„Ich fasse zusammen.“
Roy fand, dass die Diskussion der Unbestechlichen, die nun schon seit über einer Stunde in ihrem Geheimraum zusammensaßen, lang genug gedauert hatte und sich im Kreis zu drehen begann.
„Das Zaubereiministerium setzt seine Pläne zur Verschmelzung der magischen mit der Muggelwelt konsequent fort und will nun jede Opposition dagegen im Keim ersticken. Zu diesem Zweck verschärft es schrittweise die Gesetze, bis es die Handhabe hat, praktisch jeden beliebigen Gegner aus dem Verkehr zu ziehen. Da es, wie Hermie sagte, ‚der Erziehung junger Hexen und Zauberer besondere Bedeutung beimisst‘, wird es versuchen, Hogwarts gleichzuschalten, und weil McGonagall sich nicht fügen will, wird sie langsam demontiert; wir wissen nicht, wie lange sie sich noch halten kann. Eine gewisse Frist hat sie noch, weil das öffentliche Ansehen einer Minerva McGonagall nicht so schnell zu erschüttern ist. Da die Gryffindors den ganzen Tag über versucht haben, Zwischenfälle heraufzubeschwören, müssen wir davon ausgehen, dass sie es darauf anlegen, Gewalttätigkeiten zu provozieren, die dem Ministerium Anlässe zum Eingreifen liefern. Die Frage ist, was wir gegen diese Politik unternehmen können.“
Nun ergriff Ares Macnair das Wort:
„Im Krieg muss man immer den stärksten Angriff gegen den schwächsten Punkt führen. Versetzen wir uns in Hermies Lage. Ihr Schwachpunkt ist die geringe aktive Unterstützung, die sie im Establishment, in den einflussreichen Kreisen und wahrscheinlich sogar in ihrer eigenen Ministerialbürokratie genießt. Muggelregierungen mit vergleichbaren Zielsetzungen können auf mehr oder weniger gleichgeschaltete Eliten zurückgreifen. Hermie müsste diese Arbeit der Gleichschaltung erst noch leisten, daher ihre strategische Konzentration auf Hogwarts, die aber aus ihrer Sicht erst langfristig Früchte tragen wird. Außer dem Tagespropheten und ein paar Fanatikern hat sie niemanden, der sie wirklich entschlossen unterstützt. Allerdings, und das ist wiederum unser Problem, auch niemanden, der ihr entschlossen Widerstand leisten will. Die Zaubererwelt nimmt passiv hin, dass ihre Grundlagen zerstört werden. Alle stecken den Kopf in den Sand, lassen sich von ihren Phrasen einlullen und sind ganz begeistert, eine so dynamische junge Ministerin zu haben. Unser Problem liegt also allein in der Person der Ministerin. Ohne sie fände diese Politik nicht statt.“
Die fragenden Blicke der Anderen forderten Ares auf, weiterzureden.
„Damit ist die Anzahl unserer Optionen ziemlich überschaubar: Erstens könnten wir versuchen, sie mit Argumenten von ihrer Politik abzubringen, bei ihrem Fanatismus zugegebenermaßen eine rein theoretische Möglichkeit, ganz abgesehen von dem Problem, sie zum Zuhören zu zwingen. Zweitens könnten wir versuchen, sie als Ministerin zu stürzen und durch jemand anderen zu ersetzen. Dem steht entgegen, dass sie populär ist und den Tagespropheten auf ihrer Seite hat, während wir überhaupt keinen Einfluss haben und nicht einmal einen überzeugenden Gegenkandidaten präsentieren könnten. Bleibt Option Nummer drei.“
Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein.
„Und die wäre?“, fragte Roy schließlich mit hörbarem Unbehagen.
Ares holte tief Luft, zögerte kurz und sagte dann:
„Ein Attentat.“
Niemand sagte ein Wort.
Es hatte in der Luft gelegen. Jeder von ihnen hatte schon daran gedacht, aber keiner wusste, was er sich mehr wünschen sollte: dass ein Anderer, oder dass kein Anderer es aussprach. Nun stand es im Raum. Sie blickten auf Roy.
Roy seinerseits sah Ares nachdenklich an, ohne dass man hätte erkennen können, was hinter seiner Stirn vor sich ging. Er zögerte die Antwort für seine Verhältnisse ungewöhnlich lange hinaus. Was Ares sagte, war logisch, und Roy, der selber logisch zu argumentieren pflegte, tat sich deshalb schwer mit einer Widerlegung.
„Fangen wir einmal von hinten an“, sagte er schließlich, „bei der Durchführbarkeit. Es ist sehr schwer, an Hermie überhaupt heranzukommen…“
„Es gibt einen Tag, an dem wir auf jeden Fall an sie herankommen“, erwiderte Ares, „und sie selbst hat uns den Termin genannt. Ein sehr symbolträchtiges Datum für ein Attentat, finde ich: Am 2. Mai wird sie zur Siegesfeier in Hogwarts sein.“
„Umgeben von einem halben Dutzend mit allen Wassern gewaschener Sicherheitsauroren“, ergänzte Roy, „die sie garantiert mit einer Schutzglocke vor jeder Schwarzen Magie abschirmen. Den Todesfluch, falls du an den gedacht hast, kannst du ganz schnell vergessen.“
„Schade“, warf Orpheus jetzt ein, „dann entfällt auch die Möglichkeit, die ich mir überlegt habe.“
„Die da lautet?“, wollte Roy wissen.
„Sie mit dem Imperiusfluch zu belegen. Es geht doch nur darum, ihr Verhalten zu ändern. Ob durch Überzeugung oder auf magische Weise, spielt eigentlich keine Rolle.“
„Ja, aber es geht eben nicht“, sagte Ares. „Aber wo steht geschrieben, dass es durch Magie geschehen muss? Damit rechnen ihre Auroren, darauf sind sie eingestellt. Mit Muggeltechnologie rechnen sie nicht.“
„Muggeltechnologie?“, fragte Julian zweifelnd.
„Ich glaube nicht, dass sie ein Attentat mit einem Revolver in Betracht ziehen.“
„Und wenn doch?“, fragte Roy. „Das sind hochqualifizierte Profis, die sollten mit allem rechnen, und außerdem würde es mich überhaupt nicht wundern, wenn Hermie sie schon zu einer Sonderausbildung zum MI-5 geschickt hätte. Dem Muggelgeheimdienst“, fügte er hinzu, als er die verwirrten Blicke der Anderen bemerkte. „Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. Orpheus hat die Idee ins Spiel gebracht, ihr Verhalten zu ändern. Warum verhält sie sich eigentlich so, wie sie sich verhält? Den Imperius werden wir nicht anwenden können. Was aber, wenn sie bereits unter dem Imperius steht und von einem Unbekannten gelenkt wird?“
„Wie kommst du denn darauf?“ Arabella, die sich bisher kaum an der Debatte beteiligt hatte und überhaupt ziemlich mürrisch wirkte, zeigte sich jetzt doch interessiert.
„Albus Potter hat mich auf die Idee gebracht. Er glaubt, dass ein fremder Wille von ihr Besitz ergriffen haben könnte.“
„Es ehrt dich“, meinte Arabella ironisch, „dass du den Kleinen so ernst nimmst. Aber mal ehrlich: Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Der Kleine liebt seine Tante und kennt sie bisher nur privat. Jetzt hat er zum ersten Mal ihr Politikergesicht gesehen, das ganz anders aussieht, und versucht, sein Bild von ihr zu retten, indem er einem Unbekannten die Schuld gibt. Ich finde das wirklich ganz süß von ihm, aber das kann doch für uns keine Rolle spielen, oder?“
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Roy nachdenklich. „Ich hatte während der Diskussion auch plötzlich dieses Gefühl, als wäre sie ausgewechselt worden. Ihr wart nicht so nah dran wie ich. Das waren nicht einfach zwei Gesichter derselben Person, es war wirklich, als hätte ich es auf einmal mit jemand anderem zu tun. Es war nur kurz, aber ziemlich gruselig.“
„Nehmen wir einmal an, sie stünde tatsächlich unter dem Imperius“, überlegte Orpheus. „Dann wäre die Lösung ganz einfach: Wir belegen sie nicht mit dem Imperius, sondern mit dem Anti–Imperius! Gegen den einen werden ihre Auroren vorsorgen, gegen den anderen eher nicht. Wenn sie wirklich ferngelenkt wird, wird der Imperiusfluch dadurch neutralisiert.“
„Du weißt aber, dass der Anti-Imperius ziemlich heikel ist?“
„Ich bin erst in der Fünften, wir hatten ihn noch nicht“, gab Orpheus zu.
„Ach ja. Nun, der Anti-Imperiusfluch schaltet den Willen aus, der die betreffende Person steuert. Wenn sie unter dem Imperiusfluch steht, ist das der kontrollierende Wille dessen, der sie verhext hat, und sie wird von dessen Kontrolle befreit. Steht sie aber nicht unter dem Imperius, dann wird ihr eigener Wille vernichtet und sie selbst als Person zerstört. Entweder stirbt sie sofort, oder sie verbringt den kurzen Rest ihres Lebens in völliger geistiger Umnachtung.“
„Na, das ist doch perfekt.“ Ares hatte wieder sein Piratengrinsen. „Entweder tut sie das, was sie tut, weil sie unter dem Imperiusfluch steht, dann befreien wir sie davon. Oder sie tut es von sich aus. In diesem Fall…“
Er machte die Geste des Halsabschneidens. Arabella sah genervt zur Decke.
„Im Grunde“, fuhr Ares fort, „sind das doch alles wilde Spekulationen. Wir wissen nicht, ob sie unter einem Fluch steht. Und wenn, wissen wir nicht, ob es der Imperius ist. Wenn wir sie beseitigen, sind wir auf der sicheren Seite. Egal, ob verflucht oder nicht: Wenn sie tot ist, ist sie unschädlich.“
„Das heißt aber noch lange nicht, dass wir unser Ziel erreichen“, entgegnete Roy. „Ihr wisst ja, dass ich mich viel mit Muggelgeschichte befasse. Während des letzten Krieges gab es in Deutschland ein Attentat auf den Diktator. Es schlug fehl, und das Ergebnis war, dass Tausende Regimegegner verhaftet und viele von ihnen umgebracht wurden…“
„No risk, no fun!“, warf Ares ein.
Roy ignorierte ihn. „Das Regime saß für den Rest des Krieges fester im Sattel als zuvor. Wäre der Anschlag aber gelungen, dann hätten die Deutschen dem Diktator posthum einen Heiligenschein verpasst, und er genösse bis heute den Ruhm, als glorreicher unbesiegter Feldherr einem schnöden Verrat zum Opfer gefallen zu sein. Auf unsere Verhältnisse übertragen: Wenn Hermie bei einem Attentat stirbt, wird man sie zur Staatsheiligen machen und an jedem 2. Mai eine Hermine-Granger-Weasley-Gedächtnismesse feiern, bei der Alle die Füße ihrer überlebensgroßen Statue küssen müssen. Jede Kritik an ihrer Politik wird als pietätlos gelten. Ich höre geradezu die Reden: ‚Sie darf nicht umsonst gestorben sein, wir müssen ihr Werk noch entschlossener fortsetzen‘, blabla. Ändern wird sich gar nichts, außer dass ihr Kurs sogar noch verschärft wird und wir in Askaban sitzen.“
Ares sah ihn misstrauisch an: „Soll ich dir mal etwas sagen, Roy? Du willst einfach nicht! Du suchst nach Gründen, es nicht zu machen!“
„Na, und wenn? Ich finde doch auch Gründe, und zwar ziemlich gute.“
„Vielleicht für den alten Priester, von dem du allzu viel gelernt hast für einen Zauberer.“
„Ich brauche keinen Priester“, knurrte Roy, „um die Tötung eines Menschen für eine Ungeheuerlichkeit zu halten, die man nur in Notwehr in Betracht ziehen darf…“
„Dies ist eine Notwehrsituation!“, rief Ares erregt dazwischen.
„…aber auch dann nur“, – Roy sprang auf und wurde laut –, „wenn man sich vergewissert hat, dass es überhaupt keine andere Möglichkeit gibt, du Sohn eines…“
„Roy!“, schrie Arabella dazwischen.
„Komm mir nicht so!“ Ares sprang ebenfalls auf. „Ich weiß wenigstens, wer mein…“
„Schluss jetzt!“ Wieder war es Arabella. „Ihr solltet euch was schämen!“
Einen Moment starrten die beiden Kampfhähne einander in die Augen.
„Tut mir leid“, sagte Roy schließlich.
„Mir auch“, erwiderte Ares, und beide meinten es ehrlich. Sie setzten sich wieder.
„Die Attentatsidee, so viel können wir wohl festhalten“, sagte Julian, „ist, auch abgesehen von der moralischen Seite, eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten, im Grunde – entschuldige bitte, Ares – eine Verzweiflungslösung. Die interessantesten Vorschläge waren bis jetzt die, die darauf hinauslaufen, Hermies Verhalten mit magischen Mitteln zu ändern. Also entweder durch einen wie auch immer gearteten Zauber oder Fluch oder durch einen Gegenfluch, durch den wir sie von der Kontrolle durch einen – bis jetzt noch hypothetischen – Dritten befreien. Seid ihr damit einverstanden, dass wir in dieser Richtung weitersuchen?“
„Ja!“, riefen Roy, Orpheus und Arabella, erleichtert, nicht zu Mördern werden zu müssen.
„Ja“, sagte schließlich auch Ares. „Nur, mit Verlaub: Wenn ihr schon einen Anschlag für undurchführbar haltet, um wie viel undurchführbarer ist dann euer Vorschlag? Egal, ob Fluch oder Gegenfluch: In jedem Fall bräuchten wir Kenntnisse in Schwarzer Magie, die wir nicht im Entferntesten haben.“
„Ich glaube nicht“, erwiderte Julian zuversichtlich, „dass es in der Hogwarts-Bibliothek irgendein Buch gibt, das Roy noch nicht gelesen hat. Stimmt’s, Roy?“
„Ich muss dich enttäuschen, diese Bücher gibt es sehr wohl, und es sind leider genau die, die wir jetzt bräuchten, nämlich die in der Verbotenen Abteilung. Ich habe mich für Schwarze Magie nie besonders interessiert. An die Bücher heranzukommen, ist allerdings nicht das ganz große Problem: Als Vertrauensschüler habe ich regelmäßig Nachtwache und kann mich völlig legal nachts durchs Schloss bewegen. Zufällig habe ich gerade heute Schicht und werde mich in der Verbotenen Abteilung einmal umsehen. Nur…“
Er machte eine Pause.
„Nur?“, fragte Orpheus neugierig.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in den Büchern mehr als ein paar Hinweise finde. Überlegt doch: Wenn ihr Schwarzmagier wärt und so mächtige Zauber beherrschen würdet, würdet ihr sie dann veröffentlichen, damit Hinz und Kunz sie benutzen können?“
„Wir brauchen also“, überlegte Arabella, „als menschliche Informationsquelle einen echten Topexperten für Schwarze Magie. Wo nehmen wir den her? Die wenigen bedeutenden Schwarzen Magier, die noch am Leben sind, sitzen in Askaban oder im Ausland.“
„Und alle anderen, die etwas davon verstehen, in Potters Aurorenabteilung“, ergänzte Ares, „dieser Gryffindor-Mafia!“
„Oh, sag das nicht“, meinte Roy ironisch. „Potter hat seine Abteilung mit drei oder vier Vorzeige-Ravenclaws und Alibi-Hufflepuffs aufgehübscht.“ Sie lachten freudlos. Es verstand sich sozusagen von selbst, dass es unter den Auroren keinen Slytherin gab, dem sie sich möglicherweise hätten anvertrauen können.
„Trotzdem sollten wir Kontakt zu ihm suchen“, sagte Roy schließlich zur allgemeinen Überraschung.
„Und dann?“, wollte Julian wissen. „Dann fragst du ihn: Hallo, Mr. Potter, geben sie mir bitte Nachhilfe in Schwarzer Magie, damit ich Ihre Vorgesetzte verhexen kann?“
Alle lachten.
„Wir wissen doch noch gar nicht“, erwiderte Roy, „ob es ums Verhexen oder ums Enthexen gehen wird, und Letzteres könnte er vielleicht unterstützen. In jedem Fall kann es nicht schaden, einen Draht zu ihm zu haben.“
Roy zählte mit den Fingern auf: „Er hat Kenntnisse, die uns weiterhelfen könnten, er ist im Ministerium strategisch platziert. Außerdem hat er Einfluss bei den Gryffindors, und er ist Hermies bester Freund.“
„Das ist ja nun wirklich keine Empfehlung“, warf Ares ein.
„Wenn sie unter einem Fluch steht, dann schon. Außerdem gilt er als ziemlich anständig und sauber, ich glaube schon, dass er uns zuhören würde. Ich weiß nur nicht, was wir ihm sagen sollen, und wie wir an ihn herankommen. Sicher könnte Albus einen Kontakt herstellen, aber dann müsste ich schon mit einem konkreten Anliegen an seinen Vater herantreten, und dabei geht es mir ja erst einmal nur darum, ihm auf den Zahn zu fühlen.“
Wenn sie es nur gewusst hätten: Harry Potter war in diesem Augenblick keine zwanzig Meter von ihnen entfernt. Sie hätten ihn nur hereinzubitten brauchen.
Da es auf neun Uhr zuging, Roy seine Nachtwache antreten musste und sie alle das Bedürfnis hatten, dieses Gespräch erst einmal sacken zu lassen, vertagten die Unbestechlichen sich auf den nächsten Abend, in der Hoffnung, Roy werde ihnen dann schon erste Ergebnisse seines nächtlichen Bibliotheksstreifzugs vorlegen, und verließen ihren Geheimraum.