5 – Bernie

Am übernächsten Tag suchte Albus in der Pause nach Bernie. Slytherins und Hufflepuffs hatten gerade gemeinsam in Zauberkunst zum zweiten Mal Wingardium Leviosa geübt, den Schwebezauber. Natürlich hatten sie alle am Anfang ihre Schwierigkeiten damit gehabt – alle, außer Matthew McDowell, ein Hufflepuff-Schüler, der seine Feder sofort mühelos zum Schweben brachte. Die Feder war das erste Übungsobjekt, aber McDowell setzte noch einen drauf, indem er gleich einen ganzen Stuhl schweben ließ. Wahrscheinlich hatte er zu Hause schon mit seinem älteren Bruder geübt. Das war zwar verboten, aber nicht nachweisbar.

Am Ende der ersten Doppelstunde am Montag konnten fast alle ihre Feder schweben lassen, und in der zweiten am Mittwoch klappte es bei fast allen mit Radiergummis, Mäusen, Tintenfässern, Blumentöpfen – na gut, einer ging dabei zu Bruch – und schließlich auch Stühlen. Albus hatte sogar einen Tisch angehoben. McDowells Vorsprung war dahin.

Der einzige, der nichts, nicht einmal die Feder, zum Schweben brachte, war Bernie, so verzweifelt er sich auch bemühte, und so geduldig Professor Flitwick ihn immer wieder ermutigte und es ihm erklärte.

„Vielleicht ist etwas mit Ihrem Zauberstab nicht in Ordnung“, meinte er fürsorglich. „Schwenken sie ihn einfach einmal locker aus dem Handgelenk.“

Bernie tat es, doch nichts geschah. Flitwick ließ sich den Stab reichen und tat dasselbe. Ein üppiger roter Funkenregen sprühte aus der Spitze des Stabes. Der Zauberstab war tadellos.

„Nun, junger Mann, das kommt schon einmal vor, dass Schüler sich anfangs schwertun. Üben Sie einfach geduldig weiter, und passen Sie im Unterricht gut auf, damit Sie wenigstens die Theorie beherrschen, irgendwann wird der Knoten schon platzen. Und Sie“ – er wandte sich an die Hufflepuffs – „hören auf zu grinsen!“

In der Tat hatten zuerst fast alle gegrinst, auch die Slytherins, nur zwei nicht: Albus aus Mitleid, Scorpius aus Taktgefühl. Als Jennifer die ernsten Gesichter der beiden sah, hörte auch sie auf zu grinsen, dann Lance Ogilvy, dann nach und nach die anderen Slytherins.

Während der über hundertjährige und etwas schwerhörige Flitwick zu seinem Pult schritt, um den Bücherstapel zu erklimmen, auf dem er zu stehen pflegte, raunten die Hufflepuffs gehässige Bemerkungen: „Muggel!“ – „Müssen wir eigentlich immer den Müll abkriegen?“ – „Die hätten sich doch nie getraut, so einen nach Gryffindor oder Slytherin zu schicken!“ – „Nicht einmal ein Squib!“ – „Hey, Malfoy, nenn ihn mal Schlammblut, für so einen ist das ein Kompliment!“

Sie gaben sich gar keine Mühe, wenigstens so leise zu sprechen, dass Bernie es nicht hören konnte, sie wollten, dass er es hörte.

In der anschließenden Pause also suchte Albus nach Bernie. Irgendwie musste man ihm doch helfen können. Zauberei war für Albus das Selbstverständlichste der Welt, er konnte sich gar nicht vorstellen, dass jemand buchstäblich überhaupt nicht zaubern konnte. Vielleicht lag es einfach daran, dass Bernie Zauberei bei den Muggeln noch nie erlebt hatte. Andererseits – Albus‘ Vater hatte es vor Hogwarts auch nie erlebt, und Tante Hermine nicht, und Roy bestimmt auch nicht, und sie hatten es trotzdem gekonnt. Und der Sprechende Hut hatte Bernie zu den Muggeln zurückgeschickt… Egal, er mochte Bernie, und da er nun einmal in Hogwarts war, würde er ihm helfen! Wo er nur steckte?

Ihm fiel auf, dass auf dem Pausenhof überhaupt keine Hufflepuffs zu sehen waren, jedenfalls keine Erstklässler. Es gab nur einen entlegenen Teil des Hofes, hinter einem Gebäudevorsprung und deshalb nicht einsehbar, in dem er noch nicht gesucht hatte. Albus schwante Übles, und er beschleunigte seinen Gang.

Als er sich näherte, wehte der Wind ihm schon beunruhigende Rufe entgegen:

Muggel, Muggel, putputput wo ist das Smartphone?“ Albus bog um die Ecke und sah Bernies Smartphone, das die anderen sich zugeworfen hatten, während Bernie verzweifelt versuchte, es sich zurückzuholen, auf einem Stein aufschlagen. Dann richtete McDowell seinen Zauberstab auf Bernie:

Wingardium Leviosa!

Wie von einem Seil hochgezogen, schwebte Bernie nun zwanzig Zentimeter über dem Boden. Unter dem rohen Gelächter seiner Mitschüler ruderte er mit den Armen und zappelte mit den Beinen, um irgendwo Halt zu finden. McDowell, der sich in der Rolle des Anführers offenbar gefiel, versetzte ihm nun einen Faustschlag in die Magengrube, unter dem Bernies Körper krampfartig zusammenzuckte.

„Hör sofort auf! Lass ihn in Ruhe!“ Albus zog den Zauberstab und ließ Bernie, der sich vor Schmerzen krümmte, wieder herunter. McDowell, seines Opfers beraubt, drehte sich mitsamt seiner Horde um, während Albus zornbebend auf ihn zustiefelte. McDowell war fast einen Kopf größer als er, aber das kümmerte Albus in diesem Moment überhaupt nicht. In seinem Zorn ignorierte er auch, dass McDowells Kumpels ausgesprochen bedrohlich dreinschauten.

„Ihr solltet euch was schämen! Er hat euch nichts getan, und du traust dich das nur, weil du weißt, dass er sich nicht wehren kann! Ihr seid vielleicht ein paar Helden!“

„Aber du“, versetzte McDowell buchstäblich von oben herab, „du kannst dich wehren, was, Potter? Na, dann wehr dich mal! Wir haben nämlich was gegen Slytherins, vor allem, wenn sie ihre Nase in unsere Angelegenheiten stecken! Solche Nasen gehören bestraft!“

Ohne jede Vorwarnung versetzte er Albus einen Faustschlag mitten ins Gesicht. Sofort schoss das Blut aus seiner Nase. Die anderen schienen nur darauf gewartet zu haben und schlugen ebenfalls auf ihn ein, und als er zu Boden stürzte, traten sie zu. Albus versuchte mühsam, seinen Körper mit den Armen zu schützen und seinen Zauberstab nicht zu verlieren. Einen der Jungs setzte er zwischen zwei Tritten seinerseits mit Wingardium Leviosa außer Gefecht, aber das machte die anderen nur noch wütender. Albus hätte später nicht mehr zu sagen vermocht, wie lange der ungleiche Kampf dauerte, es schien eine Ewigkeit zu sein, vielleicht war es aber auch nur eine Minute oder weniger.

Plötzlich donnerte McGonagalls Stimme: „Sofort aufhören!“

Die Hufflepuffs schraken zusammen und blieben wie erstarrt stehen. Mit blutüberströmtem Gesicht rappelte Albus sich auf und sah, dass Bernie neben McGonagall stand, offenbar war er es gewesen, der sie zu Hilfe gerufen hatte. Da die Stimme der Schulleiterin, magisch verstärkt, auf dem ganzen Schulhof zu hören gewesen war, strömten Schüler aller Häuser und Jahrgänge jetzt rasch zusammen.

„Stimmt es“, fragte sie McDowell streng, „dass Sie Mister Wildfellow mit einem Schwebezauber belegt und dann geschlagen haben?“

Die Hufflepuffs blickten zu Boden.

„Und trifft es zu, dass Mister Potter Sie davon abhalten wollte und Sie und Ihre Freunde ihn deshalb so zugerichtet haben?“

Die Hufflepuffs schwiegen. Das war Eingeständnis genug.

„Fünfzig Punkte Abzug für Hufflepuff! Aber für Sie persönlich werden die Konsequenzen noch weitaus schwerwiegender sein. Ich erwarte Sie heute Nachmittag um fünf Uhr in meinem Büro.“

„Verzeihen Sie, Frau Professor“, wandte sich nun Marietta Loughlin, die Vertrauensschülerin der Hufflepuffs, an sie. Es war das Mädchen, das Albus schon im Hogwarts-Express gesehen hatte. „Dürfte ich als Vertrauensschülerin bei dem Gespräch anwesend sein?“

„Sie dürfen!“, erwiderte McGonagall. „Und nun zu Ihnen, Mister Potter.“

Irgendwie klang sie immer noch streng; als Erstklässler hatte Albus sich noch nicht daran gewöhnt, dass dies McGonagalls normaler Tonfall war.

„Es wäre zweifellos klüger gewesen, sofort Hilfe zu holen. Ungeachtet dessen war Ihr Verhalten in moralischer Hinsicht vorbildlich. Daher fünfzig Punkte für Gryffin… für Slytherin!“

Der betagten Schulleiterin war anscheinend einen Augenblick lang entfallen, dass sie nicht etwa den kleinen Harry, sondern den kleinen Albus vor sich hatte, der aussah wie Harry ohne Brille, und dass er ein Slytherin war. Sie richtete nun ihren Zauberstab auf ihn:

Episkey!“

Albus‘ Nase hörte schlagartig zu bluten auf, und die Schrammen auf seinem Gesicht verschwanden.

„MacAllister!“, wandte sie sich nun an Roy, der mit den anderen Schülern herbeigeeilt war. „Bringen Sie Ihren kleinen Helden zu Madam Pomfrey, damit sie ihn gründlich untersucht!“

„Mit Verlaub, Frau Professor“, sagte Roy und grinste, „das Wort ‚klein‘ halte ich in diesem Zusammenhang für unangemessen.“ Er legte seine Hand auf Albus‘ Schulter. „Komm.“

Beide schlugen zunächst schweigend den Weg zum Krankenflügel ein. Als sie durch das Haus gingen, sagte Roy leise: „So einen Kumpel wie dich hätte ich auf der Muggelschule gerne gehabt.“ Dann eine Pause. „Ich bin stolz auf dich.“

Diese Worte von Roy, der mit Lob nicht gerade um sich zu werfen pflegte, erschienen Albus wie ein Ritterschlag. Er fühlte sich gleich fünf Zentimeter größer.

Nach einer Weile fragte er: „Was… was war denn auf der Muggelschule?“ Er war sich nicht sicher, ob Roy darüber sprechen wollte, und in der Tat schwieg dieser eine Weile, bevor er antwortete:

„Ungefähr das, was du eben gesehen hast. Nur dass mir keiner geholfen hat.“

Albus wunderte sich: „Warst du denn so unbeliebt?“ Er konnte sich das gar nicht vorstellen.

„Ist Bernie unbeliebt? Wenn viele sich auf einen stürzen, geht es nicht um Beliebtheit. Es geht darum, dass sie viele sind und er nur einer.“

Wieder schwieg er eine Weile, bevor er fortfuhr:

„An dieser Schule kam keiner aus einem guten Stall, alle waren aus sogenannten ‚schwierigen‘ Verhältnissen. Aber gerade die, die schon weit unten sind, suchen sich erst recht einen, der noch weiter unten ist, und auf dem sie deshalb herumtrampeln können. Du machst dir keine Vorstellung davon, was man sich anhören muss, wenn man keinen Vater hat, dafür aber eine Mutter, die nachts in einer billigen Bar arbeitet. Und wenn ich mich wehrte, gab es Prügel. Natürlich nie Mann gegen Mann, immer viele auf einen, also auf mich.“

Sein Gesicht hatte sich verfinstert. Die Erinnerung quälte ihn.

„Du brauchst mir das nicht zu erzählen, wenn du nicht möchtest“, sagte Albus vorsichtig, „ich bin bestimmt nicht beleidigt.“

„Dir möchte ich es aber erzählen. Ich verlasse mich darauf, dass du es für dich behältst.“

Trotzdem brauchte er eine Weile, um den Faden seiner Erzählung wiederaufzunehmen:

„Irgendwann versuchte ich mir mit Zauberei zu helfen. Aber du weißt ja, wie das ist: Als Kind kann man das nicht so kontrollieren, mal funktioniert es und mal nicht. Es funktionierte zu selten, um mir wirklich zu nützen, aber oft genug, damit die anderen merkten, dass ich etwas konnte, was sie nicht konnten, und vor dem sie Angst hatten. Von da an war es die Hölle. Wann immer einem meiner Mitschüler etwas Unangenehmes widerfuhr, und sei es eine schlechte Note, war ich der Sündenbock, weil ich angeblich mit Zauberei nachgeholfen hatte.“

„Wie mies!“, sagte Albus entrüstet.

„Sie hatten Angst vor mir. Außerdem ist es immer bequemer, einen anderen zu beschuldigen, als sich an die eigene Nase zu fassen. Sie glaubten, ich sei an ihren kleinen Unglücken und Misserfolgen schuld, weil sie es glauben wollten. Da ich aber wirklich ein bisschen zaubern konnte, hatten sie sogar einen für sie plausiblen Grund, mich zu beschuldigen.“

„Du scheinst dafür sogar noch Verständnis zu haben“, sagte Albus. „Also – ich hätte es nicht gehabt.“

„Ich hatte es auch nicht von mir aus. Der alte Priester, zu dem ich mich jeden Tag flüchtete, weil ich es weder zu Hause noch auf der Straße aushielt, hat es mir ganz behutsam erklärt.“ Er lächelte. „So wie er mir auch vieles andere erklärt hat. Von ihm weiß ich eigentlich alles, was ich über die Welt weiß, er hat mich auch die Liebe zu Büchern gelehrt.“

Albus wusste ungefähr, was ein Priester war, war aber gerade deshalb erstaunt, dass Roy offenbar so vertrauten Kontakt zu einem hatte. Die Kirche war die letzte Muggel-Institution, mit der Hexen und Zauberer etwas zu tun haben wollten.

„Soviel ich weiß“, meinte er zögernd, „waren die Priester doch immer gegen uns, sogar mehr und schlimmer als alle anderen Muggel.“

„Die Kirche geht davon aus, dass Magie grundsätzlich vom Teufel stammen muss. Als ich nach Hogwarts sollte, hatte ich einige Mühe, meinen Priester davon zu überzeugen, dass das nur für Schwarze Magie gilt und die in Hogwarts nicht gelehrt wird. Ich musste ihm aber eigens versprechen, niemals Schwarze Magie zu treiben, und an dieses Versprechen habe ich mich bis heute gehalten.“

„War er so eine Art Vater für dich?“

„Er war und ist das, was einem Vater am nächsten kommt“, bestätigte Roy, „und ich glaube, ich bin für ihn auch so etwas Ähnliches wie der Sohn, den er als Priester natürlich nicht hat.“

„Haben Priester keine Kinder?“

„Katholische nicht“, erwiderte Roy knapp, um weiterzuerzählen: „Irgendwann begriff ich, dass mir an der Muggelschule im Kleinen genau das widerfahren war, was der Zauberergemeinschaft im Mittelalter im Großen passiert ist. Du weißt ja sicher, dass die Muggel damals versucht haben, uns auszurotten, und zwar aus denselben Gründen, aus denen meine Mitschüler mich mobbten: Sie hatten Angst vor uns, deshalb wollten sie es, und sie waren tausendmal zahlreicher als wir, deshalb konnten sie es. Dass die Hexen und Zauberer die Verfolgungen überlebten, lag einzig daran, dass sie sich ungefähr ab dem elften Jahrhundert immer mehr aus der Muggelwelt zurückzogen, in geschützte magische Nischen, zu denen die Muggel keinen Zutritt hatten. Hogwarts war die erste dieser Nischen. Dabei verbesserten sie ihre Zauberkünste immer weiter, sodass diese Schutzräume in einem jahrhundertelangen Prozess zu der magischen Welt zusammenwuchsen, die wir heute kennen. Das Geheimhaltungsabkommen von 1689 setzte nur noch den Schlusspunkt unter diese Trennung. Das, was mir an der Muggelschule passierte, geschah, weil ich als Zauberer nicht in die Muggelwelt gehörte, obwohl ich aus ihr kam.“

„Und du meinst, Bernie ist dasselbe passiert, weil er nicht in unsere Welt gehört?“

„So ist es.“

„Aber er bedroht doch überhaupt niemanden!“

„Die Hufflepuffs haben in der Tat weniger Entschuldigungen als damals meine Muggel-Mitschüler. Bernie würde keiner Fliege etwas zuleide tun, aber er repräsentiert etwas. Er repräsentiert eine Welt, die uns bedroht.“

„Das verstehe ich nicht.“

Sie standen jetzt vor dem Eingang zum Krankenflügel, aber keiner von ihnen machte Anstalten, ihn zu betreten.

„Als Kolumbus in Amerika landete…“ begann Roy.

„Wer?“

„Kolumbus, der Muggel, der für den spanischen König Amerika entdeckte.“

„Entschuldige, in so etwas kenne ich mich nicht aus“, meinte Albus etwas verlegen.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, die wenigsten Zauberer wissen über solche Dinge Bescheid. Vielleicht hat Hermie sogar recht…“

„Roy!“, unterbrach ihn Albus.

Roy stutzte. „Ja?“

„Hör bitte auf, sie ‚Hermie‘ zu nennen!“, sagte er eindringlich. Er musste es einfach sagen, auch wenn Roy es nicht gerne hörte. „Egal, was du von ihrer Politik hältst, sie ist nicht nur meine Tante, sie ist meine beste Freundin!“ Außer Rose, hätte er beinahe gesagt, aber er schluckte es herunter. „Jedenfalls von den Erwachsenen. Und sie ist der klügste und liebenswerteste Mensch, den ich kenne!“

Albus sah Roy fest in die Augen, auch wenn er ein wenig Bammel vor seiner Reaktion hatte. Wenn er DAS jetzt nicht versteht, dachte er, lohnt es sich nicht, mit ihm befreundet zu sein.

Roy sah ihn nachdenklich an, dann lächelte er. „Okay. Ich werde sie in deiner Gegenwart nicht mehr ‚Hermie‘ nennen und auch nicht abfällig von ihr sprechen.“

„Danke“, sagte Albus und atmete auf.

„Ich war übrigens gerade dabei, sie zu loben, wenn auch nur unter Vorbehalt. Vielleicht“, nahm er den Faden wieder auf, „ist nämlich es gar keine schlechte Idee von deiner Tante, Muggelkunde ab der ersten Klasse unterrichten zu lassen. Ich fürchte nur, dass uns bei dieser Art Unterricht genau das Falsche beigebracht wird.“

„Wieso?“

„Nun, ich glaube nicht, dass in diesem Unterricht erwähnt werden wird, dass Kolumbus von den Indianern mit größter Gastfreundschaft empfangen wurde. Warum auch nicht? Er bedrohte ja scheinbar niemanden. Zehn Jahre später waren alle Inselbewohner, die ihn empfangen hatten, tot oder von den Spaniern versklavt, obwohl Kolumbus selbst das gar nicht beabsichtigt hatte. Und genau so erging es in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten allen Indianervölkern. Hätten sie Kolumbus und seine Spanier einfach massakriert, dann wäre das zwar ein Verbrechen gewesen, aber es wäre nie ein Sterbenswörtchen über die Entdeckung Amerikas nach Europa gedrungen, und sie wären noch jahrhundertelang als Völker am Leben und Herren im eigenen Land geblieben.“

„Du meinst, wenn sie die Spanier ermordet hätten, hätten sie Recht im Unrecht gehabt? – Ich habe letzten Freitag dein Gespräch mit Scorpius mit angehört“, fügte er erklärend hinzu, als Roy ihn verwundert ansah.

„Genau“, bestätigte Roy, „das wäre ein klassischer Fall von ‚Recht im Unrecht‘ gewesen.“

„Aber was hat das alles mit Bernie und den Hufflepuffs zu tun?“

„Die Indianer hatten auch ihre Magier. Die Spanier aber hatten Schiffe, Kanonen, Musketen, überhaupt die bessere Technik und die bessere Organisation. Ist dir aufgefallen, was die Hufflepuffs zuerst zerstört haben, noch bevor sie sich an Bernie selbst vergriffen?“

„Sein Smartphone.“

Roy nickte. „Allein die Kommunikationstechnik der Muggel ist allem, was wir an magischer Kommunikation aufbieten können, so überlegen wie ihre Flugzeuge unseren Besen. Wir könnten diese Technik aus eigener Kraft nicht beherrschen. Klar könnten wir sie benutzen, wären dann aber von den Muggeln abhängig und müssten in ihre Welt zurückkehren. Vielleicht haben die Hufflepuffs das instinktiv gespürt, vielleicht hat Bernie auch ein wenig mit seinem Smartphone geprahlt, um bei seinem Mangel an Zaubertalent irgendetwas vorweisen zu können, wo er den anderen Hufflepuffs überlegen ist, ohne sich bewusst zu sein, dass und warum gerade das Smartphone auf sie bedrohlich wirken musste. Die Indianer wussten zu ihrem Unglück nicht, dass hinter Kolumbus ein Millionenvolk stand. Die Hufflepuffs aber, und sogar ein Strohkopf wie dieser McDowell, wissen sehr wohl, dass Bernie nur einer von sechzig Millionen Muggeln allein in Großbritannien ist. Was, wenn Bernie nur der Erste ist – in dem Sinne, in dem auch Kolumbus nur der Erste war?“

„Du willst sie doch nicht etwa in Schutz nehmen?“, fragte Albus entrüstet.

„Ich nehme sie genauso wenig in Schutz, wie ich meine früheren Muggel-Mitschüler in Schutz nehme. Ich möchte nur, dass du verstehst, warum jede der beiden Welten diejenigen von sich stößt, die nicht zu ihr gehören.“

„Das haben die Hufflepuffs zwar versucht, aber sie sind nicht damit durchgekommen. Sie werden von der Schule fliegen.“

„Werden sie nicht“, versetzte Roy.

„Nein?“ Albus staunte. „Aber sie haben doch ihre Zauberkunst missbraucht, um einem anderen zu schaden, und Professor McGonagall hat gesagt…“

„In Hogwarts wird nichts so heiß gegessen wie gekocht“, unterbrach ihn Roy. „Der Schulverweis wird oft angedroht, aber nur selten wirklich durchgeführt. Sie werden mit einer Gelben Karte davonkommen.“

„Was ist eine Gelbe Karte?“, wollte Albus wissen.

„O je“, meinte Roy etwas verlegen, „entschuldige bitte, ich lerne es wohl nie. ‚Gelbe Karte‘ ist ein Muggelausdruck und heißt so viel wie ‚Verwarnung‘. Professor McGonagall wird sie eine Stunde lang Blut und Wasser schwitzen lassen und ihnen erklären, dass sie sie für ihre Missetaten der Schule verweisen müsse. Sie werden sich im Geiste schon ausmalen, wie sie ihren Eltern erklären, warum sie nach nicht einmal einer Woche geflogen sind. Marietta Loughlins Rolle – deswegen ist sie dabei – wird darin bestehen, die Schulleiterin händeringend um Gnade für ihre Hauskollegen anzuflehen. McGonagall wird sich eine Weile bitten lassen und diese Gnade dann huldvoll gewähren, natürlich nur im Tausch gegen eine empfindliche hausinterne Strafe für die Beteiligten – vier Wochen Toilettenputzen anstelle der Hauselfen, schätze ich mal, irgendetwas in der Art, für McDowell vielleicht sechs Wochen.“

„Das geschieht ihm recht!“, sagte Albus befriedigt, fügte dann aber bedrückt hinzu: „Aber für Bernie wird es dann natürlich erst recht schwer.“

„Sie werden sich nicht mehr trauen, ihn zu schlagen.“

„Es gibt Dinge“, meinte Albus bekümmert, „die mehr wehtun als Schläge.“

Ein indigniertes Räuspern unterbrach ihr Gespräch. Madam Pomfrey, die sehr alte, aber immer noch sehr energische Schulkrankenschwester, war in der Tür erschienen. „Darf ich fragen, meine Herren, was Sie hier machen, und warum Sie nicht im Unterricht sind?“

„Verzeihen Sie bitte“, sagte Roy höflich. „Professor McGonagall bittet Sie, Albus Potter zu untersuchen. Es hat eine Prügelei gegeben. Die äußeren Verletzungen hat Professor McGonagall schon selbst geheilt, aber…“

„Allzu lädiert kann er wohl nicht sein, wenn Sie beide noch Zeit für einen Plausch haben“, unterbrach sie ihn missbilligend. „Es ist gut, Mister MacAllister, ich werde ihn mir ansehen. Sie aber gehen jetzt dorthin, wo Sie hingehören.“ Madam Pomfrey hatte wie McGonagall die Gabe, allein durch ihren Tonfall jeden Widerspruch im Keim zu ersticken.

„Mach’s gut, Al“, sagte Roy, „wir sehen uns nachher.“

 

Dass ausgerechnet ein Slytherin Prügel bezogen hatte, um einem Muggel zu helfen, erschien den meisten Schülern der anderen Häuser wie ein großartiger Witz. Und geradezu ungehörig fanden sie es, dass Slytherin dafür fünfzig Punkte kassiert hatte. Albus, so meinten viele, sei ein Potter und damit eigentlich gar kein richtiger Slytherin – kein anderer von denen, so glaubten sie, hätte sich an seiner Stelle so verhalten wie er.

Albus erschien etwas später als die anderen zum Abendessen – er hatte bei seinen Hausaufgaben ein wenig getrödelt, weil seine Gedanken immer wieder zu Bernie abgeschweift waren. Bernie tat ihm furchtbar leid, bei den Hufflepuffs war er jetzt bestimmt unten durch. Als er die Große Halle betrat, wanderte sein Blick sofort zum Hufflepuff-Tisch. McDowell und seine Kumpane sahen ziemlich angefressen aus, die Stunde bei McGonagall war bestimmt unangenehm verlaufen. Albus würde wohl noch erfahren, zu welcher Strafe sie verdonnert worden waren. Sein Blick suchte und fand Bernie, der, allein und in sich zusammengesunken, am Hufflepuff-Tisch saß, während die Stühle um ihn herum leer waren. Mit ihm wollte offenbar keiner reden. Er hatte schon gegessen, trotzdem war er sitzengeblieben.

Albus blieb stehen. Obwohl seine Freunde am Slytherin-Tisch ihn schon gesehen hatten und heranwinkten, ging er zuerst zu Bernard.

„Hallo Bernie“, begrüßte er ihn. Bernie, der verloren vor sich hingestarrt hatte, schrak hoch. Als er Albus erkannte, lächelte er.

„Hallo Albus, ich bin vorhin gar nicht dazu gekommen, mich zu bedanken, du warst so schnell weg. Also“, – er stand auf und gab Albus die Hand –, „danke nochmal für alles.“

Albus war diese Dankbarkeit fast peinlich. „War doch selbstverständlich“, murmelte er.

„War es nicht, und das weißt du genau.“

„Sitzt du schon die ganze Zeit allein hier?“, wollte Albus wissen.

Bernie nickte traurig. „Besser allein hier sitzen, als mir das anzuhören, was mich nachher im Gemeinschaftsraum erwartet. Ich werde erst kurz vor neun hingehen und mich dann gleich schlafen legen.“

„Weißt du was?“, schlug Albus vor: „Setz dich doch einfach zu uns!“

„Du meinst… an den Slytherin-Tisch?“, fragte Bernie irritiert. „Da werden deine Freunde aber nicht sehr begeistert sein – ich meine… es sind Slytherins.“

Obwohl Bernie erst wenige Tage hier war, war der Ruf der Slytherins schon bis zu ihm gedrungen.

„Ich bin auch ein Slytherin!“, rief Albus halb stolz, halb gekränkt, „und sie sind meine Freunde. Also komm schon!“ Er drehte sich um, um zu den Slytherins zu gehen, und Bernie folgte ihm zögernd.

Am Gryffindor-Tisch beobachtete unterdessen James, wie sein kleiner Bruder offenbar allen Ernstes Anstalten machte, Bernie an den Slytherin-Tisch zu lotsen.

„O je, Kleiner, dir steht die Enttäuschung deines Lebens bevor“, murmelte vor sich hin und grinste schadenfroh. „Deine fünfzig Punkte haben sie gerne eingesackt, aber das, was du jetzt vorhast, kannst du dir abschminken.“ Er stupste seine Nachbarn an, um sie darauf aufmerksam zu machen.

Scorpius, Lance, Malcolm, Jennifer, Hor-Hor und die anderen Slytherin-Erstklässler hatten die Szene ebenfalls beobachtet. In der Tat schauten sie etwas verwundert drein, als Albus mit Bernie im Schlepptau bei ihnen ankam.

„Ich habe meinen Freund Bernie zu uns eingeladen“, sagte Albus in einem Tonfall, als sei es das Normalste der Welt. „Ihr habt doch bestimmt nichts dagegen, dass er sich zu uns setzt, oder?“

Einige Slytherins waren sich erkennbar unsicher, ob sie nicht doch etwas dagegen haben sollten. Sie blickten auf Scorpius, der die vornehmste Familie repräsentierte – in Slytherin war das Ansehen der Malfoys noch immer ungebrochen. Scorpius tauschte einen kurzen Blick mit Albus, dann erhob er sich.

Albus‘ Freunde sind auch meine Freunde!“, brachte er eines der großen Worte an, die er so liebte, aber es klang nicht aufgesetzt. „Selbstverständlich bist du willkommen!“

Und während Bernie sich setzte, klappten am Gryffindor-Tisch einige Unterkiefer herunter.

 

Roy kam noch später zum Abendessen als Albus, er hatte sich wieder einmal in der Bibliothek festgelesen. Obwohl er in Gedanken versunken war – er sah dann fast so zerstreut aus wie Longbottom – nahm er aus den Augenwinkeln wahr, dass die Erstklässler fast als letzte noch am Tisch saßen, und Bernie Wildfellow mittendrin. Er lächelte belustigt. Arabella Wolfe war die einzige verbliebene Sechstklässlerin. Er setzte er sich zu ihr und genehmigte sich ein riesiges Stück Rinderbraten, dazu Kartoffelgratin.

Arabella war ein mittelblondes Mädchen mit grünen Augen, sehr heller, reiner Haut und einem zurückhaltenden Wesen, durch das man sie leicht übersehen konnte. Man musste schon zweimal hinsehen, um zu bemerken, dass sie sehr hübsch war, und dies, obwohl – oder vielleicht gerade weil – man ihr eine gewisse unbestimmte Traurigkeit ansah, nicht unähnlich der, die bisweilen auch von Roy ausging, wenn er unbeschäftigt war oder sich unbeobachtet fühlte.

Im Kauen erst fiel ihm auf, dass sie offensichtlich schon gegessen hatte. Nicht ohne Verlegenheit fragte er: „Du wirst doch nicht etwa eigens auf mich gewartet haben?“

Arabella errötete leicht: „Natürlich nicht.“

Natürlich doch. Roy aber fand es bequemer, so zu tun, als ob er ihr glaubte. Um keine Pause aufkommen zu lassen, fragte er zwischen zwei Bissen:

„Wie kommt Wildfellow eigentlich an unseren Tisch?“

„Dreimal darfst du raten, wer ihn eingeladen hat.“

Roy lachte. „Dachte ich mir. Und die anderen hatten nichts dagegen?“

„Du siehst es ja“, lächelte sie. „Der kleine Potter ist ziemlich beliebt und außerdem mit Malfoy befreundet. Sie schlagen ihm nicht gerne etwas ab.“

„Du hast einen guten Blick für Kinder.“

„Ich würde sagen, Mädchen haben generell mehr psychologisches Feingefühl als Jungs. Vielleicht, weil sie sich vor ihren eigenen Gefühlen nicht so fürchten.“

Roy zog es vor, das Thema nicht zu vertiefen. Er vertiefte sich lieber in seinen Braten, den er schon halb verschlungen hatte, denn er war ein berüchtigter Schnellesser.

Die Erstklässler standen nun auf, um sich auf den Weg zum Gemeinschaftsraum zu machen. Roy konnte sehen, dass Albus und Bernie stehenblieben. Sie schienen leise zu diskutieren, Albus eifrig, Bernie zweifelnd.

Nach einer Weile waren sie sich wohl einig geworden. Roy schob gerade seinen Teller zur Seite, als die beiden schnurstracks auf ihn zukamen.

„Hallo Roy, ich habe eine Idee“, sprudelte Albus los. „Bernie hat bei den Hufflepuffs keine Freunde, und wahrscheinlich werden sie ihm dort das Leben zur Hölle machen. Wie wäre es, wenn wir ihn in Slytherin aufnehmen?“

Roy war auf manches vorbereitet, aber darauf nicht. „Was ist das denn für eine Schnapsidee?“, fragte er grob. „Da könnte ja jeder kommen, der mit den Mitschülern seines Hauses ein Problem hat. Es gehört in Hogwarts einfach dazu, dass man in dem Haus bleibt, das einem zugewiesen wurde.“

Albus war zwar enttäuscht, gab sich aber nicht so schnell geschlagen. „Du weißt doch, dass bei Bernie manches anders ist. Er fürchtet sich bei den Hufflepuffs, aber bei uns fühlt er sich wohl.“

„Ja“, nickte Bernie eifrig, „mit den Slytherins verstehe ich mich sehr gut, und mein bisher einziger Freund hier“ – er sah zu Albus – „ist ein Slytherin!“

„Das wird McGonagall nicht mitmachen. Sie wird sagen, dass man die Hufflepuffs geradezu belohnen würde, wenn man ihnen ihren ungeliebten Mitschüler vom Hals schafft, nachdem sie ihn verprügelt haben. Vergesst das ganz schnell wieder.“

Albus ließ nicht locker. „Wenn du als Vertrauensschüler uns unterstützt, macht sie es vielleicht doch. Man sagt, dass sie dich schätzt und deine Meinung respektiert.“

„Vielleicht, aber doch nicht so sehr, dass sie sich von mir in ihren Entscheidungen als Schulleiterin beeinflussen lässt!“

„Wir können es doch wenigstens versuchen. Ich meine, gerade du müsstest doch Verständnis für seine Lage haben. Irgendeiner muss ihm doch helfen, und wer, wenn nicht du?“

Er wollte vor Bernie und Arabella nichts sagen, wovon Roy wollte, dass er es für sich behielt. Er beugte sich daher vor und flüsterte: „Du hast doch selber gesagt, du wärst auf der Muggelschule froh gewesen, wenn jemand dir geholfen hätte.“

„Ich habe aber auch gesagt“, gab Roy laut zurück, „dass mein Problem darin lag, dass ich als Zauberer in der Muggelwelt nichts zu suchen hatte.“

„Ach so, du findest, Bernie gehört nicht hierher?“

„Tut mir leid“, wandte Roy sich nun an Bernie, der dem Wortwechsel mit traurigen Augen folgte, „aber ich vertraue auf den Sprechenden Hut, und dessen Meinung war eindeutig.“

„Aber Bernie ist ja jetzt nun einmal da, McGonagall hat ihn aufgenommen.“ Albus war wirklich hartnäckig. „Jetzt ist er verzweifelt, weil er in einem Haus steckt, das ihn ablehnt. Du könntest ihm helfen, aber du weigerst dich!“

„Ob ich ihm helfen könnte, bezweifle ich.“

„Du versuchst es aber auch nicht, das heißt, du willst ihm auch nicht helfen!“, rief Albus empört und enttäuscht.

Roy seufzte. Albus‚ Sturheit zwang ihn, seine Beweggründe offenzulegen.

„Weißt du, Albus, wenn es Bernie nur zufällig nach Hogwarts verschlagen hätte und ich wüsste, dass er der einzige Muggel hier bleiben wird, hätte ich kein Problem damit, seine Aufnahme in Slytherin zu befürworten. Ich glaube aber, dass deine Tante mit ihm ein Experiment macht, um zu beweisen, dass Muggel sehr wohl nach Hogwarts gehören. Und ich werde nichts unterstützen, was ihr am Ende erlaubt zu behaupten, ihr Experiment sei erfolgreich gewesen.“

Albus starrte ihn entgeistert an: „Da braucht jemand deine Hilfe, und du lässt ihn im Stich, nur um dem Zaubereiministerium in die Suppe zu spucken? Aber Hermine wirfst du Prinzipienreiterei vor, ja? Du… Du…“ Bevor Albus etwas sagen konnte, was er später vielleicht bedauert hätte, warf Roy, bekümmert, aber bestimmt, ein:

„Nicht ich habe diese Lage herbeigeführt. Und bevor du dich weiter aufregst, denk an Kolumbus.“

Albus wusste nicht, was er darauf antworten sollte. In jedem Fall war eine Diskussion offenbar sinnlos. Deshalb sagte er nur: „Komm Bernie, wir gehen! Tschüss!“

Roy sah den beiden bekümmert nach, als sie die Halle verließen.

Er seufzte. „War das jetzt richtig?“, fragte er Arabella.

„Du hast gute Gründe auf deiner Seite.“

Albus auch.“

 

 

Albus‘ Befürchtung, die Hufflepuffs würden Bernie das Leben zur Hölle machen, erwies sich in den folgenden Tagen als unbegründet, und das war sein eigenes Verdienst. Dass ausgerechnet die als muggelfeindlich verschrienen Slytherins sich Bernie gegenüber anständiger verhalten hatten als die Erstklässler ihres eigenen Hauses, war den älteren Hufflepuffs so todpeinlich, dass sie ihre Jüngsten noch am selben Abend ins Gebet nahmen. Von da an ließen sie Bernie in Ruhe. Nicht nur, dass sie ihn nicht schlugen, sie verschonten ihn auch mit abfälligen Bemerkungen und schnitten ihn nicht. Anfreunden wollte sich freilich auch keiner mit ihm.

So kam es, dass Bernie sich in den Pausen und im gemeinsamen Unterricht an Albus und damit auch an die Slytherins hielt, die ihn allmählich schätzen lernten. In Slytherin gab es nur wenige Schüler, die in der Muggelwelt aufgewachsen waren, und sie alle waren schon älter, Roy zum Beispiel. Bei den Erstklässlern gab es keinen. In ihrem Kreis wirkte Bernie exotisch, aber gerade deshalb interessant. Bei den Muggeln gab es ja so viele kuriose Dinge, dass es allein deshalb schon spannend war, ihm zuzuhören. Und dass Bernies Vater als Premierminister für die Muggelwelt ungefähr das war, was die Zaubereiministerin für die magische Welt war – Bernie hatte nicht damit geprahlt, Albus hatte es beiläufig erwähnt –, verfehlte seinen Eindruck auf die standesbewussten Slytherins natürlich auch nicht.

Sie waren auch taktvoll genug, ihn nicht auf seinen Mangel an magischen Fähigkeiten anzusprechen. Eines Tages in der zweiten Schulwoche allerdings, als Bernie, Albus, Jennifer und Scorpius in der Pause auf dem Schulhof beisammenstanden, konnte Scorpius seine Neugier nicht mehr zügeln:

„Sag‘ mal, Bernie, wie bist du eigentlich zu deinem Zauberstab gekommen?“

„Mühsam“, antwortete dieser, und die Runde lachte.

„Das dachte ich mir schon.“ Scorpius überlegte, denn er wollte nicht unhöflich sein. „Ich meine, normalerweise sucht der Zauberstab sich den Zauberer, und dass sie zusammengehören, erkennt man an dem Funkenregen, wie Flitwick ihn vorgeführt hat, aber den kannst du mit deinem Stab doch bisher gar nicht erzeugen.“

„Ich habe in dem Laden in der Winkelgasse auch drei Stunden lang Zauberstäbe ausprobiert, und keiner hat funktioniert, auch nicht der, den ich jetzt habe“, sagte Bernie. „Aber der ist in meiner Hand wenigstens warm geworden.“

„Er ist warm geworden?“, fragte Scorpius überrascht. „Das ist aber ein gutes Zeichen! Es zeigt, dass dein Zauberstab dich mag und dir dienen will.“

„Er mag mich?“, fragte Bernie belustigt. „Haben Zauberstäbe denn Gefühle?“

„O ja“, sagte Albus, „ungefähr so wie Pflanzen, von denen dir auch jeder Gärtner schwören wird, dass sie Gefühle haben. Vielleicht hat Flitwick recht, und du musst wirklich einfach mehr üben.“

„Ich habe es doch versucht“, meinte Bernie bedrückt, „es geht einfach nicht.“

„Vielleicht sind die Zauber, die du bisher versucht hast, einfach noch zu schwer für dich, und du musst mit etwas Leichterem anfangen.“ Albus zückte seinen Zauberstab und hob ihn. „Versuch’s doch erstmal mit dem Einfachsten: Lumos!“ An der Spitze des Stabes erschien ein weißer Lichtpunkt.

„Na, wenn du meinst.“ Bernie hob seinerseits seinen Stab und sagte zögernd: „Lumos!“ Nichts geschah.

„So funktioniert das nicht“, sagte Jennifer, „das ist zu ängstlich. Du musst daran glauben. Wenn du zauberst, musst du das Ergebnis richtig vor dir sehen! Ich zeig’s dir nochmal und du konzentrierst dich auf meinen Stab. Lumos.“ Auch Jennifers Stab flammte auf. „Jetzt musst du fühlen, dass deiner es auch macht. Konzentrier dich!“

Erneut hob Bernie den Stab, fixierte dessen Spitze und sagte entschlossen: „Lumos!“ Wieder rührte sich nichts.

„Nochmal, und konzentrier dich!“, wiederholte Jennifer hartnäckig.

Bernie hob den Stab, schloss kurz die Augen, fixierte erneut den Stab: „Lumos!“ Diesmal geschah etwas: Ein schwacher dunkelroter Funke, ähnlich der Spitze einer glimmenden Zigarette, beim herrschenden Tageslicht kaum zu erkennen, erschien an der Spitze des Stabes, um freilich sofort wieder zu verlöschen. Bernie sah bekümmert drein. „Das wird einfach nichts.“

„Von wegen“, sagte Scorpius. „Es zeigt, dass eine, wenn auch schwache, magische Energie von dir ausgeht.“

„Wirklich?“, strahlte Bernie.

„Na sicher, sonst hätte der Zauberstab nämlich überhaupt nichts gemacht. Ich sage ja, er will dir dienen! Du musst einfach nur lernen, das freizusetzen, was an magischer Energie in dir steckt, auch wenn es vielleicht nicht viel ist. Am besten, du übst weiter den Lumoszauber. Lerne, daran zu glauben und dich darauf zu konzentrieren!“

So sehr Bernie sich aber in den folgenden Tagen auch bemühte: Mehr als diesen Glutpunkt konnte er seinem Stab nicht entlocken – diesen allerdings immer zuverlässiger, länger und heller.

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