31 – Der Patronus

 

Harry war mit seinem strammen Pensum im Oktober viel schneller vorwärtsgekommen als seinerzeit in den DA-Stunden, die er als Fünftklässler gegeben hatte. Kein Wunder: Er selbst besaß viel tiefere Kenntnisse als damals, vier seiner sechs Schüler waren Sechst- und Siebtklässler, deren bisheriger Unterricht in Verteidigung gegen die dunklen Künste außerdem durchweg von kompetenten Lehrern erteilt worden war – anders als bei ihm damals – und Alle waren hochbegabt. Selbst Albus konnte ordentlich mithalten, zumal er zwischen den DA-Stunden allein oder mit einem der Älteren zusätzlich übte.

Als Harry am ersten Montag im November apparierte, sah er daher die Zeit gekommen, seinen Schülern eine Freude zu machen:

„Heute fangen wir mit dem Patronus an!“

Die Unbestechlichen waren begeistert. Einen Patronus zu beschwören gehörte zur hohen Schule der Zauberei und war unter anderem das einzige bekannte Mittel zur Abwehr von Dementoren. Da Hermine Ende Oktober die Dementoren aus der Verbannung geholt und nach Askaban zurückbeordert hatte, war gerade das Erlernen des Patronuszaubers nun auch besonders dringlich geworden. Die Unbestechlichen hingen gebannt an seinen Lippen.

„Der Patronuszauber“, erläuterte Harry, „ist für viele Zauberer zu schwierig und wird deshalb in Hogwarts normalerweise nicht gelehrt. Er erfordert ein hohes Maß an magischer Energie, die man nicht lernen kann – man hat sie oder hat sie nicht. Es ist einfach eine Frage des Talents. Er erfordert aber noch mehr als das, nämlich höchste Konzentration und vor allem – und das ist das Entscheidende – eine bestimmte innere Haltung: In dem Moment, in dem man ihn beschwört, muss man glücklich sein. Ihr seht das Problem: Gerade, wenn man ihn am dringendsten braucht, das heißt in Lebensgefahr und wenn Dementoren versuchen, das Glück aus einem herauszusaugen, ist er am schwierigsten heraufzubeschwören.“

„Wie kann ich mich denn willkürlich glücklich machen?“, fragte Orpheus. „Mit einem Aufmunterungstrank?“

„Grundsätzlich keine schlechte Idee“, bestätigte Harry, „aber oft werdet ihr keine Zeit haben, noch schnell einen Aufmunterer zu schlucken. Nein, ihr müsst es im Kopf schaffen. Ihr könnt euch in eurer Phantasie etwas vorstellen, was euch glücklich macht, zum Beispiel den Quidditch-Pokal zu gewinnen“, sagte er lächelnd zu Julian, „aber am zuverlässigsten funktionieren glückliche Erinnerungen. Wenn Ihr den Patronus beschwören wollt, müsst ihr euch das glücklichste Ereignis vorstellen, das ihr in eurer Erinnerung findet, und zwar so plastisch wie möglich. Ich mache euch den Zauber jetzt einmal vor.“

Harry konzentrierte sich kurz, schwenkte seinen Stab und rief: „Expecto Patronum!“

Die Unbestechlichen mussten unwillkürlich blinzeln, da der nicht allzu große Raum schlagartig in gleißendes silberfarbenes Licht getaucht wurde. Als sie wieder hinsehen konnten, gewahrten sie einen gewaltigen, silbern glänzenden Hirsch, und brachen in bewundernde „Aaah!“, „Oooh!“, und „Cooool!“, aus. Harry ließ den Patronus mit einem erneuten Schlenker seines Zauberstabs wieder verschwinden.

„So muss es am Ende aussehen. Lasst euch aber nicht entmutigen, wenn es nicht auf Anhieb funktioniert. Man muss sehr viel üben, um es zu schaffen. Ich glaube nicht, dass ihr heute mehr als einen gestaltlosen Patronus hinbekommt, aber das ist der erste Schritt.“

Die Schüler machten sich mit größtem Eifer, aber unterschiedlichem Erfolg ans Üben.

Albus hatte ein Luxusproblem: Seit er denken konnte, war er nie wirklich unglücklich gewesen, und als er darüber nachdachte, welches seiner Erlebnisse das glücklichste gewesen war, kamen so viele in Frage, dass er die Qual der Wahl hatte. Allein in den letzten Wochen war er mindestens dreimal wirklich glücklich gewesen: als er feststellte, dass er in Scorpius einen echten Freund gefunden hatte, als Roy sagte, wie stolz er auf ihn war, und vor allem, als sein Vater ihm den Tarnumhang und die Rumtreiberkarte anvertraute. Letzteres war auch die Erinnerung, auf die er sich konzentrierte, als er nun das erste Mal Expecto Patronum rief.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Natürlich zeigte sich nicht auf Anhieb ein gestaltlicher Patronus, aber der silbrige Nebel, den sein Zauberstab ausstieß, war beachtlich und zeigte gleich so etwas wie Konturen, während die Zauberstäbe seiner viel älteren Freunde eher Dampfschwaden hervorbrachten, die sogleich wieder verflogen, und zum Teil nicht einmal das. Davon angespornt, übte Albus mit Feuereifer weiter, und ihm schien, dass sein Patronus beim zweiten, dritten und vierten Mal jeweils noch ein wenig größer und klarer wurde.

Dann allerdings war ein gewisser toter Punkt erreicht. Wie sehr Albus sich auch in der folgenden Stunde mühte: Sein gestaltloser Patronus war gut, er war besser als die der anderen, machte aber keine Anstalten, zu einer Gestalt heranzureifen. Die Erinnerung an die Übergabe der Karte und des Tarnumhangs schien sich irgendwie abzunutzen – vielleicht kam er deshalb nicht mehr so recht voran? Albus überlegte. Gab es denn nicht etwas, an das er schon immer gern und mit Glücksgefühlen zurückgedacht hatte? Wieder hatte er die Qual der Wahl, aber ein Erlebnis erschien ihm besonders passend. Ja, damit würde er es versuchen…

Die DA-Stunde neigte sich dem Ende zu. Harry hatte schnell erfasst, dass sein Sohn auf dem besten Wege war und nicht viel Unterstützung brauchte. Als Albus einmal aufsah und ihre Blicke sich trafen, zwinkerte Harry ihm bloß aufmunternd zu und hob den Daumen. Dann wandte er sich wieder Roy und Arabella zu, die an diesem Abend seine Sorgenkinder waren.

Während Orpheus‘, Julians und Ares‘ gestaltlose Patroni allmählich an Größe und Kontur zulegten, auch wenn sie noch nicht ganz so eindrucksvoll waren wie der von Albus, plagten Roy und Arabella sich immer noch mit Wölkchen ab, die jeder Spraydose imposanter gelungen wären.

Harry konnte es sich nicht erklären. Gerade Roy war einer der begabtesten Zauberschüler, die er je gesehen hatte – alle Zauber, die sie in den Wochen zuvor geübt hatten, waren ihm leichter von der Hand gegangen als allen Anderen, und Arabella stand ihm kaum nach. Der Patronus aber schien eine unüberwindliche Hürde zu sein.

„Nur Mut und nicht verkrampfen“, munterte er die beiden auf, die schon leicht resigniert die Köpfe schüttelten. „Beim Patronus müsst ihr locker bleiben, er gehört zu den wenigen Zaubern, deren Gelingen man nicht durch bloße Willensanstrengung erzwingen kann. Ich glaube, euer Fehler ist…“

Er kam nicht mehr dazu, den Fehler zu erläutern, denn genau in diesem Moment wurde der Raum jäh von strahlendem silbrigem Licht erfüllt. Arabella, die in die Richtung des Lichts sah, stieß einen spitzen Schrei aus. Harry fuhr herum und brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er sah: Auf dem Boden ringelte sich eine gewaltige, silbern leuchtende Schlange, die soeben majestätisch und stolz den Kopf mit dem Nackenschild emporreckte. Alle starrten voll Ehrfurcht auf das magische Tier. Keiner wagte zu sprechen.

„Wessen Patronus ist das?“, fragte Harry schließlich leise.

„M… meiner, Papa.“

Harry konnte es kaum fassen. Sein Sohn – sein Sohn! – hatte es als Erster geschafft! Er sprang hinüber zu Albus und schlang die Arme um ihn.

„Du bist besser als ich!“, jubelte er. „Ich brauchte damals viel länger, und dabei war ich schon dreizehn!“

Voll Euphorie, den Arm immer noch um Albus‘ Schulter gelegt, weidete er sich erneut an dem erhabenen Anblick des Patronus.

Auch die anderen fanden langsam ihre Fassung wieder. Ares kam zu Albus und klopfte ihm lachend auf die Schulter: „Meine Güte, eine Schlange als Patronus! Mehr Slytherin geht nicht!“

Nachdem Alle ihrem Jüngsten gratuliert hatte, sah Harry auf die Uhr und meinte: „Es ist jetzt halb neun, Zeit zum Aufhören. Einen besseren Schlusspunkt werden wir heute nicht mehr bekommen! – Und außerdem“, raunte er Albus zu, „kann ich es nicht erwarten, es deiner Mutter zu erzählen.“

 

Während die anderen schon vorausgegangen waren, verließen Roy und Albus als letzte den Geheimraum. Roy, so sehr er Albus seinen Triumph gönnte, war ein wenig bedrückt wegen seiner eigenen schwachen Leistungen.

„Darf ich dich etwas fragen?“

„Nur zu“, meinte Albus beschwingt.

„Woran hast du gedacht, als du diesen Patronus beschworen hast?“

„Na jaaa“, sagte Albus etwas gedehnt, „ach… es war eigentlich gar nichts Besonderes.“

Roy sah seinen Freund rot anlaufen und meinte schnell:

„Wenn du es für dich behalten möchtest, brauchst es mir natürlich nicht zu erzählen, das ist völlig okay.“

Albus sah zu ihm hoch. Es war ihm tatsächlich etwas peinlich, aber schließlich hatte Roy ihm auch schon Geheimnisse anvertraut.

„Ich habe…“ Er stockte, dann gab er sich einen Ruck. „Ich habe an Hermine gedacht.“

Roy blieb abrupt stehen und sah ihn mit großen Augen an.

„An Hermine?“, fragte er ungläubig.

„Natürlich nicht so, wie sie jetzt ist, sondern wie sie wirklich ist. Es war an Weihnachten vor sechs oder sieben Jahren. Rose und ich haben uns an sie gekuschelt, und sie hat uns stundenlang vorgelesen… Ich sage ja, es war überhaupt nichts Besonderes, aber in diesem Moment war ich eben glücklich!“, rief er mit leichtem Trotz, als befürchtete er, Roy werde ihn deswegen maßregeln.

Der aber sah ihn nur mit einem gewissen melancholischen Lächeln an, das Albus so noch nie an ihm wahrgenommen hatte, nickte und murmelte:

„Ich verstehe…“

 

In der nächsten DA-Stunde am Mittwoch schaffte Orpheus den Patronus – einen Fuchs –, am Freitag gelang Julian einer in Gestalt eines Pumas, und der von Ares erwies sich als Stier. Nur Roy und Arabella krebsten seit Montag auf der Stelle. Ihre nach wie vor gestaltlosen Patroni waren nicht mehr ganz so schwächlich wie zu Beginn, aber immer noch nicht so beeindruckend wie die Prachtwolke, die Albus gleich auf Anhieb gezaubert hatte.

Als Harry am Ende der Stunde disappariert war und Albus der Karte des Rumtreibers entnommen hatte, dass sie den Geheimraum ohne Furcht vor Entdeckung verlassen konnten, sagte Arabella:

„Geht schon mal vor, Roy und ich üben weiter.“

„Ach ja?“, fragte Roy verblüfft.

„Ja!“, antwortete sie energisch. „Wir gehen hier nicht ohne Patronus raus!“

„Kann ich euch vielleicht helfen?“, bot Albus an.

Bevor Roy irgendetwas sagen konnte, griff Julian ein:

„Lass mal, Al.“ Um seine Mundwinkel spielte ein gewisses Schmunzeln. „Ich glaube, das kriegen die beiden ganz gut alleine hin.“ Und er schob den verdutzten Albus Richtung Ausgang.

Arabella wartete, bis sie mit Roy allein war, und sah ihn dann halb fragend, halb prüfend an.

„Du weißt, warum wir keinen Patronus schaffen?“

Roy nickte. „Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, bei mir ist es die Sache mit den verdammten Erinnerungen!“ Er ächzte. „Ich kann mir das Hirn zermartern, soviel ich will, ich finde nichts! Natürlich gibt es viele erfreuliche Erinnerungen, aber Glück…“

„Bei mir ist es genauso“, unterbrach ihn Arabella, während sie langsam auf ihn zutrat.

„Glück…“ wiederholte Roy zögernd. „Ich habe ganz einfach keine wirklich rundum glückliche Erinnerung.“

Arabella trat nun so dicht an ihn heran, dass Ihre Gesichter kaum noch eine Handbreit voneinander entfernt waren und er ihren Busen an seiner Brust spüren konnte.

„Dann verschaff dir doch endlich eine, du Idiot…“ flüsterte sie zärtlich, „und mir auch!“

Roy, der kaum zu atmen wagte, zögerte noch einen Moment, dann nahm er ihr behutsam die Brille von der Nase und zog ihren Körper an sich…

 

Noch am selben Abend stellte sich heraus, dass Roys Patronus ein Bär war, der von Arabella eine Wölfin.

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