersuchtsszenen gestehen können.“

„Ich verstehe“, sagte Ginny lächelnd, „und was hat er zu ihr gesagt?“

„Sie fragte ihn, warum er eigentlich an unserem Sohn einen solchen Narren gefressen habe. Weißt du, was er gesagt hat? Er sagte, Albus sei genau so, wie er sich seinen kleinen Bruder wünschen würde, wenn er einen hätte.“

„Och wie goldig!“ Ginny war ganz gerührt. „Und so einen hält Hermine für einen Todesser?“, gluckste sie.

„Ich sage ja, Hermine verrennt sich. Ich habe ihn und Julian Lestrange übrigens für Sonntag Nachmittag zu uns eingeladen. Ich sagte zu ihm, du würdest sie bestimmt auch gern kennenlernen wollen. – Ich hoffe, du hast nichts dagegen“, fügte er hinzu, als sie ihn überrascht ansah.

„Gar nicht“, meinte sie verwundert, „ich verstehe es nur nicht ganz. Wenn du mir sagst, dass er in Ordnung ist, vertraue ich dir doch.“

„Es, äh, war auch nicht ganz der wirkliche Grund“, sagte Harry leicht verlegen. „Ich möchte den Kontakt gern aufrechterhalten, um ihn im Auge zu haben.“

Ginny setzte sich auf und sah ihn fragend an.

„Hermines Todesser-Obsession“, erläuterte Harry, „ist natürlich Quatsch. Er und seine Freunde sind junge Leute, die sich Sorgen um die Zukunft der magischen Welt und damit auch um ihre eigene machen. Nicht zu Unrecht, wenn du mich fragst. Aber ganz so harmlos, wie McGonagall sie sieht, sind sie nun auch wieder nicht. Stell dir vor, sie…“ – er zögerte ein wenig – „sie haben ernsthaft darüber diskutiert, auf Hermine einen Mordanschlag zu verüben.“

„Was?“, flüsterte Ginny mit vor Schreck geweiteten Augen.

„MacAllister hat offenbar sehr vehement dagegen gesprochen, nicht zuletzt aus Rücksicht auf Albus übrigens. Er hat zu seiner Freundin gesagt, das Thema sei endgültig vom Tisch, und sie hat ihm nicht widersprochen.“

„Ja, aber dass sie überhaupt auf so etwas kommen!“

Ginny fiel es schwer, sich zu beruhigen.

„Ich sage ja: So richtig harmlos sind sie nicht. Und das, was sie sich stattdessen ausgedacht haben, klingt freundlicher, hat aber auch seine Tücken.“

„Und was ist das?“

„Sie gehen wie Albus davon aus“, antwortete Harry, „dass Hermine unter einem Fluch steht, durch den sie fremdgesteuert wird, und wollen herausfinden, welcher das ist, und wie man ihn vielleicht durch einen Gegenzauber aufheben kann.“

„Das klingt allerdings viel freundlicher, eigentlich richtig nett“, meinte Ginny. „Das heißt, sie sehen in Hermine jetzt eher eine Art Patientin als einen Feind?“

„Ääh, jein“, sagte Harry gedehnt. „MacAllister hat mir ziemlich offen gesagt, dass er sich über Kontrollzauber informieren wird. Was er nicht gesagt hat – aber er ist viel zu intelligent, es nicht zu wissen: Wenn er nichts findet, was er durch einen Gegenfluch neutralisieren kann – und wir wissen ja gar nicht, ob sie unter einem Fluch steht – wenn er also nichts findet, hat er sich dennoch tief genug in die Schwarze Magie eingearbeitet, um Hermine seinerseits durch einen Fluch zu manipulieren. Und ich sage dir, der Kerl ist hochbegabt! Er hat mir einen Zauber gezeigt, den er selbst entwickelt hat, und der wirklich genieverdächtig ist. Und offenbar hat er noch mehr davon ausgearbeitet. Ich möchte ihn ungern auf der anderen Seite sehen. Bei dem Gedanken, dass er Hermine ins Visier nehmen könnte, auch wenn er sie nicht tötet – das wird er nicht tun, da bin ich sicher –, aber da wird mir trotzdem angst und bange.“

„Ah ja“, meinte Ginny verstehend, „und weil du nicht gegen ihn ermitteln kannst, solange er nichts Verboteneres tut als nachts in der Verbotenen Abteilung zu spionieren, willst du den Kontakt halten, um ihn wenigstens im Blick zu haben und notfalls beeinflussen zu können.“

„So ist es“, bestätigte Harry.

Sie schwiegen eine Weile.

„Wirst du Hermine davon erzählen?“, fragte sie schließlich.

„Um Gottes willen, nein! Ich werde Hermines Paranoia nicht noch anheizen. Du weißt, ich würde jederzeit mein Leben opfern, um ihres zu retten, aber ich finde nicht, dass sie Alles wissen muss.“

„Aber du kannst doch jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, wandte Ginny ein.

„Das habe ich auch nicht vor. Ich werde sämtliche Schutzvorkehrungen für Hermine noch einmal prüfen und gegebenenfalls verschärfen. Selbst wenn unsere Slytherin-Freunde überhaupt nichts unternehmen sollten, hat der Tag mir klargemacht, wie tief die Gräben im Land geworden sind. Wer weiß, wie viele kleine Zirkel es sonst noch gibt, die vielleicht nicht vor einem Anschlag zurückschrecken. Und dann… tja, dann muss ich selber versuchen herauszufinden, unter was für einem Fluch sie steht.“

„Du glaubst auch an einen Fluch?“, fragte sie schaudernd.

„Du hast mich gestern Abend nach meinem Gefühl gefragt. Und mein Gefühl sagt: Ja.“

 

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