Während die Slytherins sich ans Schreiben machten und Roy und Bernie, die ihren Muggel-Eltern nicht zu schreiben brauchten, zu den Hufflepuff-Räumen gingen, um Bernies Sachen zu holen, herrschte im Londoner Zaubereiministerium die übliche bürokratische Betriebsamkeit. Nur ungewöhnlich aufmerksamen Beobachtern wäre aufgefallen, dass öfter als sonst Beamte, die einander in den Gängen begegneten, stehenblieben, um leise, aber sichtbar erregt miteinander zu tuscheln. Natürlich hatten sie alle im Tagespropheten gelesen, dass der Auftritt der Zaubereiministerin in Hogwarts nicht ganz planmäßig verlaufen war, und Prantices Kommentar schien auf einen grundsätzlichen Kurswechsel des Ministeriums hinzudeuten. An der Art der Erregung – beunruhigt die einen, kampflustig die anderen – konnte man ablesen, wer aus Slytherin kam oder Kinder dort hatte und wer nicht. Besagter aufmerksamer Beobachter hätte auch bemerkt, dass die beiden Gruppen jeweils unter sich blieben.
Die Ministerin studierte in ihrem Büro das Dossier, das Higrave auf ihr Verlangen hin noch am Sonntag angefertigt hatte. Es war deprimierend kurz. Sie runzelte unzufrieden die Stirn.
„Percy“, rief sie durch die offene Tür ins Nebenzimmer. Ihr Schwager Percy Weasley, zugleich ihr persönlicher Referent, steckte den Kopf herein. „Ja, bitte?“
„Ich möchte in zehn Minuten Dagobert und in zwanzig Minuten Harry sprechen. Gib ihnen bitte Bescheid.“
„Sofort.“ Percy kehrte an seinen Schreibtisch zurück, schrieb die beiden Benachrichtigungen und schickte sie mit einem Wink seines Zauberstabes zu ihren Adressaten. Die Blätter falteten sich selbsttätig zu Papierfliegern und machten sich auf den Weg.
Zehn Minuten später stand Dagobert Higrave in der Tür. „Guten Morgen, Frau Ministerin.“
„Guten Morgen, Dagobert. Treten Sie bitte ein und schließen Sie die Tür hinter sich.“ Higrave tat, wie ihm geheißen und setzte sich ihr gegenüber.
„Ich habe Ihr Dossier gelesen“, kam sie sofort zur Sache und hob die schmale Akte hoch. „Offen gesagt: Besonders informativ finde ich es nicht. Ich habe von Professor Longbottom und den Gryffindors weitaus mehr erfahren als aus Ihrem Dossier.“
„Ich bedaure, Frau Ministerin, aber das ist alles, was in den Akten des Ministeriums über MacAllister zu finden ist. Die Hogwarts-Akten wären zweifellos ausführlicher, aber Sie kennen sicherlich die Rechtslage: Die Schule kann die Akten herausgeben, muss es aber nicht tun. Und bedauerlicherweise zeigte Professor McGonagall sich wenig kooperativ. Sie hat die Herausgabe verweigert.“
„Und wir haben keine Handhabe, sie zu zwingen?“, fragte Hermine ungehalten.
Higrave hüstelte. „Ich fürchte nein. Alle öffentlichen Dienststellen müssen dem Ministerium ihre Akten zur Verfügung stellen, aber Hogwarts ist aufgrund der geltenden Gesetze autonom. Wir müssten schon das Gesetz ändern und Hogwarts explizit zur Auskunft verpflichten.“
„Gut“, sagte Hermine geschäftsmäßig, „dann ändern wir das Gesetz. Wird ohnehin Zeit, dass dieser alte Zopf abgeschnitten wird. Bereiten Sie einen entsprechenden Entwurf vor. Bis kommenden Montag. Reicht das?“
„Zur Vorbereitung des Entwurfs gewiss. Gestatten Sie mir aber bitte, Frau Ministerin, Sie darauf hinzuweisen, dass vor jeder Änderung von Gesetzen mit Bezug zu Hogwarts die Schulräte zu konsultieren sind.“
„Na und?“, sagte Hermine achselzuckend. „Dann konsultieren wir sie eben.“
Higrave hüstelte noch einmal. „Sie werden nicht einverstanden sein. Jede Änderung dieser Art greift in ihre Kompetenzen ein.“
„Spielt es eine Rolle, ob sie einverstanden sind? ‚Konsultieren‘ heißt: Wir sagen ihnen, was wir vorhaben, sie lehnen es ab, und wir machen es trotzdem“, meinte sie trocken.
„Nun, Frau Ministerin, es ist gute Tradition, dass solche Entscheidungen nur im Einvernehmen…“
„Verschonen Sie mich bitte mit diesen heiligen Traditionen!“ Sie rümpfte die Nase. „Sie haben meine Rede gehört. Ich habe ein grundsätzliches Umdenken auf allen Gebieten gefordert, und Sie als einer meiner engsten Mitarbeiter sollten mit gutem Beispiel vorangehen!“
„Gewiss, Frau Ministerin“, beeilte Higrave sich zu versichern. „Ich erachte es nur als meine Pflicht, Sie auf mögliche Widerstände aufmerksam zu machen.“
„Ich weiß dies sehr zu schätzen, Dagobert.“ Hermine lächelte höflich. „Und selbstverständlich möchte ich auch in Zukunft darauf aufmerksam gemacht werden. Missverstehen Sie meine Bemerkung also bitte nicht als Kritik. Es bleibt aber dabei, dass ich bis kommenden Montag Ihren Entwurf erwarte.“
Mit einem diskreten Blick zur Tür gab sie Higrave zu verstehen, dass die Unterredung beendet war. Der Abteilungsleiter erhob sich, machte eine knappe Verbeugung, wünschte der Ministerin einen angenehmen Tag und empfahl sich.
Auf dem Gang vor dem Vorzimmer der Ministerin kam Harry Potter ihm entgegen. „Morgen, Dagobert.“
„Guten Morgen, Harry“, antwortete Higrave höflich und wollte weitergehen.
„Ach, äh, Dagobert?“
„Ja bitte?“
„Sie waren gestern in Hogwarts dabei. Stimmt das, was im Tagespropheten steht?“
Higrave hüstelte wieder. „Sagen wir, der Tagesprophet hat sich gewisse journalistische Freiheiten genommen.“
„Ich verstehe.“ Harry grinste. Das war typisch Higrave. Er hatte die Frage beantwortet und sich zugleich bedeckt gehalten. „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.“ Sie verabschiedeten sich, und Harry betrat das Vorzimmer.
„Morgen, Percy!“
„Morgen, Harry, ich glaube, du kannst ruhig schon durchgehen.“
Harry klopfte an, und auf Hermines „Herein“ hin betrat er das Büro der Ministerin.
„Hallo Hermine, wie war es in Hogwarts?“
„Nicht so erfolgreich, wie es hätte sein sollen – Guten Morgen auch –, aber das hast du ja sicher schon in der Zeitung gelesen. Aber einen schönen Gruß von Neville, James, Rose und Victoire soll ich dir ausrichten.“
Harry war irritiert. „Von Albus nicht?“
„Ich hatte leider keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Ich habe den Gryffindors noch einen Besuch abgestattet, den Slytherins nicht, wie du dir denken kannst.“
Harry zog die Brauen hoch. „Okay. Wie geht es Ron?“
„Gut soweit. Entschuldige bitte, ich habe heute Morgen wenig Zeit und möchte gleich zur Sache kommen.“ Sie räusperte sich. „Harry, du bist vermutlich der beste Auror, den das Ministerium je hatte. Du löst jeden Fall, auf den du angesetzt wirst, und das mit einem Instinkt und einer Findigkeit, die schon legendär sind.“
„Vielen Dank“, erwiderte Harry, „aber jetzt kommt sicher das ‚Aber‘.“ Er kannte seine Freundin viel zu lange, und nun auch schon über ein Jahr lang als Ministerin, um nicht zu wissen, dass diese Art von allgemeinem Lob der Auftakt zu sehr konkreter Kritik sein musste.
Hermine schmunzelte. „Im Vertrauen auf diese herausragenden Fähigkeiten habe ich deine Aurorenzentrale zur Abteilung aufgewertet und ihre Kompetenzen beträchtlich erweitert. Insbesondere die Bekämpfung des Todessertums gehört jetzt zu deinen Aufgabenbereichen.“ Sie machte eine Kunstpause.
„Und?“, fragte Harry.
„Ich kann leider nicht erkennen, dass du dieser Aufgabe mit besonderem Engagement nachgehst. Es scheint keinen einzigen Fall zu geben, der von den Auroren verfolgt worden wäre.“
„Hermine, du weißt, dass die Auroren nur bei Gesetzesverstößen aktiv werden können.“
Hermine stieß einen genervten Seufzer aus. „Das ist genau das, was ich mit mangelndem Engagement meine. Ich erwarte von dir die Mentalität eines Jägers, nicht die eines Anglers, der darauf wartet, dass eine Straftat gewissermaßen vorbeischwimmt und anbeißt. Es ist doch hinlänglich bekannt, wer die Leute sind, die solche Ansichten haben. Ein Zeichen von Engagement wäre es, wenn du ihnen auf die Finger schauen würdest. Vermutlich würdest du dann auch feststellen, dass sie Straftaten begehen.“
„Oder auch nicht“, gab Harry zurück. „Wir gehen bereits hart an die Grenze dessen, was das Gesetz gerade noch zulässt. Den alten Macnair zum Beispiel laden wir praktisch jedes Mal vor, wenn in Fällen von Schwarzer Magie eine Verbindung zu ihm wenigstens nicht ausgeschlossen werden kann. Ein gutes Gewissen habe ich dabei nicht, zumal sich nie der geringste Anhaltspunkt ergeben hat, dass er irgendetwas Verbotenes tut.“
„Wenn ihr immer nur eure Stammkunden vorladet, könnt ihr auch nichts finden. Ihr müsst aktiv suchen!“
„Soll das heißen, wir sollen vorsorglich die Ansichten jedes Bürgers erfassen, und jeden, dessen Meinungen auch nur entfernt verdächtig sind, so lange beobachten, bis er etwas Verbotenes tut?“
„Das wäre in der Tat Engagement.“
„Das wäre gesetzwidrig.“
„Gesetze kann man ändern.“
„Hermine, ich bitte dich! Es gibt praktisch keine aktiven Todesser, und ich werde nicht dir zuliebe welche erfinden. Und was die Gesetze angeht: Die Nonchalance, mit der du über solche Dinge sprichst, finde ich reichlich irritierend. Dass du die Macht hast, Gesetze zu beschließen, die auf einen Überwachungsstaat hinauslaufen, heißt noch lange nicht, dass du das Recht dazu hast.“
Harry wusste nicht, dass MacAllister keine 24 Stunden zuvor etwas Ähnliches zu ihr gesagt hatte. Hermine funkelte ihn an:
„Es gibt keine aktiven Todesser, nein? Liest du eigentlich keine Zeitung?“
„Wenn du den Tagespropheten meinst, den lese ich, aber ich glaube ihm nichts. Genau wie auch du ihm nichts geglaubt hast, bevor du Ministerin und Northwood dein Busenfreund wurde.“
Hermines Kinn straffte sich energisch, und ihre Augen blitzten zornig:
„Soll ich dir mal etwas sagen, Potter? Du willst einfach nicht. Du benutzt ausgebrannte alte Männer wie Macnair als Alibiverdächtige. Du suchst nach Gründen, die heutigen neuen Gefährder zu ignorieren. Gefährder, die praktisch unter deiner Nase herumlaufen, die du aber nicht siehst!“
Ihr Ton war plötzlich scharf geworden.
„Und wieso greifst du nach deiner Narbe?“
Hermine hatte ihn erwischt.
„Seit gestern Vormittag ziept sie wieder.“ In Wahrheit brannte sie sogar ein wenig, aber das wollte er nicht zugeben.
„Ach, sie ziept?“, fragte sie höhnisch. „Mein Chefauror, der einzige Mensch mit eingebautem Schwarzmagierdetektor, bekommt Alarm von seiner Narbe, will mir aber erzählen, alles sei in bester Ordnung!“
„Sie ist kein Schwarzmagier-, sondern nur ein Voldemortdetektor, und Voldemort ist seit fast zwanzig Jahren tot. Wahrscheinlich ist es einfach nur das Älterwerden. Wen meinst du eigentlich konkret mit den Gefährdern, die unter meiner Nase herumlaufen?“
Hermine lehnte sich in Ihrem modernen Muggel-Chefsessel zurück und sah ihn hochmütig an.
„Weißt du zum Beispiel, mit wem dein Sohn Albus in Slytherin befreundet ist?“
„Wenn du Roy MacAllister meinst, das weiß ich“, erwiderte Harry betont gleichmütig.
„Ach, das weißt du? Du weißt, dass dein Sohn mit einem aktiven Todesser befreundet ist, aber es ist dir egal. Ach ja, ich vergaß, es gibt ja gar keine Todesser!“
„Hermine“, sagte Harry ernst, „das sind schwerwiegende Anschuldigungen. Mein Sohn schreibt mir regelmäßig und ausführlich, auch über MacAllister, und ich finde nichts in seinen Briefen, was deine Behauptungen untermauern würde.“
„Harry, das ist doch nicht dein Ernst, oder? Du sprichst von den Briefen eines Elfjährigen! Wie soll der denn die ideologischen Untertöne beurteilen? Und wie soll er sich nicht geschmeichelt fühlen, wenn der sechzehnjährige Leitwolf seines Hauses sich offensichtlich um seine Freundschaft bemüht? Zusammen mit einem Lestrange übrigens!“
„Julian, ich weiß!“
„Dann zieh Konsequenzen und unternimm etwas!“, fauchte sie.
Dann besann sie sich, lehnte sich in ihrem Sessel zurück, atmete tief durch, beruhigte sich. Als sie fortfuhr, war sie nicht mehr die herrische Chefin, sondern wieder seine besorgte Freundin.
„Harry“, sagte sie schließlich, „ich möchte nicht… wir beide möchten nicht, dass Albus auf irgendjemanden so hereinfällt, wie Snape auf Voldemort hereingefallen ist.“
Das saß.
Indem sie nicht den Auror Harry Potter ansprach, der sich nie als Gesinnungsschnüffler hergegeben hätte, sondern den Vater Harry Potter, hatte sie ihn mattgesetzt. Sie ließ ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen.
„Gut“, sagte er schließlich. „Die Aurorenabteilung kann nichts unternehmen, solange keine Gesetze verletzt werden…“
„Die Ausdrücke ‚Blutsverräter‘ und ‚Schlammblut‘ verstoßen sehr wohl gegen Gesetze…“
„Dich oder irgendeine konkrete Person hat er aber nicht so genannt, stimmt’s?“, fragte Harry, der sehr gut zwischen den Zeilen des Tagespropheten zu lesen verstand.
„Stimmt“, bestätigte sie.
„Dann ist es meldepflichtig, aber nicht strafbar, und geht die Aurorenabteilung nichts an. Also, als Auror kann ich nichts machen. Es spricht aber nichts dagegen, dass ich mir privat als Vater ein Bild von der Lage in Hogwarts mache und Erkundigungen einziehe. Falls deine Befürchtungen berechtigt sein sollten, würden dabei zwangsläufig auch dienstlich relevante Informationen anfallen, die ich dann auch benutzen dürfte. Falls nicht, haben wir uns Gewissheit verschafft, ohne gegen Gesetze zu verstoßen.“
Hermine wirkte nicht entzückt, aber Harrys Logik war unabweisbar.
„Wie willst du vorgehen?“, fragte sie ihn.
„Zunächst erzählst du mir bitte alles, was du weißt, was du beobachtet hast, und was man dir erzählt hat, angefangen mit der gestrigen Debatte“, sagte Harry, zog seine selbstschreibende Feder – ein Geschenk von Ginny – aus seinem Umhang und bat um einen Bogen Pergament.
Hermine rekonstruierte zunächst mit Hilfe ihres glänzenden Gedächtnisses den Verlauf ihrer Diskussion mit Roy, und zwar ziemlich sachlich und objektiv. Sie wusste, dass es zwecklos gewesen wäre, ihren besten Auror hinters Licht zu führen, selbst wenn sie es gewollt hätte.
„Das ist aber ganz schön weit von der Darstellung des Tagespropheten entfernt“, stellte Harry schließlich fest.
„Du weißt doch, wie diese Presseleute sind“, sagte sie ein wenig verlegen, „brauchen immer eine knallige Schlagzeile. In gewisser Hinsicht haben sie aber recht. Dieser MacAllister ist natürlich viel zu intelligent, sich seine wirklichen Ansichten und Absichten auf die Stirn zu schreiben. Er geht schrittweise vor und schafft nach und nach Akzeptanz für seine Ideologie. Er provoziert so weit, dass man es nicht ignorieren kann, aber nie so sehr, dass es ihm nicht möglich wäre, die verfolgte Unschuld zu spielen. Wenn du mich fragst: ein ausgebuffter Stratege und Taktiker für seine sechzehn Jahre. Äußerst gefährlich, gerade weil er nicht direkt gegen Gesetze verstößt, und weil er nur solche Dinge sagt, mit denen er auf Zustimmung rechnen kann, ohne seine eigenen Karten aufdecken zu müssen.“
Harry sah sie nachdenklich an. „Gut“, sagte er, „was weißt du noch?“
Es wurde ein langes Gespräch, weil Hermine nicht nur erzählte, was sie von Neville und den Gryffindors erfahren hatte, sondern beide auch immer wieder abschweiften. Als Harry schließlich aufstand, neigte sich die übliche Zeit der Mittagspause bereits dem Ende zu. Sein Magen knurrte.
„Danke, Hermine“, sagte er schließlich, „dann bin ich erst einmal so weit informiert. Das genaue Vorgehen werde ich mir noch überlegen.“
„Lass dich von niemandem einwickeln“, mahnte sie ihn.
„Sagtest du nicht, ich sei der begabteste Auror, den das Ministerium je gehabt hat?“, grinste er.
Hermine grinste zurück.