1 – Slytherin

Unsere Geschichte beginnt dort, wo der Epilog zu „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“, dem siebten und letzten Band des Harry-Potter-Romanzyklus von J. K. Rowling endet.

Soeben haben also Ginny und Harry Potter ihre Söhne Albus und James, Hermine und Ron Weasley ihre Tochter Rose am Gleis Neundreiviertel zur Reise nach Hogwarts verabschiedet, wo für Albus und Rose das erste Schuljahr beginnen soll.

Wir schreiben den 1. September 2017.

Zischend schoss der Dampf in die Zylinder der alten, aber auf Hochglanz polierten scharlachroten Lokomotive und zwang das komplizierte stählerne Gestänge, das seine Kraft an die Räder weitergab, in Bewegung. Ein Waggon nach dem anderen wurde mit einem spürbaren Ruck angezogen. Einen Moment lang glitten die Räder der Lok noch rotierend über die Gleisoberfläche, dann fassten sie Griff. Zunächst kaum merklich, dann immer deutlicher Fahrt aufnehmend, zog die schnaufende Maschine auf dem nur Magiern zugänglichen Gleis Neundreiviertel den Zug aus dem Bahnhof King‘s Cross. Der Hogwarts-Express war unterwegs.

Als die Eltern außer Sichtweite waren, schloss Albus das Abteilfenster, an dem er, Rose und deren vier Freundinnen sich zum Abschiedswinken gedrängt hatten, und verließ dann mit einem unbestimmten Murmeln das Abteil. Einzeln, fand er, konnten Mädchen ganz nett sein, und Rose bestimmt, aber wenn sie im Rudel auftraten, fand er ihr Geschnatter schwer erträglich.

Albus spähte den Gang hinauf, an dessen Ende er nun stand: Ein Junge und ein Mädchen, beide wohl sechzehn Jahre alt, die den Waggon vom anderen Ende her betraten und an ihren silbernen Abzeichen als Vertrauensschüler erkennbar waren, fesselten seine Aufmerksamkeit. Vertrauensschüler waren in Hogwarts hoch angesehen. Zum Vertrauensschüler ernannt zu werden war eine Auszeichnung, die nur den klügsten, reifsten, verantwortungsbewusstesten, eben den vertrauenswürdigsten Schülern zuteil wurde und ihre Familien mit großem Stolz erfüllte. Oma Molly, die allmählich in ein Alter kam, in dem man nicht mehr unbedingt merkt, wenn man zum hundertsten Mal dasselbe erzählt, ließ keine Familienfeier vorübergehen, ohne wenigstens ein halbes Dutzend Mal zu erwähnen, dass vier ihrer Söhne Vertrauensschüler gewesen waren und eine Schwiegertochter und eine Enkelin obendrein. Die Position eines Vertrauensschülers war schon für so manchen der erste Schritt zu einer steilen Karriere nach der Schule geworden, einige waren sogar Zaubereiminister geworden, zuletzt Albus‚ Tante Hermine, Roses Mutter.

Jedes der vier Hogwarts-Häuser hatte zwei davon, normalerweise einen Jungen und ein Mädchen. Die beiden, die Albus gerade im Blick hatte, schienen jedoch unterschiedlichen Häusern anzugehören, jedenfalls nahmen sie kaum Notiz voneinander. Während das Mädchen freudestrahlend in ein Abteil nach dem anderen schaute, offenbar nicht, um nach dem Rechten zu sehen, sondern um das Wiedersehen mit seinen Freunden zu feiern, und beim dritten Abteil in der Tür stehenblieb, um eine ausführliche Unterhaltung zu beginnen, schien der andere seine Aufgabe etwas ernster zu nehmen: ein stämmiger, mittelgroßer, schwarzhaariger Junge mit dunkelbraunen Augen im ernsten, nicht unbedingt schönen, aber klugen und irgendwie fesselnden Gesicht. Er hatte etwas seltsam Unnahbares. Wo immer er auftauchte, ging ein unmerklicher Ruck durch seine Mitschüler, die plötzlich darauf zu achten schienen, sich wie würdige Zöglinge einer tausend Jahre alten Lehranstalt zu benehmen. Sie schienen durchaus keine Angst vor ihm zu haben, eher eine gewisse Art von scheuem Respekt, den sie sich selbst wohl nicht erklären konnten, der sich aber wie von selbst überall einstellte, wo er, gleichsam eingehüllt in eine unsichtbare Wolke aus Autorität, vorüberschritt.

Scheint nicht sehr viele Freunde zu haben, dachte Albus.

„Na, Slytherin?“, spottete eine vertraute Stimme hinter ihm, und Albus fuhr herum. Sein zwei Jahre älterer Bruder James hatte sich hinter ihm aufgebaut, offenbar wieder einmal darauf aus, den Jüngeren aufzuzwicken. Schon seit Monaten ärgerte er ihn mit seinen Sprüchen, der Sprechende Hut, der die neuen Schüler auf die verschiedenen Hogwarts-Häuser verteilte, werde ihn, Albus, bestimmt ins Haus Slytherin schicken. Dabei waren alle Potters und alle Weasleys im Haus Gryffindor gewesen, und es gab überhaupt keinen Grund zu glauben, ausgerechnet er, Albus, werde bei den Slytherins landen, mit denen die Gryffindors seit Jahrhunderten in Fehde lebten. Selbstredend glaubte auch James keine Sekunde daran, und Albus wusste, dass er es nicht glaubte. Trotzdem ärgerte er sich maßlos über James‚ dumme Witze – was diesen freilich nur noch mehr aufstachelte. Albus aber konnte nicht anders: Er ärgerte sich!

„Hör endlich auf damit!“, schnaubte er. „Ich – in Slytherin, ja? Du glaubst, der Sprechende Hut schickt mich zu diesen dummen, aufgeblasenen, arroganten Schnöseln, diesen“, – in seinem Zorn entging ihm, dass James kurz an ihm vorbeigeschaut hatte und ihn warnend ansah –, „diesen Schwarzmagiern, diesen – Todessern?“

„Der Sprechende Hut“, sagte eine ruhige Stimme hinter ihm, und wieder fuhr Albus herum und sah in das Gesicht des Vertrauensschülers, „verteilt die Hogwarts-Schüler seit tausend Jahren auf die Häuser und hat noch nie jemanden irgendwo hingeschickt, wo er nicht hingehörte. Du kannst ihm ruhig vertrauen. Wenn du nach Gryffindor gehörst, weiß der Hut das besser als du selbst.“ Er blickte von Albus zu James, der schluckte. „Dein kleiner Bruder, Potter?“

„J-ja“, antwortete James ungewöhnlich schüchtern, „mein Bruder Albus. Al, darf ich dir vorstellen: Roy MacAllister, Vertrauensschüler von, ähm… Slytherin.“

Albus spürte, wie ihm heiß wurde: „Oh“, stammelte er, „das äh, das war jetzt wohl nicht sehr höflich.“

Der ältere Junge musterte ihn einen Moment, als wartete er auf etwas, dann sagte er: „Du nennst es nicht sehr höflich, aber du entschuldigst dich nicht.“

„Ich, ähm…“ begann er, ohne so recht zu wissen, was er sagen sollte. MacAllister unterbrach ihn, und zum ersten Mal spielte so etwas wie ein Lächeln um seine Mundwinkel:

„Das ist sehr gut, bleib dabei! Für Aufrichtigkeit sollte sich niemand entschuldigen. Im Übrigen war es nicht unhöflich, denn es war nicht für meine Ohren bestimmt. Wenn du es mir ins Gesicht gesagt hättest, ja, das wäre nicht sehr nett gewesen. Aber selbst dann wäre es dein gutes Recht gewesen, es zu sagen.“ Er machte eine Pause. „Schade nur, dass du eine so schlechte Meinung von uns hast, noch bevor du überhaupt in Hogwarts angekommen bist und es selber beurteilen kannst. Wo hast du diese Ansichten eigentlich her?“

Unwillkürlich sah Albus zu James, dem dies offenbar peinlich war. „Das geht nicht gegen dich persönlich, MacAllister“, brachte er hastig, wenn auch etwas mühsam, hervor.

„Nein, natürlich nicht, wie immer“, sagte MacAllister mit geringschätzigem Unterton. „Ich habe aber grundsätzlich etwas gegen Lügen, auch wenn sie sich nicht gegen mich persönlich richten, und du erzählst deinem Bruder offenbar, in Slytherin wimmele es von Todessern.“

„Nun ja“, gab James nun etwas trotziger zurück, „bei euch sind doch wirklich viele aus Todesserfamilien. Viele Eltern und Großeltern von Slytherins haben damals Voldemort unterstützt, oder etwa nicht?“

„Und ihre Kinder und Enkel, die damals noch gar nicht geboren waren, sind deshalb auch Todesser?“ Roys Ton war jetzt schärfer geworden.

„Meine Güte, mach doch nicht so einen Wind. Es ist eben so, nun ja, bei uns in Gryffindor…“ Er suchte nach passenden Worten.

„…reden ALLE so, stimmt’s?“

„Ja, aber doch nicht über dich und deine Familie, ihr habt damit nie etwas zu tun gehabt.“

„Das ist aber nicht mein Verdienst, unsere Verwandtschaft suchen wir uns alle nicht aus. Aber soll ich dir was sagen, Potter? Wenn ich sie mir aussuchen könnte, wäre ich lieber mit drei Dutzend Todessern verwandt als mit Leuten, die“, – er rümpfte die Nase –, „nachplappern, was ALLE sagen! Gute Reise noch!“

Er ließ sie abrupt stehen und ging in Richtung der Tür zum nächsten Waggon, aus dem just in diesem Moment ein großgewachsener Junge trat, der etwa in Roys Alter sein musste, dunkelblond, mir einer langen schmalen Nase, ebenmäßigen Zügen und unglaublich blauen Augen. Er war genau der Typ, von dem Schulmädchen in schlaflosen Nächten träumten, und hätte jede magische Boygroup zieren können.

Roy wurde sofort von seinem Zorn abgelenkt: „Julian!“

„Roy!“

Beide umarmten einander kurz und etwas linkisch, um gleich zu Rippenknuffen und Schulterklopfen überzugehen.

„Ich suche dich schon die ganze Zeit“, strahlte Julian, „dachte schon, du wärst gar nicht im Zug!“

„Du weißt doch, als Vertrauensschüler wird man erstmal zum Babysitten vergattert. Was dachtest du denn, wo ich bin? In einer Zelle in Askaban?“

Beide lachten.

„Na ja, bei diesem Ministerium weiß man ja nie…“, flachste Julian. „Komm mit zu den anderen, wir haben dir einen Sitz im Abteil freigehalten.“

„Ich muss erst noch meinen Rundgang beenden. Begleite mich einfach“, erwiderte Roy, riss die Tür zum nächsten Waggon auf, und beide verschwanden dahinter.

Einen Freund hat er offenbar doch, bestimmt sein allerbester Kumpel, dachte Albus. Was er wohl gegen das Ministerium hat?

„Hast du nicht vorhin auf dem Bahnhof bei der Zaubereiministerin gestanden?“, fragte ihn plötzlich aufgekratzt ein blondgelockter Junge, offenbar ebenfalls Erstklässler.

„Ja“, sagte Albus, „sie ist meine Tante.“

„Mein Vater kennt sie auch sehr gut. Er ist nämlich der Premierminister. Der Muggel-Premierminister, wie ihr hier sagt. Und er ist ein guter Freund deiner Tante. Ach übrigens, ich heiße Bernard, aber du kannst Bernie sagen, Bernie Wildfellow.“

Albus Potter. Aber – ein Freund meiner Tante?“

„Ja, sie reden sehr oft miteinander.“

„Wirklich?“, staunte Albus. Soweit er wusste, nahm das Zaubereiministerium zur Muggel-Regierung nur in den allerdringendsten Notfällen Kontakt auf. Jedenfalls sagte sein Vater das, und der musste es wissen.

„Na klar. Ich brauchte ja eine Sondergenehmigung, um nach Hogwarts zu kommen, und die habe ich von deiner Tante. Ohne ihre Ministeriumszauberer wäre ich gar nicht durch die Absperrung auf Gleis Neundreiviertel gekommen. Ich sollte eigentlich nach Eton. Ich bin fast umgefallen, als mein Vater mir vorgestern sagte, dass ich auf eine Schule gehen werde, auf der man zaubern lernt. Zaubern!!! Ist das coooooooool!!! Wenn ich das meinen Freunden erzähle und ihnen was vorzaubere…“

„Denen wirst du überhaupt nichts erzählen und schon gar nichts vorzaubern!“, mischte sich nun ein bebrillter Junge mit weit abstehenden Ohren ein.

„Wieso nicht?“ Bernie wirkte verdutzt und enttäuscht.

„Weil die Muggelwelt unbedingt darüber im Unklaren gelassen werden muss, dass es so etwas wie Zauberei überhaupt gibt. Es könnte sonst bei den Muggeln zu einer Panik kommen oder gar zu einem Krieg zwischen Muggeln und Zauberern.“

Er setzte eine staatsmännische Miene auf wie Onkel Percy, wenn er zu einem seiner Vorträge ansetzte, und dozierte:

„Magische Fähigkeiten bedeuten eine große Verantwortung. Alles, was der Magier tut, muss er im Lichte dieser Verantwortung…“ Albus prustete los und viele andere – die Erstklässlertraube war inzwischen bedeutend gewachsen – mussten ebenfalls lachen.

„Wenn das deine Bewerbungsrede als Vertrauensschüler werden soll, bist du fünf Jahre zu früh dran“, spottete Albus. „Sag uns lieber, wie du heißt.“

„Horatio“, antwortete der Junge. „Horatio Horn.“

„Hor-Hor“, rief einer dazwischen, und wieder lachten alle. Und nun redeten alle miteinander, durcheinander und aneinander vorbei. Es war egal, jeder hatte irgendeinen, dem er seine Aufregung entgegensprudeln konnte. Die nagelneuen Zauberstäbe wurden herumgereicht und mit Kennermiene begutachtet, man zeigte einander die mitgebrachten Haustiere: Albus zum Beispiel hatte seine Eule Athena dabei, Horatio eine dreifarbige Katze, eine sogenannte Glückskatze, Bernie eine getigerte Katze namens „Pizza“.

„Pizza?“, fragte Albus verdutzt.

„Nun ja“, lachte Bernie, „als meine Mama mich fragte, wie sie heißen sollte, hatte ich mich verhört. Ich dachte, sie fragt mich, was ich mir zum Mittagessen wünsche.“

Bernie schien ein feiner Kerl zu sein, aber von der magischen Welt hatte er keine Ahnung. Er fragte allen Ernstes, ob in Hogwarts ein schnelles WLAN installiert sei, und verstand offenbar wirklich nicht, warum einige seiner neuen Freunde schallend lachten. (Nicht alle, denn die meisten wussten überhaupt nicht, was WLAN ist.) Jennifer, ein sommersprossiges Mädchen mit langem rotem Haar, das Albus an Rose erinnerte, klärte ihn auf:

„In Hogwarts gibt es nicht einmal Elektrizität, geschweige denn WLAN, Internet oder so etwas.“

„Ehrlich?“ Bernie konnte es kaum glauben.

„Ehrlich. Hast du ein Smartphone?“

„Klar“, rief Bernie und zog stolz sein nagelneues Gerät hervor.

„Das kannst du bis Weihnachten wegstecken“, sagte Jennifer grinsend. „Das nächste Muggeldorf, in dem du Empfang hättest, ist zu Fuß zwei Stunden entfernt. Aber du darfst Hogwarts ohnehin nicht verlassen.“

„Keine Elektrizität, kein Telefon, kein Fernsehen… Wie könnt ihr so leben?“

„Das, was wir machen, ist aufregender als alles, was du je im Fernsehen siehst, verlass dich drauf“, sagte Albus. „Und überhaupt: Wir können zaubern, was brauchen wir Elektrizität?“

„Ja, aber ich sollte doch meinen Eltern Bescheid sagen, wenn ich angekommen bin. Wie mache ich das denn ohne Telefon?“

„Schick ihnen eine Eule“, meinte Jennifer gleichmütig, und Bernard war sich erkennbar unsicher, ob sie ihn wohl auf den Arm nehmen wollte.

„Eine Eule?“

„Na klar“, meinte Albus, „was glaubst du denn, warum ich eine habe? Man kann auch die Schuleulen benutzen, aber die sind nicht so schnell.“

Bernie starrte ihn ungläubig an. Plötzlich prustete er los. „Ich stelle mir gerade vor, was morgen in der Zeitung steht, wenn bei meinem Vater in der Downing Street eine Eule ins Büro geflogen kommt.“

Einige, nämlich diejenigen, die wussten, was die Downing Street war, stimmten in sein Gelächter ein.

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen verflogen die Stunden nur so, und Albus lernte so viele neue Gesichter und Namen kennen, führte so viele chaotische Unterhaltungen, riss so viele Witze, dass er langsam müde davon wurde. Kein Wunder, in der Nacht hatte er vor Aufregung kein Auge zugetan, und ihm schwirrte der Kopf.

Vielleicht wäre es ja eine gute Idee, ins Abteil zurückzukehren und sich einen Moment hinzusetzen.

Er blickte noch einmal den Gang hinauf und sah einige Schritte entfernt einen dünnen blonden Jungen mit spitzem Kinn, unverkennbar einen Malfoy, dessen Namen Scorpius er schon irgendwo aufgeschnappt hatte, und der in einer zweiten Erstklässlertraube das große Wort führte. Bestimmt stellte er gerade seinen künftigen Hofstaat zusammen.

Gott sei Dank werde ich mit dem nicht viel zu tun haben, dachte Albus befriedigt, der kommt nach Slytherin, wohin sonst? Mit diesem tröstlichen Gedanken betrat er das Abteil, das die Mädchen inzwischen geräumt hatten, um sich ihrerseits im Zug umzusehen, ließ sich auf seinen Sitz fallen – und schlief sofort ein.

Er stand in der Großen Halle von Hogwarts inmitten zahlloser Schüler, die darauf warteten, dass der Sprechende Hut sie auf die Häuser verteilte. Vorne stand James, das Gesicht den wartenden Erstklässlern zugewandt. Was hatte er dort zu suchen? Aber niemand schien sich zu wundern. Plötzlich zog James einen alten Hut hervor, stülpte ihn sich über, und krähte gemeinsam mit dem Hut in den Saal: „Albus muss nach Slytherin, Albus muss nach Slytherin!“

Was von der Menge mit begeistertem Gejohle quittiert wurde. Albus wurde am Umhang gepackt und zum Slytherin-Tisch geschleift, an dem bereits Scorpius Malfoy Platz genommen hatte.

„Wenn du ein richtiger Todesser sein willst…“ näselte Malfoy – „Ich will aber kein Todesser sein!“, rief Albus dazwischen, ohne dass Malfoy davon Notiz genommen hätte – „musst du mit dem Tod essen!“

„Mit dem Tod?“, fragte Albus schaudernd.

„Mit mir“, sagte ein gutaussehender, etwas älterer schwarzhaariger Junge neben ihm. „Reichst du mir bitte die Sauciere mit dem Muggelblut?“

„Wer bist du?“

„Früher war ich Tom Riddle, heute Lord Voldemort.“

Plötzlich standen Teller mit rohem Fleisch auf dem Tisch.

„Iss!“, sagte Julian, der ihm nun anstelle Malfoys gegenübersaß. „Wer nicht isst, kommt nach Askaban, bei diesem Ministerium…“

„Das Ministerium hat alles unter Kontrolle.“ Das war jetzt nicht mehr Riddle, es war Tante Hermine, die in einem roten Business-Kostüm neben ihm saß. „Darauf können Sie Gift nehmen. Prost!“

Hermine, was machst du denn am Slytherin-Tisch?“

„Ich verspeise Schlammblüter“, sagte Riddle, der in Hermines rotem Kostüm irgendwie komisch aussah. „Einfach köstlich“, fügte er im Tonfall eines sehr vornehmen Feinschmeckers hinzu. „Wie heißt du eigentlich?“

Und Roy MacAllister, der am Slytherin-Tisch entlangschritt, als ob ihn nichts von alldem wunderte, raunte ihm zu: „Sei aufrichtig, man sollte sich nicht entschuldigen!“

„Äh, Potter, Albus Potter.“

Da fixierte Riddle ihn mit geschlitzten roten Schlangenaugen und krächzte heiser: „Ein Potter? Mit euch habe ich noch eine Rechnung offen!“

Albus rief zurück: „Du kannst mir gar nichts tun, du bist tot!“

„Meinst du?“, fragte Riddle. „Meinst du?“, wiederholte er. „Dummer Junge!“ Plötzlich stolzierten neun Glückskatzen im Gänsemarsch am Rand der Tischplatte entlang.

„Siehst du?“, krähte Voldemort triumphierend. „Nicht sieben, neun! Neun Leben hat die Katze! Aber du hast nur eins, und das endet jetzt!“ Er zog den Zauberstab und richtete ihn auf Albus, der weglaufen wollte, aber nicht konnte, schreien wollte, aber nicht konnte.

„Avada…“ begann Voldemort den Todesfluch. Er weidete sich an Albus‚ Panik, grinste ihn grausam an und setzte, wohl um seine Macht auszukosten, noch einmal an:

„Avada…“

„Aufwachen! – Aufwachen! – Aufwachen, Schlafmütze!“

Albus schreckte hoch. Draußen war es dunkel, und der Zug stand auf einem Bahnhof. Albus brauchte einen Moment, um sich aus seinem Alptraum in die Wirklichkeit zurückzutasten. Leises Gepolter auf dem Gang verriet ihm, dass die letzten Schüler gerade den Zug verließen. Als er hochsah, sah er ein Mädchen, das sechzehn Jahre alt sein mochte und ein Vertrauensschülerabzeichen trug. Sie war wunderschön, hatte blonde Locken, volle Lippen, strahlende weiße Zähne. Sie erinnerte ihn an seine Cousine Victoire. Ob sie auch Veela-Blut hatte?

„Wo sind wir?“, fragte er.

„In Hogsmeade“, antwortete das Mädchen, „aber wenn du noch lange sitzen bleibst, fährst du nach London zurück. Lass dein Gepäck hier, man wird es für euch alle nach Hogwarts bringen. Geh einfach hinaus zu den anderen Erstklässlern.“

Sie begleitete ihn zur Waggontür und schickte sich schon an, ihren Kontrollgang durch den Zug fortzusetzen, drehte sich dann aber noch einmal um, sah ihn an, neigte den Kopf neugierig ein wenig zu Seite und fragte: „Potter?“

Er wunderte sich nicht. Jeder in der magischen Welt kannte seinen Vater Harry Potter, und Albus sah ihm ziemlich ähnlich. Sogar die grünen Augen hatte er geerbt. Er nickte: „Albus Potter.“

„Ich heiße Patricia Higrave. Schön, dich kennenzulernen, auch wenn wir in Hogwarts wohl nur selten miteinander zu tun haben werden.“

„Wieso?“, fragte Albus und wollte sich am liebsten dafür auf die Zunge beißen, denn ihm schwante die Antwort, die auch prompt kam:

„Bei deiner Herkunft kommst du wahrscheinlich nach Gryffindor, aber ich bin eine Slytherin.“

Nicht schon wieder!

Hatte James ihm einen Fluch auf den Hals gehext? Seit er heute Morgen im Auto wieder mit diesem Slytherin-Quatsch angefangen hatte, verfolgte Slytherin ihn, und das sogar bis in seinen – inzwischen langsam verblassenden – Alptraum hinein. Zeit, endlich nach Hause zu kommen. Nach Gryffindor!

Er fröstelte, als er auf den Bahnsteig trat, denn es war empfindlich kalt für die Jahreszeit. Im schwachen Licht der Laternen, das mühsam gegen die Dampfschwaden aus der Lokomotive ankämpfte, sah er, dass die übrigen Erstklässler sich schon versammelt hatten und von einem Vertrauensschüler durchgezählt wurden. Nachdem Albus hinzugetreten und mitgezählt worden war, gab der Vertrauensschüler mit erhobenem Daumen das Zeichen, dass alle vollzählig waren, und der riesengroße Mann mit strubbeligem eisgrauem Bart und einer ebensolchen Mähne, dem das Zeichen galt, bedeutete den Schülern, ihm zu folgen.

Das musste Hagrid sein – wer sonst war schon über drei Meter groß? Albus fragte sich, ob er ihm gleich Guten Tag sagen und sich vorstellen sollte. Hagrid war mit seinen Eltern befreundet, aber zufällig war Albus ihm noch nie persönlich begegnet. Hagrid jedoch schien großen Wert darauf zu legen, den Erstklässlern gegenüber Würde und Autorität auszustrahlen, vielleicht wäre es ihm nicht recht, in ein privates Gespräch verwickelt zu werden.

Das muntere Geplapper war verstummt und einer andächtigen, ehrfürchtigen Stille gewichen. Kurz bevor sie die Bootsanlegestelle erreichten, sahen Sie, zum ersten Mal in ihrem Leben, aus der Ferne das magisch beleuchtete Schloss, das sich vom Gipfel eines Hügels aus majestätisch in den dunkelblauen Nachthimmel reckte:

Hogwarts!

Hogwarts war mehr als ein Schloss, mehr als eine Schule, es war die Seele der britischen Zaubererwelt. Praktisch jeder Zauberer, jede Hexe hatte diese Schule durchlaufen, hier schloss man Freundschaften, die ein Leben lang hielten, entfesselte Fehden, die sich über Generationen fortpflanzten, hier fand man mit ein bisschen Glück die Frau oder den Mann fürs Leben, und das Haus, in das der Sprechende Hut einen schickte, war eine zweite Familie. Man war nicht nur ein Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw oder Slytherin, man blieb es auch bis an sein Lebensende und konnte auch als Erwachsener stets auf die Hilfe älterer Ehemaliger rechnen, selbst wenn deren Schulzeit viel länger zurücklag als die eigene und man ihnen daher nie begegnet war. Die Kehrseite war freilich, dass auch die Rivalität zwischen den Häusern und ihren ehemaligen Schülern nie endete. Albus hatte von seinem Vater gehört, dass es im Ministerium ganze Abteilungen gab, die ausschließlich aus ehemaligen Angehörigen eines einzigen Hauses bestanden, und keine einzige, in der Gryffindors mit Slytherins zusammenarbeiteten.

Und doch verband sie alle ein starkes Band, das sogar die Feindschaft zwischen Gryffindors und Slytherins überspannte: Sie alle waren Zauberer, sie alle hatten die gleiche Erziehung genossen, sie alle waren Hogwarts-Schüler durch und durch. Die Welt der britischen Zauberer war klein: Mit Allen zusammen hätte man bei den Muggeln bestenfalls eine Kleinstadt bevölkern können. Es war manchmal lästig, in dieser kleinen Welt zu leben, in der Jeder Jeden kannte, und in der man sein Leben lang mit immer wieder denselben Leuten zu tun bekam, womöglich auch solchen, die man schon von der Schule her nicht leiden konnte. Und doch liebte man diese Welt, lebte man sie, atmete man sie. Diese Welt war klein, aber sie war – Heimat.

Da Albus wie in Trance in das ihm und drei weiteren Schülern zugewiesene Boot stieg, ohne den Blick auch nur einen Moment von dem herrlichen Schloss zu wenden, entging ihm Hagrids gerührtes, verständnisvolles Lächeln, und als die Boote über den See glitten, sprach keiner der Schüler ein lautes Wort.

„Jetzt sind wir wirklich Zauberer“, flüsterte Rose ihm zu, und erst jetzt bemerkte er, dass sie die ganze Zeit neben ihm im Boot gesessen hatte.

„Ja“, hauchte er zurück, weiterhin in den Anblick des stolzen Schlosses versunken, wie Alle hier, die, in Gestalt dieses Schlosses, ihrem Schicksal entgegenglitten.

Als die Boote in den unterirdischen Hafen eingelaufen und die Schüler von Bord gegangen waren, wandte Hagrid sich an Albus: „Na, wieder ansprechbar?“

„Ja, natürlich, entschuldige, Hagrid. Schön, dich endlich persönlich kennenzulernen.“ Albus reichte ihm die Hand, die in Hagrids riesiger Pranke völlig verschwand. Gut, dass er nicht wirklich zudrückte.

„Na sicher“, murmelte der Halbriese beruhigend, „ist ja auch ein aufregender Tag heute, einer, den man nie vergisst.“

Hagrid winkte den Schülern, ihm zu folgen. Sie stiegen einen langen Gang hinauf, der zur Wiese vor dem Schloss führte, und gingen mit Hagrid zu dem großen Eichentor der Schule. Hagrids Klopfen dröhnte dreimal, das Tor öffnete sich wie von selbst, die Schüler traten ein. Alles lief genauso ab, wie seine Eltern es ihm geschildert hatten. Albus merkte, dass er an einem jahrhundertealten Ritual teilnahm.

In der Mitte der riesigen Eingangshalle stand eine alte Hexe mit strengem Gesichtsausdruck und nicht minder streng geknotetem grauem Haar: Professor Minerva McGonagall, die Schulleiterin. Albus erinnerte sich an die tiefe Verehrung, mit der seine Eltern stets von ihr gesprochen hatten, obwohl sein Vater in seiner Hogwarts-Zeit mehr als einmal von ihr zusammengestaucht worden war. Nur eben niemals unverdient.

McGonagall lotste die Neuankömmlinge in einen Nebenraum und bereitete sie auf die Aufnahmezeremonie vor. Nichts von allem, was sie sagte, war Albus wirklich neu, aber die Schüler aus Muggelfamilien, die es zum ersten Mal hörten, Wildfellow etwa, hingen gebannt an ihren Lippen, als sie ihnen die bevorstehende Aufnahmezeremonie schilderte und sie darüber aufklärte, wer die vier Häuser waren und was es mit ihnen auf sich hatte.

„Jeder Schüler“, erläuterte sie dann, „kann durch vorbildliche Leistungen schulischer, moralischer oder sportlicher Natur Punkte für sein Haus erwerben. Fehlverhalten dagegen, insbesondere der Verstoß gegen Schulregeln, wird mit Punktabzug geahndet. Das Haus, das am Ende des Schuljahrs die meisten Punkte gesammelt hat, gewinnt den Hauspokal. Sie werden schnell merken“, fügte sie hinzu, und ein maliziöses Lächeln umspielte ihren Mundwinkel, „dass man sich im eigenen Haus äußerst unbeliebt macht, wenn man durch Dummheiten dessen Punktestand belastet. – In der Großen Halle dürfte jetzt alles zu Ihrer Aufnahme bereitstehen. Folgen Sie mir bitte.“

McGonagall führte sie zurück durch die Eingangshalle, deren Größe und Pracht Albus erst jetzt wahrnahm, in die Große Halle, die von tausenden und abertausenden schwebenden Kerzen erleuchtet war. Von der Decke, die durch Zauberhand stets wie der Himmel draußen aussah, nun also das Aussehen des Nachthimmels hatte, funkelten zahllose Sterne.

Die älteren Schüler saßen an den vier langen Festtafeln der Hogwarts-Häuser. Quer zu ihnen stand am anderen Ende des Saals die Tafel der Lehrer.

Während die Erstklässler nach vorn gingen, ruhten die vielen hundert forschenden Augenpaare ihrer künftigen Mitschüler auf ihnen. Albus, der neben Rose ging, suchte nach James, aber da er seine Eltern nie gefragt hatte, welcher der vier Tische der von Gryffindor war, und er außerdem viel zu aufgeregt war, irrten seine Augen eher ziellos durch die Reihen. Bevor er James oder sonst ein bekanntes Gesicht ausfindig machen konnte, waren sie schon vor dem Lehrertisch angekommen, wo sie sich mit dem Gesicht zu den Häusertischen aufstellten. Der Höhepunkt des tausendjährigen Aufnahmerituals stand bevor: Ein Stuhl wurde so aufgestellt, dass alle Anwesenden ihn gut sehen konnten, und McGonagall legte, wie es seit Menschengedenken Brauch war, den alten, zerschlissenen Zaubererspitzhut darauf.

Bevor aber die neuen Schüler auf die Häuser verteilt wurden, verlangte die Tradition, dass der Sprechende Hut sein Lied zum Besten gab. Meist war es ein launiges Begrüßungsgedicht, manchmal allerdings betätigte der Hut sich auch als Orakel, warnte und mahnte. Albus erinnerte sich, was sein Vater gesagt hatte: Der Sprechende Hut weiß über Alles Bescheid, was auch der Schulleiter weiß. Hör ihm gut zu! Wenn der Sprechende Hut Warnungen ausspricht, ist das ein schlechtes Omen.

Der zerschlissene Hut verbeugte sich unter dem Beifall der Schüler und Lehrer. Die Falte, die bei ihm den Mund ersetzte, öffnete sich. Einen Augenblick lang genoss er das erwartungsvolle Schweigen der Anwesenden, dann begann er zu sprechen:

„Alte Hüte stehen heut
in keinem guten Rufe,
doch fröne ich seit alter Zeit
dem edelen Berufe,

jeden Zaubrer, jede Hex‘
ins richt’ge Haus zu bringen,
damit vom Startpunkt ihres Wegs
ihr Leben mag gelingen.

Die unerschrocken mir erscheinen,
wert, Godrics Schwert zu führen,
werd ich in Gryffindor vereinen
und sie dort platzieren.

Rowena wollte kluges Hirn,
das niemals gönnt sich Pause,
drum sind die mit der Denkerstirn
in Ravenclaw zu Hause.

Helga sprach: Mein lieber Hut,
verschon mich mit Extremen!
Die normal und treu und gut,
wird Hufflepuff gern nehmen.

Salazar sprach: Slytherin
braucht nicht die Gerechten,
sondern die Besten mit dem Sinn,
für unsre Welt zu fechten!

Ich dien‘ dem Willen unsrer Gründer
der legendären Alten,
in ihrem Sinn und dem der Kinder
ihr Erbe zu verwalten.

Für alle, die sich wunderten,
warum ich so zerschlissen:
Es hat in den Jahrhunderten
das Herz mir oft zerrissen.“

Er stockte. Die Falte zitterte. Niemand wagte ein Wort zu sagen. Schließlich fand der Hut seine Fassung wieder und fuhr fort:

Slytherin und Gryffindor
entzweiten sich im Streite
und warfen sich das Schlimmste vor,
die Wunde schwärt bis heute.

Drei Gründer standen gegen einen,
der sich darauf getrennt.
Sie alle vier neu zu vereinen,
war mir nicht vergönnt.

Seit jener schlimmen, dunklen Stunde
such ich den Riss zu kitten,
zu heilen jene Eiterwunde,
an der wir so gelitten.

Mal ist sie einer Linie gleich,
mal einem tiefen Graben,
an dem die Besten unter euch
zu tausenden verstarben.

Hab viel gesehen und mir ist bang,
ihr wisst, ich bin schon alt.
Verschließt euch dem Sirenenklang,
wo immer er erschallt.

Ich sehe wohl, ihr wähnt den Feind
erneut in diesen Mauern.
Ihr Narren! Wenn ihr euch nicht eint,
werd auch um euch ich trauern.

So oft habt ihr, wenn ich euch warn,
mir doch das Herz gebrochen.
Auch heute macht‘ ich mich zum Narrn,
der in den Wind gesprochen.“

Als er geendet hatte, lag Stille über der Großen Halle. Es dauerte mehrere Sekunden, bis McGonagall aufstand und Beifall klatschte, in den die anderen Lehrer und die Schüler einfielen. Alle erhoben sich von ihren Plätzen und spendeten dem Hut, der sich wieder verbeugte, ohne dass der traurige Zug seiner Mundfalte sich aufgeheitert hätte, minutenlangen Applaus.

Man konnte glauben, er habe einen tiefen Eindruck erzielt, und doch – Albus hatte von seinem Platz aus einen guten Überblick: Während MacAllister nachdenklich zu seinem Gryffindor-Kollegen hinübersah und dieser diesen Blick erwiderte, musterten andere Gryffindors und Slytherins einander argwöhnisch bis feindselig. Noch während sie dem Sprechenden Hut gemeinsam applaudierten, hatten sie schon wieder vergessen, was er gesagt hatte.

Auch Albus wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Die alles entscheidende Auswahl, die nun auf dem Programm stand, verdrängte das böse Omen aus seinem Geist.

McGonagall entrollte ein Pergament mit der alphabetisch geordneten Liste der neuen Schüler und rief den ersten Namen auf: „Anderson, William.“ Der Angesprochene, ein schlanker blonder Junge mit schmalem, leicht sommersprossigem Gesicht, ging mit einer Miene, als sei es sein letzter Gang, zum Stuhl, nahm Platz und setzte sich den Hut auf. Einen Moment herrschte Stille, dann rief der Hut:

Gryffindor!“

Am Tisch der Gryffindors brandete Beifall auf, und Anderson wurde von den Gryffindor-Vertrauensschülern Victoire und Ethelbert mit freundlichem Lächeln und Handschlag in seiner neuen Hogwarts-Familie willkommen geheißen, bevor er sich zu den anderen Gryffindors an den Tisch setzte. Diejenigen, die in Reichweite saßen, klopften ihm auf die Schultern, dann kehrte wieder Stille ein.

„Avery, Malcolm.“

Slytherin!“

So ging es weiter. Inzwischen wusste Albus, wo er nach seinem Bruder suchen musste, und fand ihn auch. Natürlich hatte James, als ihre Blicke sich trafen, nichts Besseres zu tun, als die Zähne zu fletschen und die Zungenspitze zwischen ihnen hindurchzuschieben, als wolle er wie eine Schlange zischen. Die Schlange war das Wappentier von Slytherin.

Albus wandte den Blick genervt von ihm ab und suchte den seiner Cousine Victoire, die ihm und Rose aufmunternd zulächelte. Er versuchte zurückzulächeln, aber die Aufregung machte es ihm schwer.

Während ein Schüler nach dem anderen aufgerufen wurde, spürte er sich am ganzen Körper zittern. Am liebsten hätte er Roses Hand ergriffen, nur um sich an irgendetwas festzuhalten, aber das kam gar nicht in Frage, wie hätte das denn ausgesehen?

So blieb er bleich und schicksalsergeben stehen und ließ den Blick durch den Saal schweifen, während die Erstklässler nacheinander auf die Häuser verteilt wurden. Plötzlich zuckte er zusammen:

„Potter, Albus.“

Es war soweit.

Während er sein Herz pochen fühlen konnte, hielt die Spannung im Saal sich in Grenzen. Einige Slytherins lümmelten sich demonstrativ gelangweilt auf ihre Stühle, Roy MacAllister und Patricia Higrave, die soeben „Ogilvy, Lancelot“ für Slytherin in Empfang genommen hatten, nahmen Platz, während Victoire und Ethelbert bei den Gryffindors sich vorausschauend erhoben. Die Gryffindors strahlten Albus erwartungsvoll an, sogar James sah man jetzt die Vorfreude an. Albus warf einen kurzen Blick auf MacAllister. Wenn du nach Gryffindor gehörst, weiß der Hut das besser als du selbst, hatte er gesagt, und an diesem Gedanken hielt Albus sich fest, während er auf McGonagall zutrat, die ihn unmerklich, nur mit den Augen, anlächelte, als wolle sie sagen: Nur Mut, gleich hast du es überstanden!

Mit klopfendem Herzen und zitternden Fingern griff Albus nach dem Hut, der viel zu groß für einen Kinderkopf war und ihm, wie allen anderen auch, über das Gesicht rutschte. Im Dunkeln sitzend, hörte er den Hut murmeln:

„Ein klarer Fall, ein selten klarer Fall…“

Er atmete auf. Ein klarer Fall, das konnte ja nur heißen…

Slytherin!“, rief der Hut.

Albus erstarrte.

Als er den Hut abnahm, herrschte im Saal Totenstille, und für Albus begannen die längsten zehn Sekunden seines Lebens. Er blickte zu McGonagall auf, die verdutzt die Augenbrauen hochzog, wandte den Blick zu Rose, die ihn wie versteinert anstierte, zu Victoire, die nach ihrem Stuhl tastete, als fürchte sie, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen, zu den anderen Gryffindors, denen das bleiche Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. Sein Blick wanderte über die verwunderten Mienen der Hufflepuffs und Ravenclaws zu seiner künftigen Hogwarts-Familie – den Slytherins.

Kreidebleich erhob er sich vom Stuhl, warf noch einen Blick auf den verfluchten Hut und schlich in Richtung des Slytherin-Tischs.

Er hatte sich oft nach James‚ Witzeleien abends vor dem Einschlafen vorgestellt, wie es wäre, nach Slytherin zu kommen. Sie würden ihn dort behandeln wie eine Kakerlake auf dem Suppenteller, ihn schneiden, ihn piesacken. Er würde der einsamste Mensch in Hogwarts sein, abgeschnitten von Gryffindor, dem Haus seiner Familie, aber ein Fremdkörper bei den Slytherins, für die er immer der Gryffindor bleiben würde, und er hatte sich schon im Voraus leidgetan – es tat so gut, sich manchmal ein wenig zu bemitleiden. Womöglich würden sie versuchen, ihn von ihren unmöglichen Ansichten über Muggel und Muggelstämmige zu überzeugen. Er würde ein Außenseiter sein, weil ihm nie, da war er sich sicher, das Wort „Schlammblut“ über die Lippen kommen würde. Sie würden ihn hassen und ihn immer und überall ihre Feindseligkeit spüren lassen.

Was jedoch in den Gesichtern der Slytherins stand, war keine Feindseligkeit und schon gar kein Hass, nur maßlose Verblüffung. Sie konnten nicht glauben, was sie eben gehört hatten.

Als Albus jedoch den halben Weg zum Slytherin-Tisch zurückgelegt hatte, löste sich Ihre Erstarrung, und plötzlich erbebte der Saal unter einem Jauchzer, der wie auf Kommando aus allen Slytherin-Kehlen gleichzeitig drang. Alle sprangen auf, klatschten und jubelten, und sogar ein kleiner Sprechchor „Wir haben Potter, wir haben Potter!“, war zu hören.

Roy MacAllister und Patricia Higrave waren mit den anderen aufgesprungen. Roy grinste ihm breit entgegen, schüttelte seine Hand, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte: „Keine Angst, du wirst sehen: Wir sind die nettesten Todesser aller Zeiten!“

Er lachte von Herzen und reichte Albus mit einem Klaps auf dessen Schulter an Patricia weiter, die ihn umarmte, fest an sich drückte, und ihm – was sie bei niemandem sonst getan hatte – sogar einen Kuss auf die Stirn drückte. Albus spürte sein Herz rasen, als sie ihn wieder losließ, und war ein wenig benommen. Aber schon stand er in einer Traube von Slytherins, die ihm die Hand reichten und seine Schulter klopften, dass es schon wehtat. Malfoy strahlte ihn an, schrie in den tosenden Lärm „Mein Vater hat immer gesagt, dass die Potters eigentlich nach Slytherin gehören. Jetzt hat es sich endlich erfüllt!“, und lud ihn ein, sich neben ihn zu setzen.

Der Stuhl, den Malfoy ihm anbot, stand mit dem Rücken zu den Gryffindors, und bevor er sich setzte, erhaschte Albus einen Blick auf deren Gesichter. Ihre Mienen hatten sich deutlich verfinstert, als sie ohnmächtig den Triumph der verhassten Slytherins erdulden mussten, und sie funkelten Albus an, als hätte er selbst, und nicht der Sprechende Hut, die Entscheidung getroffen. Er wandte sich von ihnen ab und setzte sich.

Warum sind die Slytherins nur alle so begeistert?, fragte er sich. Gewiss, es tat gut. Es tat gut, mit offenen Armen aufgenommen zu werden, vor allem jetzt, da er die bohrenden Blicke der Gryffindors im Nacken spürte. Er war jetzt ein Slytherin – das Bewusstsein überfiel ihn wie ein Schlag: Er war ein Slytherin. Die Ungewissheit war vorbei, die Entscheidung gefallen, er atmete jetzt freier, und angesichts der strahlenden Mienen rings um ihn herum gelang es ihm sogar, sich ganz zaghaft darüber zu freuen: Er war ein Slytherin. Der Überschwang, mit dem sie ihn begrüßt hatten, war ihm immer noch nicht ganz geheuer, aber er wollte nicht mehr darüber nachdenken, wollte sich den Augenblick nicht verderben lassen.

„Ruhe, bitte!“

McGonagall hatte ihre Stimme magisch verstärkt, um des Tumults am Slytherin-Tisch Herr zu werden. „Meine Damen und Herren, bei allem Verständnis für Ihre Freude muss ich Sie doch bitten, wieder Platz zu nehmen. Wir sind noch nicht fertig!“

Den letzten Satz hatte sie besonders energisch betont, und wie immer, wenn McGonagall energisch wurde – Albus wusste es von seinen Eltern – kehrte schlagartig Ruhe ein.

Die Zeremonie wurde wieder aufgenommen, die verbleibenden zehn Schüler waren noch auf die Häuser zu verteilen. „Weasley, Rose“ war die vorletzte. Albus bettelte im Stillen um einen Blick von ihr, aber vergebens. Rose schien fest entschlossen, lieber überall sonst hinzublicken als zum Slytherin-Tisch. Wer weiß, hoffte Albus, vielleicht…

Als Rose sich den Hut überstülpte, murmelte Albus tonlos vor sich: „Slytherin, bitte sag Slytherin. Slytherin, Slytherin, Slytherin…“

Gryffindor!“, rief der Hut, und während am Gryffindor-Tisch der Jubel aufbrandete, sackte Albus ein wenig in sich zusammen. Nun fühlte er sich doch etwas einsam.

Wer aber geglaubt hatte, für diesen Abend habe der Sprechende Hut für hinreichend Überraschung gesorgt, wurde eines Besseren belehrt, als der letzte Schüler aufgerufen wurde. Es war Wildfellow.

Als der Hut auf seinen Schultern saß, wartete der Saal auf das Urteil, und es geschah – nichts. Zehn Sekunden vergingen, dreißig, eine Minute, zwei Minuten… Allmählich kam Gemurmel auf: „Kommt schon mal vor“ – „Ja, aber so lange?“

Nach insgesamt fünf Minuten, als der Geräuschpegel schon dem eines gut besuchten Pubs am Freitagabend entsprach, rief der Hut sein Urteil in den Saal:

„Muggelwelt!“

Wieder Totenstille. Dann redeten alle durcheinander: „Das hat es ja noch nie gegeben.“ – „Ist der Hut besoffen?“ – „Seit wann werden Muggelstämmige abgelehnt?“ – „Unfassbar.“

Albus fiel wieder ein, was Wildfellow ihm erzählt hatte: dass er ohne die Ministeriumszauberer nicht durch die Absperrung zum Gleis Neundreiviertel gekommen wäre. Nun war ihm klar, was dies bedeutete: dass Bernie kein Zauberer war. Das konnten die anderen aber nicht wissen.

McGonagall hatte Bernie geistesgegenwärtig bei der Hand genommen und in eine nicht einsehbare Nische des Saales geführt. Die anderen sollten ihn nicht weinen sehen. Nach einigen Minuten trat sie mit ihm, der seinen Tränen einen tapferen und siegreichen Kampf geliefert hatte, nach vorn, verstärkte erneut ihre Stimme und sprach:

„Meine Damen und Herren, ich bedaure den Zwischenfall, den es in dieser Form noch nie gegeben hat und dessen Gründe mir unklar sind. Kraft meiner Stellung als Schulleiterin weise ich Bernard Wildfellow dem Haus – Hufflepuff zu.“

Die Hufflepuffs spendeten höflichen, wenn auch nicht gerade überschwänglichen Applaus, Bernie wurde von den Vertrauensschülern seines neuen Hauses in Empfang genommen und setzte sich an den letzten noch freien Platz am Tisch der Hufflepuffs. Wahrscheinlich wünschte er sich in diesem Moment, er wäre doch nach Eton gekommen.

Professor McGonagall trat nun ans Rednerpult: „Willkommen in Hogwarts, und für die alten Hasen: Willkommen zurück!“ Schüler und Lehrer spendeten freundlichen Applaus. „Ich möchte mich in meiner Begrüßungsrede kurz fassen: Guten Appetit!“

Während erneut Applaus, vermischt mit vereinzeltem Gelächter, zu hören war, senkten sich zuerst goldene Teller, Becher und Besteck, dann üppig mit vorzüglichen Speisen aller Art beladene Platten auf die Tafeln nieder. Viele der Anwesenden hatten absichtlich den Tag über nichts gegessen, um beim Festmahl richtig hinlangen zu können, und das taten sie nun.

4 Gedanken zu „1 – Slytherin

  1. Ich bin überrascht – das ist wirklich gut. Es geht zwar etwas holperig los, da m.E. zu viel erklärt wird, dann aber wird es spannend. Die Welt stimmt. Ich bin gespannt, wie es weiter geht.

    • Ich habe vor, eine Epub-Version einzustellen, kann aber noch nicht genau sagen, wann. Die müsste dann wohl auch auf dem Kindle laufen – aber ich muss mich erst noch schlau machen.

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