43 – Der Anwalt

 

Ginny starrte auf den Tagespropheten, als hoffte sie, sein Inhalt würde sich durch ihre bloße Willenskraft vor ihren Augen ändern. Die Schlagzeile aber schrie unerbittlich: TODESSTRAFE!

Dass sie Harry verhaftet hatten, wusste sie schon, seit am späten Vormittag ein Dutzend Auroren in ihr Haus eingedrungen waren und es durchsucht hatten. Die meisten dieser Auroren, ehemalige Kollegen ihres Mannes, kannte sie. Sie waren sehr höflich, die ganze Aktion war ihnen sichtlich peinlich, sie beantworteten Ginny allerdings keine Fragen, sondern verwiesen auf die offizielle Mitteilung des Ministeriums, die bald eintreffen werde. Nachdem sie mit professioneller Routine das Haus durchsucht hatten, halfen sie Ginny sogar bei ihren Aufräumzaubern – ein Service, den Auroren normalerweise ebensowenig leisten wie die Muggel-Kripo. Pro forma stellten sie Ginny, die sie offenbar für unverdächtig hielten, noch ein paar Fragen und zogen dann ab. Die Aktion hatte ungefähr zwei Stunden gedauert.

Am Nachmittag traf dann die Eule des Ministeriums mit der offiziellen Mitteilung ein:

 

Sehr geehrte Mrs. Potter,

wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Ehemann Harry James Potter am heutigen Vormittag verhaftet wurde, da er einer Reihe schwerwiegender staatsgefährdender Straftaten dringend verdächtig ist.

Bis zum Abschluss der Ermittlungen, die das Amt für Magische Sicherheit zuständigkeitshalber aufgenommen hat, dürfen Ihnen weitere Auskünfte nicht erteilt werden.

Über den Beschuldigten ist bis auf Weiteres eine Kontaktsperre verhängt worden. Daher dürfen weder Sie noch ein eventuell beauftragter Anwalt ihn sehen oder sprechen.

Aus Sicherheitsgründen wird der Beschuldigte noch heute nach Askaban überstellt.

Es ist Ihnen bis auf Weiteres untersagt, London zu verlassen. Ferner ist es Ihnen untersagt, ohne ausdrückliche Genehmigung das Ministerium zu betreten. Sie sind aber verpflichtet, sich für eine etwaige Befragung zu unserer Verfügung zu halten.

In der Hoffnung, dass Sie ungeachtet dieser misslichen Umstände wohlauf sind, verbleibe ich mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung

Cesar Anderson

Amt für Magische Sicherheit

 

Das alles war schlimm genug gewesen, aber erst die Schlagzeile des Tagespropheten machte ihr klar, dass es für Harry nicht um Gefängnis oder Freiheit, sondern um Leben und Tod ging. Hermine wollte ihn wirklich umbringen!

Langsam gewann Ginny ihre Fassung wieder. Jetzt war nicht die Zeit, in Tränen auszubrechen! Ihre Kinder brauchten sie. Ihr Mann brauchte sie.

Sie hatte Lily für heute vorsorglich zu ihren Großeltern geschickt, um an diesem entscheidenden Tag in jedem Fall frei agieren zu können. Lily würde am leichtesten abzuschirmen sein, sie ging auf eine Muggel-Grundschule, wo ihre Mitschüler nicht wussten, was in der magischen Welt vor sich ging. Falls sie, Ginny, ebenfalls verhaftet würde, würden Arthur und Molly sich um Lily kümmern.

Sie musste ihren Söhnen nach Hogwarts schreiben. Sie musste Harry einen Anwalt besorgen…

Gerade, als sie darüber nachdachte, klingelte es an der Tür. Sie zuckte zusammen. Bestimmt Andersons Sicherheitsleute! Sie spähte durch einen Vorhang, sah aber nur einen einzelnen, sehr elegant gekleideten Zauberer, der ihr irgendwie bekannt vorkam und entschieden nicht so aussah, wie Ginny sich einen Geheimauror vorstellte.

Sie öffnete die Tür. Der Zauberer machte eine knappe Verbeugung und stellte sich vor:

„Honorius Greengrass, ich bin Anwalt.“

Er hätte seinen Beruf nicht zu nennen brauchen, denn seinen Namen kannte jedes Kind. Greengrass war der Staranwalt schlechthin und vertrat nur Mandanten der allerbesten Gesellschaft, die seine astronomischen Honorare bezahlen konnten, dies aber gern taten, weil er praktisch jeden Prozess gewann. Er war ein Cousin von Astoria Malfoy, stammte aber aus einem Zweig der Familie Greengrass, der noch vor fünfundzwanzig Jahren, als er mit geborgtem Geld seine Kanzlei eröffnete, völlig verarmt gewesen war, nun aber dank Honorius wieder zu den Wohlhabenden im Lande zählte, wenn auch noch nicht zu den ganz Reichen.

„Wie komme ich zu der Ehre, Mister Greengrass?“, fragte Ginny nicht ohne Verwunderung.

Draco Malfoy hat mich gebeten, sofern Sie dies wünschen, die Verteidigung Ihres Mannes zu übernehmen, und auch Ihre, falls es erforderlich sein sollte. Er übermittelt Ihnen seine herzlichsten Grüße.“

„Danke“, meinte Ginny etwas verwirrt, „ich wusste gar nicht, dass wir so dicke Freunde sind.“

„Die Söhne Ihrer beiden Häuser sind es, und das genügt.“

„Das ist wirklich sehr nett, und ich danke Ihnen vielmals für Ihr Angebot, aber ich fürchte, Mister Greengrass, Ihr Honorar übersteigt bei Weitem unsere finanziellen Möglichkeiten.“

„Machen Sie sich darüber bitte keine Gedanken. Ich werde Ihnen kein höheres Honorar berechnen, als Sie bei jedem anderen Anwalt auch bezahlen müssten.“

Er verzichtete darauf zu erwähnen, dass die Malfoys die stattliche Differenz übernehmen würden und ihm für den Erfolgsfall sogar einen fetten Bonus zugesichert hatten.

Jetzt lächelte Ginny. „Ihr Erscheinen ist die erste angenehme Überraschung heute. Treten Sie doch bitte ein.“

Sie führte ihn ins Wohnzimmer und zeigte ihm zunächst den Brief des Amasi-Chefs. Greengrass runzelte die Stirn.

„Kontaktsperre“, sagte er, „nun, das war zu befürchten. Das Amt für Magische Sicherheit hat eine Reihe von Sondervollmachten, zu denen auch die Befugnis gehört, einen Verdächtigen unter Berufung auf laufende Ermittlungen auch ohne anwaltlichen Beistand auf unbestimmte Zeit festzuhalten. Erst wenn das Amt entscheidet, dass die Ermittlungen abgeschlossen sind, und die Sache an die reguläre Abteilung für Magische Strafverfolgung abgibt, tritt ihr Mann sozusagen wieder in die Sphäre der normalen Rechtspflege ein. Erst dann kann ich als sein Anwalt Akteneinsicht verlangen und mit ihm sprechen.“

„Was sind das denn für Gesetze?“, empörte sich Ginny. „Davon habe ich noch nie gehört!“

„Diese Regelung gilt auch erst seit Beginn des Jahres.“

„Und bis dahin können Sie nichts tun?“, fragte Ginny entgeistert.

„O doch, ich kann Gespräch und Akteneinsicht immerhin beantragen, außerdem kann ich auf Beschleunigung drängen. Und schließlich“, er räusperte sich, „will die Zaubereiministerin offenbar einen Prozess gegen Ihren Mann führen. Die Amasi-Ermittlungen können sich also nicht ewig hinziehen.“

„Da mein Mann zugeben wird, was er ohnehin nicht abstreiten kann, werden diese Ermittlungen wohl ziemlich kurz sein.“

In der Tat hatten sie dies für den Fall seiner Verhaftung vereinbart. Harry hatte sogar in einem abgelegenen Gebiet im Waliser Bergland eine Höhle als Scheinversteck für Hermine eingerichtet, um die Auroren gar nicht erst auf die Idee zu bringen, in Hogwarts zu ermitteln, und dadurch Albus und die Unbestechlichen zu schützen.

„Ich fürchte, mit einem sehr schnellen Beginn der offiziellen Prozessvorbereitungen können wir trotzdem nicht rechnen“, meinte Greengrass. „Nach meiner Einschätzung wird die Zaubereiministerin den Prozess durch eine intensive Pressekampagne vorbereiten, die ihre Zeit braucht, zwei bis drei Wochen, schätze ich, allerdings kaum länger, da die Öffentlichkeit sonst abzustumpfen droht. Ich fürchte auch, dass man versuchen wird, Ihren Mann seelisch… äh, wie soll ich sagen…“

„… zu brechen? Das haben schon ganz Andere versucht!“, entgegnete Ginny verächtlich.

Greengrass lächelte.

„In der Zwischenzeit“, sagte er, „muss ich mich vorbereiten. Ich bitte Sie also, mir alles zu sagen, was Sie wissen. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass die anwaltliche Schweigepflicht absolut ist. Anders als in manchen Muggelstaaten darf und muss ich als Anwalt einen Mandanten vor Gericht gegebenenfalls auch wider besseres Wissen, das heißt, selbst falls ich positiv wissen sollte, dass er schuldig ist, für unschuldig erklären.“

Ginny erzählte dem Anwalt nun alles über den Fluch und über Harrys Vorhaben und ließ nur die Beteiligung der Unbestechlichen weg, die, wie sie fand, nichts zur Sache tat. Greengrass hörte aufmerksam zu.

„Nun“, meinte er schließlich, „damit zeichnen sich immerhin die Konturen möglicher Prozessstrategien ab: Am einfachsten wäre es natürlich, sich darauf zu berufen, er habe unter dem Imperiusfluch gestanden…“

„Das scheitert bei Harry daran, dass er schon als Schüler den Imperiusfluch abzuschütteln wusste und Hermine das besser als irgendjemand sonst weiß“, wandte Ginny ein. „Außerdem hat er das Aurorenprogramm zur Imperius-Immunisierung durchlaufen. Und schließlich: Wer soll ihn denn verflucht haben?“

„Ja, das sind sehr berechtigte Einwände, ich wollte den Punkt auch nur der Vollständigkeit halber erwähnt haben. Die zweite denkbare Strategie wäre, einfach die Wahrheit zu sagen. Wenn man beweisen könnte, dass die Ministerin unter einem Fluch steht, so könnte Ihr Mann sich auf einen übergesetzlichen Notstand berufen, aber Ihr einziger Beweis ist diese rückwärtslaufende Tonaufzeichnung, und dieser Beweis ist alles Andere als zwingend. Außerdem könnte der Richter verbieten, ihn in den Prozess überhaupt einzuführen…“

„Warum sollte er das tun?“

„Weil, wie ich fürchte, dieser Richter niemand Anderes sein wird als die Zaubereiministerin selbst.“

„Aber… das geht doch nicht!“, rief Ginny. „Hermine kann doch nicht als Opfer, Zeugin, Anklägerin und Richterin in einer Person auftreten.“

„O doch, das kann sie, und angesichts der Bedeutung, die sie diesem Prozess zweifellos beimisst, bin ich fast sicher, dass sie es auch tun wird.“ Er überlegte einen Moment. „Sehen Sie, im Magischen Staat ist die Stellung des Zaubereiministers nahezu allmächtig. Gegen den Missbrauch dieser Macht schützt uns traditionell die Tatsache, dass es sich um ein sehr kleines Gemeinwesen handelt. Die Stellung des Ministers beruht letztlich auf dem Konsens einer relativ kleinen Führungsschicht, aus der er sich nicht ausgrenzen möchte. Da werden institutionelle Sicherungen nicht als so wichtig betrachtet wie in großen Muggelstaaten. Zerbricht dieser Konsens aber, wie in den Zauberer-Bürgerkriegen, dann wird Machtmissbrauch ihm erst recht nachgesehen, weil er als Staatsnotwehr gerechtfertigt werden kann.“

„Und genau deshalb“, sagte Ginny nachdenklich, „versucht Hermine eine Bürgerkriegssituation zu fingieren und erklärt jeden Gegner zum Todesser, dem man den Krieg erklären müsse.“

Der Anwalt nickte. „Sie sagen es. Und die Tat Ihres Mannes, so legitim sie ist, gibt ihr den idealen Vorwand.“

„Aber diese Notverordnung!“, rief Ginny. „Sie kann doch nicht nachträglich die Strafen verschärfen!“

„Sicher“, antwortete Greengrass, „dies ist ein schwerer Verstoß gegen den klassischen Grundsatz Nulla poena sine lege: keine Strafe ohne ein Gesetz, das schon zum Tatzeitpunkt galt.“

„Na also, dann muss und wird der Zaubergamot die Anwendung ablehnen!“

Der Anwalt räusperte sich. „Sicherlich werde ich diesen Gesichtspunkt im Prozess geltend machen. Versprechen Sie sich aber bitte nicht zu viel davon: Wie Sie schon am lateinischen Wortlaut erkennen, handelt es sich um einen Grundsatz des römischen Rechts. Das magische Recht ist aber eine Fortentwicklung des alt-angelsächsischen Rechts, in dem dieses Prinzip nicht ohne Weiteres gilt. Ich fürchte, es gibt eine Reihe von Präzedenzfällen für die rückwirkende Geltung von Strafgesetzen…“

Ginny stöhnte.

„Im Übrigen“, fuhr der Anwalt unbeirrbar fort, „hat der Zaubergamot nur über die Schuld oder Unschuld Ihres Mannes zu befinden, nicht über das anzuwendende Recht und auch nicht über das Strafmaß. Das obliegt allein dem Richter…“

„… also wieder Hermine! Wie um alles in der Welt wollen Sie unter solchen Voraussetzungen einen Prozess gewinnen?“, fragte sie, und bei aller Beherrschung schwang ein Anflug von Panik in ihrer Stimme.

„Der Schlüssel liegt im Zaubergamot“, entgegnete Greengrass, „als der Instanz, die von der Ministerin unabhängig ist. Spricht er Ihren Mann schuldig, so ist davon auszugehen, dass die Richterin ihn zum Tode verurteilt. Eine defensive Prozessstrategie, die auf eine milde Strafe abzielt, wäre zum Scheitern verurteilt. Es gibt nur Sieg oder Tod, nichts dazwischen. Wir müssen es auf einen glatten Freispruch anlegen!“

„Und Sie meinen, Sie schaffen das?“

„Ich kann selbstverständlich nichts versprechen und muss auch abwarten, welche Beweise die Magische Strafverfolgung vorlegt. Nach allem, was Sie mir erzählt haben und was ich dem Tagespropheten entnehme, wird die Anklage den Vorwurf des versuchten Mordes, sofern sie ihn überhaupt aufrechterhält und er nicht nur aus propagandistischen Gründen erhoben wurde, nicht beweisen können. Der zentrale Vorwurf, an dem auch die voraussichtlichen Neben-Anklagepunkte, Körperverletzung und dergleichen, hängen, ist der des Hochverrats…“

„… und der wird schwer zu entkräften sein“, ergänzte Ginny resigniert.

„Technisch hat Ihr Mann diesen Tatbestand unwiderlegbar erfüllt, denn er hat die Zaubereiministerin im Amt angegriffen und außer Gefecht gesetzt, und dies mit dem Ziel, sie an der Ausübung ihres Amtes zu hindern und sich zumindest zeitweise an ihre Stelle zu setzen. Allerdings“ – Greengrass machte eine Kunstpause und erhob den Zeigefinger – „kann ein solches Vorgehen durchaus legal sein – und auch dafür gibt es Präzedenzfälle –, wenn es sich gegen einen Machthaber richtet, der seinerseits ein Hochverräter ist und deshalb gestürzt werden darf und sogar muss. Dies scheint mir auf die gegenwärtige Ministerin zuzutreffen.“

„Aber Hermine wird die entsprechenden Beweise kaum im Prozess zulassen“, wandte Ginny ein.

„Darauf bin ich auch nicht unbedingt angewiesen“, beruhigte Greengrass sie. „Ihre Meinungsgesetze, die Gründung einer Geheimpolizei, der Rückruf der Dementoren, schließlich die jüngste Notverordnung sind zum Großteil bekannt und ergeben in der Zusammenschau den Versuch, die hergebrachte innere Ordnung des Magischen Staates zu Gunsten einer Diktatur umzustürzen. Hinzu kommt noch ihre Politik der ‚Öffnung gegenüber der nichtmagischen Welt‘, die die Integrität des Magischen Staates schlechthin untergräbt. Selbst wenn sie mich daran hindert, es in der Beweisaufnahme vorzutragen: Mein Plädoyer kann nicht einmal die Ministerin mir verbieten, und ich bin zuversichtlich, dass es seinen Eindruck auf die Mitglieder des Gamots nicht verfehlen wird, zumal, wenn man auf diese Mitglieder im Vorfeld einen gewissen… Einfluss ausübt.“ Er lächelte.

„Einfluss?“, fragte Ginny etwas verwirrt.

„Ich kenne sie alle, und ich kenne ihre Schwächen“, antwortete der Anwalt selbstgefällig.

Ginny fand zwar, dass dies alles penetrant nach Korruption roch, zumindest aber nach genau den Methoden, über die Harry und sie sich immer aufgeregt hatten, aber was blieb ihr übrig?

„Das heißt also“, fasste sie zusammen, „Sie wollen einen politischen Prozess führen. Wenn der Gamot Harry freispricht, hat er Hermine automatisch schuldig gesprochen, und dann kommt nicht nur mein Mann frei, sondern die Zaubereiministerin stürzt.“

„So ist es“, bestätigte Greengrass.

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